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von Frauen angeführt. In jedem Ort gab es eine sogenannte Vorsteherin. Sie hatte das Sagen und kümmerte sich um die Belange der Anwohner. Dieses Privileg wurde von Generation zu Generation weitervererbt und immer an die Erstgeborene abgegeben. Und tatsächlich bekamen die Vorsteherinnen auch stets zuerst eine Tochter, ehe weitere Kinder geboren wurden, was die Sache natürlich enorm vereinfachte.

      Wahrscheinlich hatte der Lichtgott seine Finger im Spiel, anders konnte ich mir die Tatsache nicht erklären, warum jeder Familie, in jeder Generation, immer erst eine Tochter geboren wurde, die später den Posten der Vorsteherin übernahm.

      Jedenfalls wurde ich von all meinen Freunden darum beneidet, weil ich eben genau diese Tochter war.

      Meine Familie lebte in Wohlstand. Wir wohnten im größten Haus, welches etwas außerhalb auf einer kleinen Anhöhe stand. Wir besaßen die schönste Pferdekutsche und die meisten Tiere. Wo meine Mutter auch auftauchte, wurde sie herzlich willkommen geheißen, unsere ganze Familie war im Dorf hoch angesehen und jeder wollte mit mir befreundet sein.

      Die Schattenseiten konnte oder wollte dabei niemand sehen.

      Auf mir als Erstgeborene lastete ein enormer Druck. Von klein auf hatte ich meinen Freunden gegenüber ein Vorbild sein müssen. Nie hatte ich mit den anderen Kindern draußen spielen dürfen, weil meine exquisiten Kleider nicht schmutzig werden sollten. Meine langen blonden Haare waren immer korrekt frisiert, das Gesicht sauber, meine Haltung aufrecht gewesen. Beständig ein Lächeln auf den Lippen, sobald wir das Haus verließen.

      Ich habe es gehasst – und hasste es noch immer.

      Doch so sehr ich mich auch dagegen auflehnte, ich konnte meinem Schicksal nicht entkommen.

      Das würde meine Mutter nicht zulassen. Weil ich in ihre Fußstapfen treten musste. Auch wenn ich das gar nicht wollte.

      Während Flo weiter ihre Notizen zu Papier brachte, sinnierte ich darüber nach, inwiefern andere Details aus unserer Geschichte für ihre Aufzeichnungen wichtig sein könnten.

      Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass die Kinder unseres Volkes nur in den Sommermonaten geboren wurden, unabhängig davon, wann eine Zeugung stattfand. Sobald bei der werdenden Mutter die Winterruhe einsetzte, verlangsamte sich ganz automatisch auch die Entwicklung ihres Babys im Mutterleib.

      Wurde ein Kind etwa im Frühling gezeugt, kam es nicht im Winter zur Welt, sondern erst nach der Winterruhe.

      Ebenso verhielt es sich mit unseren Tieren. Sie begaben sich, wie wir, pünktlich in der letzten Herbstnacht in die Winterruhe. Die gesamte südliche Natur verfiel dann in diesen Schlaf. Hasen gruben sich eine Höhle, Vögel suchten nach einer geeigneten Behausung zum Überwintern.

      Für Kranke war die Winterruhe manchmal ein wahrer Segen. Unsere Körper nutzten die Auszeit zur Regeneration, was dazu führte, dass man sich beim Aufwachen wie neugeboren fühlte.

      Aber eben nur manchmal.

      Für unheilbar Kranke, genauso wie für alte und schwache Bewohner, bedeutete die Winterruhe der Antritt einer letzten Reise. Einige von ihnen würden im nächsten Frühjahr nicht mehr aufwachen. Das war immer ein ganz furchtbarer Moment für die Angehörigen.

      Ich für meinen Teil empfand diese Art des Dahinscheidens als wahrer Akt der Güte. Im Schlaf zu sterben, ganz friedlich und ohne Schmerzen, wer wollte nicht so aus dem Leben scheiden?

      Nach einiger Überlegung entschied ich mich dagegen und behielt meine Gedanken für mich. Solche Details musste Flo nicht aufschreiben. Die Notizen, die sie bis jetzt gesammelt hatte, genügten völlig.

      »Fast fertig«, teilte mir Flo kurz darauf voller Begeisterung mit.

      Flüchtig überflog ich das Geschriebene.

      »Du könntest zum Schluss noch erwähnen, dass es nach der Winterruhe immer ein großes Wiedersehen am Götterhain gibt«, schlug ich vor.

      Flo nickte hastig und kritzelte drauflos.

      Der nächste Sommer wird mein Untergang sein, dachte ich über das Unvermeidbare nach, während ich meine kleine Schwester beobachtete.

      Mein Magen zog sich zusammen.

      Wann immer die Tochter einer Vorsteherin ihren achtzehnten Sommer erreichte, gab es ein riesiges Fest, zudem alle umliegenden Dörfer eingeladen wurden.

      Ich biss mir auf die Unterlippe. Das war kein Fest, sondern ein verdammter Heiratsmarkt!

      Das Geburtstagskind sollte sich auf diesem Fest nämlich ihren zukünftigen Ehemann aussuchen, aus all den Familien, die aus den umliegenden Dörfern angereist waren.

      Alle Jungs führten sich dabei auf wie liebestolle Idioten. Jeder wollte unbedingt der Auserwählte sein, weil es selbstredend eine große Ehre war, wurde man der Gemahl einer Vorsteherin. Immerhin führte besagter Mann ein sehr privilegiertes Leben, genoss alle Annehmlichkeiten und das hohe Ansehen in der Gemeinde.

      Nachdem die Tochter der Vorsteherin ihre Wahl getroffen hatte, gab es eine Zeit des Kennenlernens, die ungefähr drei Sommerphasen andauerte. In besagter Zeit durfte sich das zukünftige Paar immer wieder treffen, um herauszufinden, ob eine Ehe auch wirklich funktionieren würde.

      Der Auserkorene würde in dieser Zeit natürlich alles tun, um das Mädchen von der Richtigkeit ihrer Entscheidung zu überzeugen. Er würde sie umgarnen, ihr Blumen schicken und kostspielige Geschenke machen. Das volle Programm eben.

      Bevor dann in ihrem einundzwanzigsten Sommer die imaginären Handschellen klickten und schlussendlich die große Hochzeit stattfand.

      Ich schloss meine Augen und atmete kurz durch.

      Im nächsten Sommer wurde ich achtzehn.

      Meine Mutter konnte es scheinbar kaum erwarten, mich unter die Haube zu bringen, schon in diesem Sommer hatte sie mit den Vorbereitungen für meine Geburtstagsfeier begonnen. Und all meine Freunde, inklusive meiner besten Freundin Natea, beneideten mich darum.

      In Wirklichkeit war ich diejenige, die alle anderen Mädchen beneidete. Weil sie so leben konnten, wie sie wollten – weil sie heiraten konnten, wann und wen sie wollten.

      Meine Freundin wurde nicht dazu gezwungen, sich an ihrem achtzehnten Geburtstag einen Mann auszusuchen. Dieses Privileg galt nur der Tochter einer Vorsteherin.

      »Fertig«, jauchzte Flo und riss mich damit endgültig aus meinen trüben Gedanken.

      »Danke, Lea. Ohne dich hätte ich das nicht so schnell geschafft.«

      Meine kleine Schwester fiel mir um den Hals und ich lächelte still in mich hinein.

      Sie war noch so unschuldig. Süß und voller Träume. Und weil ich die Lasten der Erstgeborenen trug, durfte sie später all ihre Träume ausleben. Die Glückliche.

      Mit einem Blick aus dem Fenster wandte ich mich an meine Mutter. »Wenn ich dir beim Mittagessen helfe, darf ich dann danach bitte zu Natea?«

      Schon sehr früh hatte ich gelernt, mich lieber nicht mit meiner Mutter anzulegen. Sie war eine sehr starke Persönlichkeit und es durch ihre Stellung gewohnt Entscheidungen zu treffen und auch durchzusetzen. Wenn ich von meiner Mutter etwas wollte, funktionierte das am besten durch liebevolles Betteln. Damit kam ich bei ihr viel weiter als mit einem Wutanfall.

      Meine Mutter unterbrach ihre Arbeit und richtete sich auf.

      »Hast du den Geschirrschrank eingeräumt?«

      »Ja, Mutter.«

      »Der Fußboden im Arbeitszimmer muss noch gewischt werden«, gab sie bekannt.

      »Sobald du mit den Betten fertig bist, kann ich wischen«, ergab ich mich ihrem Willen. »Und heute Abend, sobald ich zurück bin, werde ich auch noch meine restlichen Sachen aufräumen.«

      In meiner Position war es immer gut noch mehr anzubieten, als von mir gefordert wurde. Das brachte zusätzliche Pluspunkte.

      »In Ordnung«, gab Mutter schließlich nach. »Aber bei Einbruch der Dunkelheit bist du Zuhause, haben

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