Скачать книгу

daran erinnern, schon einmal so etwas Eindrucksvolles gesehen zu haben.

      Ein paar Mal blinzelte ich, um meinen Verstand einzuschalten, der noch immer von einer dichten Nebelwolke umfangen schien. Ganz allmählich klärten sich meine Sinne.

      Ich lag im Schnee, mit dem Gesicht zur Seite gedreht. Meine Hände waren nun vor meinem Bauch gefesselt, nicht mehr auf dem Rücken. Der Schnee unter mir kühlte meine geschwollene Wange und ließ den Schmerz erträglicher werden, der beinahe zeitgleich mit meinem Bewusstsein erwachte. Vorsichtig versuchte ich den Kopf anzuheben, damit ich besser sehen konnte.

      Unweit von mir hockten meine beiden Entführer um ein Lagerfeuer herum, zusammen mit anderen Männern.

      Das müssen mindestens zwanzig Nordmänner sein, fuhr es mir durch den Kopf.

      Mein Blick schweifte ab, ich versuchte mir ein Bild von der Umgebung zu machen. Doch schon kurz darauf blieben meine Augen an der dunkelroten Stelle im Schnee hängen, kaum drei Fuß von mir entfernt.

      Mein Magen drohte zu rebellieren. Blut.

      Der Schnee war blutdurchtränkt. Leichte Nebelschwaden stiegen empor und die Wärme des Blutes vermischte sich mit der eisigen Kälte.

      Der Geruch von warmem Fleisch, gepaart mit literweise frisch vergossenem Blut, stieg mir in die Nase und brachte mich augenblicklich zum Würgen.

      Meinen Kopf zur anderen Seite drehend, um dem Gestank zu entgehen, entdeckte ich unmittelbar neben mir einen riesigen Haufen abgetrennter Tierköpfe. Mit hervorgequollenen Augen und Zungen, die weit aus ihren Mäulern hingen, starrten mich ihre toten Überreste anklagend an.

      O nein...

      Einer weiteren Ohnmacht nahe, versuchte ich den Blick auf etwas anders zu fokussieren, um meinen aufgewühlten Magen abzulenken.

      Der Rastplatz glich einem Schlachtfeld, überall entdeckte ich blutige Fußspuren und an einigen Stellen dampften Berge von frischen Eingeweiden.

      Die armen Tiere.

      Stumme Tränen sammelten sich in meinen Augen. Noch nie zuvor hatte ich etwas derart Grausames gesehen. Der Schauplatz dieser Brutalität übertraf alles, was ich bisher erblickt hatte.

      Meine Reflexe ließen sich nicht länger unterdrücken, da mir eine weitere Wolke mit dem Geruch frischen Blutes entgegenwehte.

      Ich begann heftig zu würgen.

      Einer der Männer drehte sich in meine Richtung.

      »Sie ist wach«, stellte er emotionslos fest. »Und wenn ihr nicht wollt, dass sie erstickt, würde ich an eurer Stelle schnellstens den Knebel entfernen, weil sie gleich kotzt.«

      Der Mann, der mir ins Gesicht geschlagen hatte, fluchte laut und schamlos. Sichtlich genervt erhob er sich von seinem Rastplatz und steuerte auf mich zu. Mit einem gekonnten Handgriff lockerte er den Knebel und zog ihn runter.

      Keinen Moment zu früh.

      Ich würgte alles hoch, was sich in meinem Magen befand:

      eine Handvoll aufgeweichter Kekse, gemischt mit den Überresten der Honigdrops und einen großen Schwall Magensäure – was ein fürchterliches Brennen in meinem Hals verursachte.

      »Das ist ja widerlich«, beklagte sich der Mann lachend.

      Die anderen Männer stimmten in sein Gelächter ein, erhoben sich von ihren Plätzen und bildeten einen lockeren Halbkreis um mich, während sie vergnügt dabei zuschauten, wie ich den letzten Rest Keksbrei hochwürgte.

      »Bist du fertig?«, fragte mich mein Peiniger, nachdem ich endlich alles erbrochen hatte.

      Er ging in die Hocke und griff nach dem Knebel, doch ein anderer Mann mischte sich ein.

      »Wir sind ewig weit weg vom Dorf«, gab er an. »Selbst in dem Fall, dass sie versuchen würde aus Leibeskräften zu schreien, kann sie hier niemand hören. An deiner Stelle würde ich den Knebel weglassen, nur für den Fall, dass sie nochmal kotzt.«

      Die Männer lachten wieder und der andere Kerl richtete sich auf, ohne mir das eklige Stückchen Leinen wieder in den Mund zu stopfen. Überlegend betrachtete er mich eine Weile, zuckte schließlich mit den Schultern, drehte sich um und folgte der Gruppe zum Lagerfeuer.

      Nachdem sich mein Magen einigermaßen beruhigt hatte, versuchte ich die Schmerzen zu lokalisieren, welche mich noch immer fest im Griff hatten.

      Offensichtlich waren meine Mundwinkel von dem Knebel eingerissen. Ganz deutlich konnte ich getrocknetes Blut zwischen meinen Lippen schmecken. Mein rechtes Auge pochte unentwegt, meine gesamte rechte Gesichtshälfte schmerzte von dem Schlag, jetzt, da ich mein volles Bewusstsein zurückerlangt hatte.

      Mühsam versuchte ich mich aufzusetzen, was mir erst nach mehreren Versuchen gelang, da ich mich dabei ziemlich ungeschickt anstellte.

      Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass ich beobachtet wurde. Die Männer sprachen leise miteinander, machten Scherze und nagten dabei an den Knochen unserer abgeschlachteten Tiere. Dazu tranken sie unseren Wein. Immer wieder huschten ihre verstohlenen Blicke in meine Richtung, wahrscheinlich, um sicherzustellen, dass ich nicht versuchen würde abzuhauen – was in meinen Augen wenig Sinn machte.

      Wohin sollte ich schon gehen? Man musste wirklich kein Genie sein, um die ausweglose Lage zu erkennen, in der ich mich befand.

      Schnee, Schnee und nochmals Schnee. Weit und breit gab es kaum etwas anderes. Hinter mir erstreckte sich ein dunkler Wald mit sehr hohen Bäumen. Direkt vor mir gab es nur die endlose Weite einer kargen Winterlandschaft. Hier und dort entdeckte ich ein paar Hügel und in einiger Entfernung konnte ich einen kleinen zugefrorenen See ausmachen.

      Leider kam mir an dieser Umgebung rein gar nichts bekannt vor. Könnte ich mich von den Fesseln an meinen Handgelenken befreien, wüsste ich nicht einmal, in welche Richtung ich laufen musste. Alles sah gleich aus.

      »Die haut nicht ab«, gab der Mann zum Besten, der mich über seine Schulter geworfen hatte. »Die war noch nie alleine unterwegs, sie weiß nicht mal, in welcher Richtung ihr Dorf liegt.«

      Er lachte dröhnend und die anderen stimmten mit ein.

      In mir hingegen sank aller Mut, meine Familie jemals wiederzusehen.

      So sehr ich dieses Monster auch hasste, leider hatte er recht mit seiner Behauptung. Nur ein einziges Mal war ich bis jetzt weiter von unserem Dorf entfernt gewesen als bis zu unserem jährlichen Treffpunkt vor der Winterruhe.

      Als ich noch klein war, ungefähr so alt wie meine Schwester jetzt, hatte mich mein Vater in die Stadt mitgenommen. Einmal jährlich musste er dort seine Unterlagen hinterlegen, so wie jeder Mann einer Vorsteherin es schon seit Anbeginn der Zeit tat. Das war die Aufgabe meines Vaters, er zählte das Vieh in unserem Dorf, führte genau Buch über Geburten und Todesfälle, trieb die Steuern ein und kümmerte sich um die Belange der Bauern.

      Der Ausflug war aufregend gewesen. All die großen Häuser und der Lärm auf den eng befahrenen Straßen, wo es von Pferdekutschen nur so wimmelte. Trotzdem hatte ich die Heimreise damals kaum erwarten können. Ich fühlte mich einfach nicht wohl in der Stadt. Seitdem blieb ich Zuhause, wenn Vater dort seine Geschäfte erledigte.

      Meine Gedanken überschlugen sich.

      Hier draußen in der Kälte, weit weg von unserem Dorf, war ich der Willkür dieser Scheusale schutzlos ausgeliefert.

      Ich war die Tochter einer Vorsteherin, ich sollte hübsch aussehen und unser Haus repräsentieren.

      Scheinbar war das alles, was ich konnte: Hübsch aussehen, lächeln, schöne Kleider tragen.

      Mit einem prüfenden Blick auf meine Entführer wurde mir klar, dass ich ohne sie hier draußen in der Wildnis keinen einzigen Tag lang überleben würde. So sehr mich dieser Gedanke auch quälte, ich brauchte gar nicht erst versuchen abzuhauen, es sei denn, ich wollte erfrieren oder verhungern, ehe ich das Dorf erreichte. Falls ich es überhaupt jemals finden würde.

      Mein Blick heftete sich erneut auf die Männerschar,

Скачать книгу