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aufriß. Vorsichtig holte sie ein in weißes Seidenpapier verpacktes Päckchen heraus. Es war ein harter rechteckiger Gegenstand. Was mochte es sein?

      Bettina entfernte das Seidenpapier und hielt einen wunderschönen Bilderrahmen in der Hand. Er war schlicht und aus Sterlingsilber, darin war ein Gedicht gerahmt, auf wunderschönem Papier, in einer prägnanten Schrift.

      Bettina kannte das Gedicht. Es war »Stufen« von Hermann Hesse.

      Sie mochte das Gedicht sehr, hatte es aber irgendwie aus dem Sinn verloren. Aber man konnte auch nicht alles im Kopf haben.

      Bettina hielt den schönen Rahmen umfaßt, dann begann sie zu lesen:

      Wie jede Blüte welkt und jede Jugend dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, blüht jede Weisheit auch und jede Tugend zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern. Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginns, um sich in Tapferkeit und ohne Trauern in andre, neue Bindungen zu geben.

      Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben.

      Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, an keinem wie an einer Heimat hängen.

      Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.

      Kaum sind wir heimisch einem Lebenskrise und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen.

      Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich antreffen.

      Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde uns neuen Räumen jung entgegen senden.

      Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…

      Wohl an denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

      Lange hielt Bettina den Rahmen in der Hand, sinnierte über das wunderschöne und ach so wahre Gedicht nach.

      »Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!«

      Wahrscheinlich hatte Jan speziell wegen dieses letzten Satzes das Gedicht ausgewählt.

      Und er war ja so zutreffend, dieser Satz. Sie mußte Thomas loslassen, um wieder zu gesunden, frei zu sein für ein neues Leben, für eine neue Liebe.

      Würde Jan diese neue Liebe sein?

      Bettina versank in Träume, und es dauerte eine ganze Weile, ehe sie die kleine beiliegende Karte entdeckte, die sie vorher übersehen hatte.

      Hallo, meine Schöne!

      Wo bleibt der versprochene Anruf? Ich warte darauf.

      Für immer – Dein Jan.

      Bettina lächelte. Er hatte sie wieder meine Schöne genannt, etwas, was sie vorher manchmal genervt, was sie aber auf dem Flughafen fast schmerzlich vermißt hatte.

      Da hatte er sie nur Bettina genannt und sie hatte das ihrer neuen, schrecklichen Frisur zugeschrieben. Doch daran lag es glücklicherweise nicht.

      Wie albern, jetzt an etwas so Banales zu denken, aber es hatte sie wirklich beschäftigt.

      Jan…

      Ein weiches Lächeln umspielte ihre Lippen. Er war wirklich ein toller Mann, der sich abwartend im Hintergrund hielt bis seine Stunde gekommen war. Doch würde seine Stunde kommen?

      Bettina mochte ihn, sehr sogar. Sie stimmten in so vielen Dingen überein, selbst mit ihrem Kinogeschmack.

      Bei ihm gab es eine spektakulären Aktionen wie beispielsweise Thomas, der eine Unzahl roter Rosen aus einem Helikopter auf den Hof hatte abwerfen lassen.

      Jan schickte Gedichte, wie jetzt die Stufen. Aber sie erinnerte sich auch an die Zeilen aus dem Hype­rion, besonders an den letzten Satz: »Doch was sich gleich ist, findet sich bald…«

      Für Jan war es von Anfang an sicher gewesen, daß sie sich finden würden. Er glaubte fest an ein gemeinsames Leben mit ihr. Doch sie selbst konnte es sich zum derzeitigen Zeitpunkt nicht vorstellen – noch nicht.

      Der Schmerz um ihre verlorene große Liebe saß einfach noch zu tief in ihrem Herzen. Sie konnte den Platz darin noch nicht neu besetzen. Würde sie es je können?

      Bettina sehnte sich nach Nähe, nach menschlicher Wärme. Bei Jan hatte sie auch durchaus das Gefühl, etwas wert zu sein. Aber das reichte eben nicht.

      Ihr Verstand plädierte für Jan. Ihr Gefühl war bei Thomas, ihrem geliebten Tom.

      Vielleicht hatte sie ja in bezug auf ihre Gefühle recht pubertäre Vorstellungen. Sie und Tom waren unsterblich ineinander verliebt gewesen, aber dazwischen hatte es mehr als zehn Jahre, in denen sie nichts voneinander gehört hatten, eine lange Zeit, in der man sich entwickelte, so richtig erwachsen wurde. Danach, als sie sich endlich wiedergefunden hatten, hatte es nur eine idealisierte Liebe gegeben, keinen Alltag.

      Er war Thomas, nicht mehr Tom, und sie war Bettina und hatte mit seiner Tini von damals nichts mehr gemeinsam.

      Bettina nahm den Rahmen wieder in die Hand, nachdem sie trockene Buchenscheite ins Feuer gelegt hatte.

      Sie las das Gedicht zum wiederholten Male.

      »Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde…«

      Das war eine Botschaft, eine Aufforderung, der sie sich nicht verschließen sollte.

      Bettina griff zum Telefon, um Jan’s Nummer zu wählen. Doch schon nach der Vorwahl ließ sie es bleiben.

      Nein!

      Sie konnte es nicht, noch nicht. Sie brauchte einfach etwas Zeit. Jan hatte keine lauen Gefühle verdient, und mehr konnte sie ihm nicht geben.

      Bettina stand auf, ging an ihren Sekretär, holte Schreibpapier hervor. Sie hatte davon eine stattliche Auswahl, denn sie liebte es, Briefe zu schreiben.

      Lieber Jan…, das war schnell geschrieben, dann aber wußte sie nicht weiter. Normalerweise hatte sie keine Probleme damit, sich zu artikulieren, aber jetzt fiel es ihr schwer.

      Also Schreiben ging auch nicht.

      Bettina schenkte sich ein Glas Rotwein ein, einen wunderbaren Chateauwein. Dabei mußte sie an ihren Bruder Jörg denken, der durch die Weltgeschichte kurvte, statt sich um sein Erbe zu kümmern, dieses herrliche Weingut in der Nähe von Bordeaux.

      Seufzend setzte sie sich wieder, und während sie genüßlich ihr Glas an die Lippen führte, schaute sie in die zuckenden Flammen, die sich gierig in das trockene Holz fraßen.

      Jan mochte Kaminfeuer auch, das hatte er ihr einmal gesagt. Von Thomas wußte sie es nicht, sie hatten niemals darüber gesprochen, und als sie jung gewesen waren, waren sie lebenslustig und ungestüm gewesen und hätten das Sitzen am Feuer langweilig gefunden.

      Es war schon komisch, daß sie über Jan, zumindest was den Alltag und alltägliche Gewohnheiten betraf, mehr wußte als über Thomas.

      Mit ihm war sie irgendwie eingeschlossen gewesen wie in einen Kokon, abgeschirmt von der Außenwelt, nur für ihre Liebe lebend.

      Sie durfte keine Vergleiche anstellen, dazu waren die beiden Männer einfach zu verschieden. Und sie durfte nicht immerfort an Thomas denken, denn das brachte nichts – sie mußte ihn aus ihrem Leben verbannen, für immer, denn er hatte sie belogen, und das würde sie ihm niemals verzeihen.

      Bettina stand erneut auf, holte ihr Handy, dann toppte sie eine SMS für Jan.

      »Danke.«

      Nicht mehr und nicht weniger.

      Die Zeit für den Anruf würde kommen, später. Jetzt war erst einmal der Höflichkeit Genüge getan.

      Dieser Jan, dachte sie, während sie ihr Handy wieder weglegte. Er war wirklich immer wieder für eine Überraschung gut. Es war schön zu wissen, daß es ihn gab.

      *

      Am nächsten Morgen, Bettina wollte gerade ihr Haus verlassen, bewaffnet mit dem Gedicht, das sie auf ihren Schreibtisch stellen wollte, kam

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