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rannte an ihr vorbei. »Da musste ich aber noch nicht.«

      Schnurstracks schlug sie den Weg zum Abort ein.

      Ich schaute ihr hinterher und lächelte über ihre Unbeschwertheit.

      Und während sich Flo wenige Augenblicke später wieder in ihr Bett kuschelte, beobachtete ich in Gedanken versunken das prasselnde Feuer in unserem Kamin.

      Unser Haus verfügte über zwei Stockwerke. Unten befand sich die Küche, mit dem Essplatz, der aus einem großen Tisch und vier Stühlen bestand. Dann gab es noch eine große Wohnstube mit einem wunderschönen Kamin und einer Leseecke, die ich abends sehr gerne für mich beanspruchte. Zwischen der Abstellkammer und einem Raum, der von meinem Vater vorwiegend für geschäftliche Arbeiten genutzt wurde, befanden sich die Badestube, in der eine große Holzwanne stand und ein kleiner Raum für den Abort.

      Außer unserer Familie gab es noch nicht sehr viele Leute im Dorf, die schon einen Abort im Haus ihr Eigen nennen durften. Die meisten mussten noch immer nach draußen auf den Hof gehen, wenn sie ihre Notdurft verrichten wollten. Für uns brachte es natürlich einige Annehmlichkeiten mit sich, ihn direkt im Haus zu haben, wenn es in Strömen regnete. Dafür musste Vater zwar täglich mehrere Eimer Wasser ins Haus tragen, zum Nachspülen, aber das war allemal besser als nachts in die Dunkelheit hinaus zu müssen.

      In der oberen Etage befanden sich unsere Schlafräume. Helle, große Zimmer mit allen Bequemlichkeiten, die man sich vorstellen konnte: Jeder Raum verfügte über einen eigenen Kamin, ein großes weiches Bett, einen geräumigen Kleiderschrank und für uns Frauen gab es Frisierkommoden. Wir hatten sogar Vorhänge an den Fenstern und dicke Teppiche in jedem Schlafzimmer. Eine sehr kostspielige Annehmlichkeit.

      Doch heute, in der Nacht vor der großen Winterruhe, standen vier provisorische Betten bei Vater im Arbeitsraum. Auf diese Weise blieb die Familie zusammen und ich fühlte mich in der Nähe meiner Eltern wesentlich wohler – in dem Wissen, für die nächsten sechs vollen Monde die Winterruhe nicht ganz allein in meinem eigenen Zimmer verbringen zu müssen.

      Später, nachdem wir schon längst in unseren Betten lagen und die Tür von innen fest verriegelt worden war, starrte ich pausenlos an die Decke und wartete darauf, dass mich der Schlaf übermannte und damit endlich meine innere Unruhe auslöschte.

      Mutter hatte bereits die letzte Kerze gelöscht, sie schlummerte friedlich neben meinem Vater. Selbst Flo war inzwischen eingeschlafen.

      Während ich noch darüber nachdachte, ob ich wohl auch diesmal hören würde, wenn die Wölfe kamen, fielen mir die Augen zu ...

      2

      Ich erwachte, riss die Augen auf und wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Mein Atem, der stoßweise kam, bildete kleine dichte Wölkchen in der Luft. Im Zimmer war es zu kalt.

      Vater wurde immer zuerst wach, also hätte er bereits Feuer gemacht.

      Am ganzen Leib zitternd, setzte ich mich vorsichtig auf.

      Meine Zähne schlugen schmerzhaft aufeinander – anscheinend, hatte sich meine Körpertemperatur noch nicht wieder reguliert.

      »Mutter? Vater?«

      Keine Reaktion.

      »Flo, bist du wach?«

      Eine unheimliche Stille umgab mich. Mit angehaltenem Atem lauschte ich auf irgendein Geräusch, bis mir schlagartig bewusst wurde, dass außer mir noch niemand bei Bewusstsein war.

      »Zu früh«, murmelte ich schlotternd und schaute mich dabei im Zimmer um.

      Meine Familie schlief tief und fest. Ganz offensichtlich war es noch nicht an der Zeit, aufzuwachen.

      Weil ich nicht wusste, was ich tun sollte, lehnte ich mich zurück, kniff die Augen fest zusammen und wartete darauf, dass ich wieder einschlief.

      Doch nichts dergleichen geschah.

      Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der die nagende Kälte von meinem schlotternden Körper immer mehr Besitz ergriff, entschloss ich mich dazu, kurz aufzustehen, um mir etwas Wärmeres anzuziehen.

      Zur Winterruhe trug ich über meiner Unterwäsche ein weißes, langes Beinkleid, dazu einen langärmligen weißen Überwurf aus Wolle und warme Socken. Dennoch überkam mich gerade das Gefühl, ich würde splitterfasernackt in der eisigen Kälte stehen. Mir wollte einfach nicht warm werden.

      Zögernd erhob ich mich, schlich auf leisen Sohlen um mein Bett herum und visierte den Kleiderschrank an – der Dank meiner Mutter fest verschlossen war.

      So ein Ärgernis.

      Noch immer vor Kälte zitternd, versuchte ich mich zu konzentrieren, um einen klaren Gedanken zu fassen. Dabei fiel mein Blick auf die Zimmertür.

      In der Wohnstube lag meine Lieblingsstrickjacke, ordentlich zusammengelegt in einer Truhe, neben den anderen warmen Sachen. Die brauchten wir, um die Aufwachphase zu überbrücken, da der Körper eine Weile benötigte, um wieder auf seine normale Temperatur zu kommen. Für kühle Frühlingstage genau die richtigen Kleidungsstücke.

      Der Gedanke an meine kuschelige Jacke war wirklich verlockend. Mit einem flüchtigen Blick auf meine schlafende Familie, die ich im Halbdunkel kaum erkennen konnte, schnappte ich mir den Schlüssel, der neben meinem Vater auf einem kleinen Hocker lag.

      Das Metall quietschte verräterisch, als ich den Schlüssel im Schloss herumdrehte. Erschrocken zuckte ich zusammen.

      Doch es blieb still, niemand wachte auf.

      Voller Erleichterung schob ich den dritten und letzten Riegel zur Seite, drückte die Türklinke hinunter und schlüpfte durch einen schmalen Spalt hinaus in die Küche. Auch hier war es stockdunkel.

      Nachdem sich meine Augen einigermaßen an die Finsternis gewöhnt hatten, zog ich die Tür leise hinter mir ins Schloss und tastete mich entlang der Wand bis zum ersten Küchenschrank vor, dort bewahrte Mutter die Kerzen auf. Gleich daneben lag ein Bündel Zündhölzer mit dem dazugehörigen Zunderstein. Behutsam entzündete ich eines der Hölzchen und hielt anschließend den Docht der Kerze ins Feuer.

      Eine wohlige Wärme breitete sich direkt vor meinem Gesicht aus, weshalb ich einen Atemzug lang innehielt und die Augen schloss. Noch nie in meinem bisherigen Leben war mir derart kalt gewesen. Ob das nun an den eisigen Temperaturen im Haus lag oder eher daran, dass sich mein Körper noch halb in der Schlafphase befand, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen. Ich wusste nur eins: Mir war furchtbar kalt und diesen Zustand wollte ich so schnell wie möglich beheben.

      Mit routinierten Handgriffen stellte ich die Kerze in die dafür vorgesehene Halterung, schob das Glas darüber und nahm die Lampe in die rechte Hand.

      Viel besser.

      Zwar schenkte die kleine Kerze nur unzureichend Licht, doch ich wagte es nicht, den großen Leuchter über dem Esstisch anzuzünden. Mutter würde mich umbringen, wenn sie davon erfuhr. Auf keinen Fall durfte sie mitbekommen, dass ich vor der Zeit aufgewacht war. Sie würde fürchterlich schimpfen, weil ich nicht auf sie gehört hatte und vor der Winterruhe zu wenig gegessen hatte.

      Wie zur Bestätigung rumorte es heftig in meinem Magen und kurz darauf wurde mir übel.

      So was aber auch.

      Zähneknirschend musste ich meiner Mutter recht geben, denn allem Anschein nach war ich zu früh aufgewacht, weil mein Körper tatsächlich seine Reserven verbraucht hatte.

      Nur sollte ich nicht so einfach an etwas Essbares herankommen, wie mir schmerzhaft bewusst wurde. Jedenfalls nicht, ohne mächtig Krach zu machen. Mutter hatte sämtliche Vorratsschränke verriegelt und verrammelt – wie immer.

      Sämtliche Schlüssel, mit Ausnahme von denen für Stall und Haustür, lagerten im Schlafraum unter dem Kopfkissen meiner Mutter. Hilfesuchend schaute ich mich in der Küche um, bis mir das Geheimversteck meiner kleinen Schwester einfiel. Flo hortete gerne Süßigkeiten, für schlechte Zeiten, wie sie sagte.

      Hastig ging ich in die Hocke und suchte unter dem Schrank nach besagter kleiner Schachtel, die dort von meiner

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