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sofort seine Arbeit im Spital einstellen, Diät halten, einen geordneten Lebenswandel führen und schnellstmöglich einen mehrwöchigen Aufenthalt im Süden antreten.

      Die Volkskrankheit Tuberkulose, die wegen ihrer Häufigkeit gerade im österreichischen Raum den Beinamen »Wiener Krankheit« hatte, war bis in die 1880er-Jahre unter den Namen Skrofulose, Phthise oder Schwindsucht bekannt. Prähistorische Funde haben gezeigt, dass die Tuberkulose als endemisch auftretende Krankheit stets ein treuer Begleiter der Menschheit war. Die Unwissenheit über die Entstehung und Verbreitung der Krankheit führte zu drastischen Maßnahmen bis hin zur Vertreibung der Kranken aus der Gemeinschaft. Die Krankheit breitete sich trotzdem ungehindert weiter aus.

      Laut Statistik waren in Wien 20 bis 25% aller Todefälle zwischen dem 18. Jahrhundert und dem Ende des Ersten Weltkrieges auf Tuberkulose zurückzuführen. Bis zum Jahre 1884 war die Tuberkulose in den medizinischen Statistiken der Stadt Wien in der Rubrik »Miasmatische Erkrankungen« zu finden, verursacht durch schlechte Luft. Selbst die Endeckung des Tuberkel-Bazillus durch den Arzt und Forscher Robert Koch führte nicht sogleich zur Revidierung der ärztlichen Meinungen. Noch im Jahre 1883 schrieb selbst Schnitzlers Vater, der damalige Vorstand der Laryngologischen Abteilung der Wiener Poliklinik, in der Wiener Medizinischen Presse, dass die Übertragung der Tuberkulose von einem Individuum auf das andere zu den seltensten Vorkommnissen gehöre.

      Auch wenn die Tuberkulose selbst wohlhabende Menschen mit einem geschwächten Immunsystem erkranken ließ, war sie hauptsächlich eine Krankheit der Armen, die ihren Nährboden in den dicht gedrängten Arbeiterwohnungen hatte. Bis ins Jahr 1937 besaßen trotz des bereits begonnenen sozialen Wohnungsbaus 75% der schwer Tuberkulösen keinen eigenen Schlafraum und 11% kein eigenes Bett.

      Ende März 1886 folgte Arthur Schnitzler dem ärztlichen Rat und trat die Reise in den Luftkurort Meran an, wo er gleich am ersten Tag Olga Waissnix auf der Promenade begegnet. Allerdings grüßt man sich nur kurz von der Ferne. Schnitzler erinnert sich daran, dass er im Sommer des Vorjahres am Thalhof das Gefühl hatte, der jungen Frau nicht sonderlich sympathisch gewesen zu sein. Er hatte sich auch darüber geärgert, dass sie eine seelische Ähnlichkeit mit dem leidigen Schriftstellerkollegen Peter Altenberg an ihm festgestellt hatte. Das Hotel, in dem er abgestiegen ist, behagt Schnitzler gar nicht, weswegen er sich – ohne zu wissen, dass auch Olga dort wohnt – im Hotel Tirolerhof einquartiert. Beim Abendessen sieht er die Thalhofwirtin wieder und wechselt ein paar unbedeutende Worte mit ihr. Olga und Arthur sitzen an der großen Tafel durch mehrere andere Gäste getrennt und haben keine weitere Gelegenheit zur Konversation. Wie auf Verabredung reisen im Laufe der Tage die zwischen ihnen sitzenden Damen und Herren ab, die beiden rücken immer näher zueinander und werden schließlich zu Tischnachbarn. Fügungen des Schicksals ergeben sich so von selbst als erstes Gesprächsthema. Olga stellt erneut fest, wie groß die innere Verwandtschaft zwischen Schnitzler und Altenberg sei, und dass sie ihm wohl deshalb gleich großes Vertrauen entgegenbringe. Im Laufe des Gespräches kommt das Thema Aberglaube auf und Schnitzler äußert seine Vorliebe für die Zahl 26, die einst ein Pferd trug, auf das er gewettet und dadurch einen beträchtlichen Betrag gewonnen hatte: »Ich drückte nun Frau Olga gegenüber mein Bedauern aus, daß ich hier im Gasthof nicht das Zimmer sechsundzwanzig bewohne, sondern Numero fünf. ›Und Sie, gnädige Frau?‹ – ›Einundzwanzig‹, erwiderte sie. – ›Einundzwanzig und fünf sind sechsundzwanzig‹, stellte ich fest, und so hatte uns das Schicksal neuerdings ein Zeichen gegeben. Wir sahen einander lange in die Augen und wußten plötzlich, wie wir zueinander standen.« Aus der anfänglichen Sympathie war Liebe geworden, die Zweisamkeit sucht.

      Die guten Sitten verbieten es, dass die frisch Verliebten für sich bleiben und gemeinsam etwas unternehmen. Auch weiß Olga, dass man ihr Zusammensein mit einem Mann ihrem Gatten und ihrem Vater sogleich hinterbracht hätte. Daher begnügen sich Olga und Arthur zunächst mit Spaziergängen in Gesellschaft des behäbigen Ehepaares Salcher und dessen magerer Töchter. Ein paar Tage vor Schnitzlers Abreise begibt sich diese kleine Gesellschaft zu einem Ausflug ins Naiftal. Olga und Arthur haben zwar kaum Gelegenheit, miteinander zu reden, »aber es war jenes Schweigen, in dem man sich nur immer näher zueinanderfindet und das wunderbarer und reiner in uns nachtönt, als Worte zu tun vermögen«. Am Abend tanzen sie kurz miteinander und genießen die körperliche Nähe. Nur von den Töchtern Salcher begleitet fahren sie am darauffolgenden Tag mit der Bahn nach Sigmundskron und steigen dort auf die gleichnamige Burg. Als die kühne Kletterin Olga dabei auf den Steinen einer Geröllhalde ausrutscht, fasst Arthur rasch ihre Hand und sie sagt etwas kokett: »Was wäre daran gelegen, wenn ich hinabgestürzt wäre?«. Bei der Bahnfahrt zurück nach Meran können die Liebenden ihre Blicke kaum mehr voneinander lösen. Und beim Abendessen, während die Schüsseln gereicht werden, flüstert ihm Olga zu: »Ich wollte, alles um uns sänke in die Erde und wir zwei blieben allein auf der Welt.« Der begeisterte Klavierspieler Schnitzler setzt sich nach dem Diner an den Flügel und fantasiert, natürlich nur für Olga, die ihm gegenübersitzt und mit Trauer im Herzen daran denkt, dass dieser Mann in Kürze abreisen und die sie so beglückenden Tage unwiderbringlich der Vergangenheit angehören werden.

      An diesem letzten schwülen Tag fordert Olga Arthur vormittags zu einem Spaziergang auf. Endlich sind sie allein, aber das Gespräch will nicht so recht in Gang kommen. Mit zu Boden gehefteten Augen stammelt sie schließlich: »Um eines wollte ich Sie bitten, kommen Sie nicht vor Herbst nach Reichenau!« Auf seine erstaunte Frage, warum sie das wünsche, erzählt sie ihm von ihrem ungeliebten, eifersüchtigen Ehemann und der Szene, die er ihr wegen Altenbergs Verehrung vor drei Jahren gemacht hat. Sie will aus Angst vor ihrem unbeherrschten Mann unbedingt den häuslichen Frieden bewahren. Mit bebender Stimme ihm ihre Hand entgegenstreckend, sagt sie: »Ich möchte Ihnen also meine Freundschaft anbieten, – anderes als Freundin kann ich Ihnen ja nicht sein. Eine metaphysische Freundschaft sozusagen. In jedem Schmerz, in jeder Freude sollen Sie denken: Es ist eine da, die mit Ihnen sich freut, mit Ihnen leidet. Wollen Sie diese Freundschaft annehmen?« Und Arthur küsst, als wäre er einverstanden, inbrünstig ihre kühle weiße Hand.

      Für den Nachmittag desselben Tages verabreden sie sich im Lesesaal des Kurhauses und begeben sich auf eine letzte gemeinsame Wanderung nach Sankt Valentin. Sie fragen sich dabei immer wieder, wie es zu dieser tief empfundenen Liebe kommen konnte, und erinnern sich mit Wehmut an die gemeinsam verbrachten Momente in Meran: die erste, noch nichts ahnende Begegnung auf der Straße, das langsame, schicksalhafte Verschwinden der Gäste zwischen ihnen bei Tisch und die geheimnisvollen Zahlen 21 und 5, die leider nicht zur Addition kamen. Um sich mehr miteinander verbrachte Zeit vorzutäuschen, machen sie die Tage zu Jahren und sprechen vom Ausflug ins Naiftal vor fünf Jahren und dem Sommer des Vorjahres am Thalhof, wo sie einander noch nicht liebten, der nach dieser Berechnung tausend Jahre zurückliegt. Diese Angewohnheit werden die beiden über die Jahre hin beibehalten. Sie sitzen auf der Terrasse von Sankt Valentin und wünschen sich, dass dieser Augenblick ewig währen möge. Olga trägt einen Umhang mit Pelzquasten, mit denen sie immer spielt. Sie reißt eine davon ab, küsst und schenkt sie Arthur, der sie viele Jahre lang wie ein Kleinod aufbewahren wird. Am Rückweg bittet sie ihn, an diesem letzten Abend nicht Klavier zu spielen: »Mir ist, als sprächen Sie da zu mir. Sie verstehen, was ich meine.« So sitzt man nach dem Abendessen mit ein paar anderen Gästen zusammen und plaudert. Bald begeben sich die netten, aber störenden Gesprächspartner zur Nachtruhe und die beiden Liebenden bleiben allein in dem großen, schwach beleuchteten Raum zurück. Als Schnitzler ihr zum endgültigen Abschied innig die Hand küsst, fallen sie einander plötzlich in die Arme und küssen sich lang und heiß, bis Olga sich losreißt und auf ihr Zimmer geht. Und Arthur auf das seine.

      Dass Olga sich Schnitzler an diesem Abend nicht hingibt, zeigt das Ausmaß der Furcht vor ihrem Mann. War sie sich bewusst, dass sie ihren Gatten zwar nicht körperlich, aber beständig seelisch betrog?

      Als Schnitzler am Morgen des 17. April 1886 das Hotel Tirolerhof verlässt, ist es kalt und regnerisch. Er dreht sich noch einmal um und erblickt Olga am Balkon ihres Zimmers stehend, die ihm einen traurigen Abschiedsgruß zunickt. Arthur eilt weinend zum Bahnhof und weint auch noch während der Fahrt. Olga Waissnix verlässt Meran am 18. April 1886, wie ein Vermerk der Rubrik »Allerlei aus Meran« in der Österreichischen Cur-Zeitung, die dem Wiener Salonblatt beigelegt war, verrät: »Herr Ludwig Schneider, der liebenswürdige Wirth vom Wiener Südbahnhofe und Realitätenbesitzer in Vöslau, ist

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