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mehr in der Dämmerung draußen sein. Was immer es noch zu erledigen gab, es musste fertig sein, ehe die Sonne am Horizont verschwand.

      »Das hat ja ewig gedauert«, begrüßte mich meine Freundin an ihrer Haustür. »Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr.«

      Mit ihren hübschen blauen Augen betrachtete sie mich vorwurfsvoll.

      »Hausarbeit«, entschuldigte ich mich. »Du kennst das ja.«

      »Wem sagst du das«, stöhnte Natea, fasste dabei nach meiner Hand und zusammen rannten wir die Straße entlang.

      »Ich durfte heute schon beim Stall ausmisten helfen«, verkündete sie mit kraus gezogener Nase. »Und weißt du was? Meine Stute bekommt im nächsten Frühling ihr erstes Fohlen.«

      Ich wusste, wie sehr Natea an ihrem Pferd hing. Die Stute war ihr ein und alles.

      Meine Mutter wollte nicht, dass ich mich im Stall aufhielt, denn ich sollte als Vorzeigetochter nicht nach Dung riechen.

      »Das ist schön«, sagte ich, mit meinen Gedanken meilenweit weg.

      »Die anderen warten schon«, teilte mir meine Freundin mit, kaum dass wir das Dorf hinter uns gelassen hatten.

      Die anderen waren Delia, Amina, Merrick, Karan und noch ein paar andere Jugendliche, deren Namen ich mir nicht merken konnte, weil wir außerhalb der Lehrzeit kaum Kontakt hatten. Nur an diesem einen besonderen Abend versammelten sich alle Jugendlichen der umliegenden Dörfer, um gemeinsam, ohne elterliche Aufpasser, ein bisschen zu feiern. Dann saßen wir alle zusammen um ein Lagerfeuer, ließen Wein herumgehen und einige Jungs erzählten Gruselgeschichten.

      Ich liebte diesen einen unbeschwerten Abend und freute mich jeden Sommer wie verrückt darauf.

      Kaum hatten wir die Lichtung erreicht, machte sich in mir stille Vorfreude breit. Mit angehaltenem Atem ging ich weiter, meine Augen streng nach vorne auf das Lagerfeuer gerichtet.

      »Merrick ist auch schon da«, flüsterte mir Natea zu und winkte einer Gruppe Jungs, die im lockeren Halbkreis um das Feuer herumstanden und sich unterhielten.

      »Sei still«, flüsterte ich zurück und drückte zur Warnung ihre Hand.

      Natea kicherte. »Was ist denn? Inzwischen weiß doch sowieso jeder, dass er was von dir will.«

      Deswegen musste sie es trotzdem nicht über die ganze Lichtung rufen.

      Delia und Amina begrüßten uns mit einer innigen Umarmung. »Das ist alles so aufregend«, quietschte Delia. Ihre dunkelblonden Zöpfe wirkten im Schein des Feuers wie lodernde Flammen.

      »Oh ja, das ist es«, pflichtete Amina ihr bei.

      Ehe ich auch etwas dazu sagen konnte, bemerkte ich aus den Augenwinkeln, wie Merrick und ein weiterer Junge in unsere Richtung kamen. Alles in mir versteifte sich augenblicklich.

      Der große blonde Junge mit den strahlend blauen Augen blieb unmittelbar vor mir stehen.

      »Hallo, Solea«, richtete er sogleich das Wort an mich. »Es ist schön, dich zu sehen.«

      Dabei hatten wir uns gerade erst gestern während des Unterrichts getroffen.

      »Hallo«, brachte ich mühsam hervor. Meine Stimme zitterte, worüber ich mich ein wenig ärgerte.

      »Das ist Nicos«, stellte er seinen Begleiter vor. »Mein Cousin.«

      Mir fiel sofort auf, dass sich meine beste Freundin augenblicklich versteifte. Offenbar gefiel ihr, was sie sah. Sehr sogar. Ihre Wangen röteten sich verräterisch, während sie den fremden Jungen mit großen Augen anstarrte.

      Da boxte mich Delia ungeduldig in die Seite.

      »Kommt ihr? Sonst sind die guten Plätze alle weg.«

      Ohne meine Antwort abzuwarten, packte sie meinen Arm und schleifte mich hinter sich her. Ich schaffte es gerade noch Natea mitzuziehen.

      »Ich dachte, du magst Merrick«, fragte Amina, die uns folgte. »Oder irre ich mich?«

      »Ich mag ihn ja auch«, gab ich schulterzuckend zu. »Aber was spielt das schon für eine Rolle, er hat sowieso keine Chance.«

      Amina warf mir einen fragenden Blick zu, während wir uns durch die Menge schlängelten, auf der Suche nach einem geeigneten Platz, möglichst nah am Feuer.

      »Solea wird nächsten Sommer achtzehn«, führte Natea meine Antwort weiter aus. Sie hatte sich endlich wieder gefasst, nachdem der fremde Junge aus unserem Sichtfeld verschwunden war. »Und Merricks Familie verfügt leider nicht über das nötige Vermögen.«

      Was mir völlig egal ist, nur meiner Mutter nicht, fügte ich in Gedanken hinzu.

      »Oh«, machte Amina und schaute mich mit großen Augen an.

      Ich hasste diese Blicke und tat mein Möglichstes, ihnen keine Beachtung zu schenken. Eine Mischung aus Ehrfurcht, Neugierde und Mitleid – darauf konnte ich gut verzichten.

      Nachdem Natea endlich einen geeigneten Platz gefunden hatte, machten wir es uns am Lagerfeuer bequem, begrüßten nebenbei noch ein paar Freunde und warteten ungeduldig darauf, dass die Jungs mit ihren Erzählungen loslegten.

      Delia reichte mir einen Krug mit Wein, den sie bei ihrem Vater aus dem Keller stibitzt hatte. Ich nahm einen kräftigen Schluck gegen die Kälte. Und noch einen, um mich besser zu fühlen. Merrick und sein Cousin standen unmittelbar neben uns, was mir erst auffiel, als ich mich suchend nach ihm umschaute.

      Er reagierte auf meinen Blick mit einem Lächeln und ich erwiderte es scheu. Warum war die Welt nur so ungerecht, fuhr es mir durch den Kopf. Ich mochte Merrick. Ich mochte ihn wirklich. Doch die Lage war aussichtslos. Seine Familie verfügte nicht über die nötigen Mittel, um eine Brautwerbung stemmen zu können. Wenn ich ihn trotzdem wählte, das wusste ich von meiner Mutter, die mich auf solche Fälle vorbereitet hatte, würde ich ihn und seine Familie in den Ruin treiben.

      Deshalb, und nur deshalb, musste ich mich von ihm fernhalten, ob ich dazu bereit war oder nicht.

      »Es geht los«, raunte mir Natea zu.

      Einer der älteren Jungs stand auf und stellte sich in die Mitte, mit dem Feuer im Rücken, was den gewollt unheimlichen Effekt verstärkte.

      »Die Dunkelheit naht«, begann der Junge zu erzählen. »Und mit ihr kommt das Böse in unsere Reihen. Verschließt eure Türen und betet zum Lichtgott, dass ihr verschont bleibt ...«

      Aufmerksam lauschte ich seinen Worten und hatte Mühe, meine Anspannung in Zaum zu halten. Genau diese Art von Geschichten waren der Grund dafür, weshalb ich nicht wollte, dass meine kleine Schwester etwas von alledem mitbekam. Weil es nicht nur eine Geschichte war, ausgedacht von irgendeinem Jungen, der uns damit Angst einjagen wollte. Sondern die reine unverblümte Wahrheit.

      Zuerst kam die Dunkelheit in unser Dorf. Wie ein Leichentuch legte sich die Nacht über den Süden, schlängelte sich durch sämtliche Straßen und verschluckte jedes einzelne Haus, bis man nicht einmal mehr die Hand vor Augen sehen konnte.

      Dann kamen die Wölfe.

      Riesige schwarzgraue Tiere, beinahe doppelt so groß wie die Wölfe, die sonst durch unsere Wälder streiften, so erzählte man sich. Mit tiefschwarzen Augen patrouillierten sie durch jedes Dorf, durchwanderten jede Straße, um sich davon zu überzeugen, dass niemand mehr draußen unterwegs war. Man munkelte, die Wölfe würden so lange bleiben, bis auch der Letzte von uns eingeschlafen war. Dann zogen sie sich in die umliegenden Wälder zurück, um dort die nördliche Grenze zu bewachen.

      Manchmal, wenn ich als kleines Kind nicht gleich hatte einschlafen können, hatte ich sie draußen um unser Haus herumschleichen hören. Wie sie an der Tür schnüffelten, unter jedem Fenster kurz stehenblieben. Dann hatte ich mir schnell die Bettdecke über den Kopf gezogen und auf den Schlaf gewartet.

      Die Wölfe waren die ersten Vorboten der dunklen Jahreszeit. Sie erreichten unser Dorf, welches sich von allen südlichen Gemeinden am nächsten zur nördlichen Grenze befand, immer

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