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      Die Tiefe, Undurchdringlichkeit und Dunkelheit des inneren Ozeans kann die Sicht der Introvertierten auf ihre Stärken trüben oder gar verhindern. Auf dem Weg zu den eigenen Stärken braucht es daher zunächst die Entscheidung: Ich will mich auf die Suche nach meiner inneren Stärke machen! Gepaart mit dem Mut, dieser Entscheidung auch Taten folgen zu lassen. Im Bild des Ozeans gesprochen, kann man sich die innere Stärke introvertierter Menschen als einen versunkenen Schatz vorstellen, den es zu entdecken und zu bergen gilt. Nach der inneren Stärke zu suchen, bedeutet dann: Ich tauche ein in mein unergründliches Innenleben. Ich mute mich mir zu. Ich will mich den Abgründen und der Dunkelheit in mir stellen. Auch dem Schmerz, der damit verbunden ist. Ich lerne aus der Vergangenheit. Ich nehme meine Gefühle ernst und lasse sie zu. Ich wage diesen Schritt im Vertrauen darauf, dass ich gehalten werde, selbst wenn ich nichts davon spüre. Im Vertrauen darauf, dass einer da ist, der mich schützt und mich davor bewahrt, in den Untiefen zu ertrinken. Dass ich in meiner ganzen Komplexität und den schweren Gedanken, die manchmal auf mir lasten, von einem Schöpfer liebevoll geschaffen bin, der einen Plan für mein Leben hat. Und dass die Schätze, die er in mich hineingelegt hat, Teil dieses Plans sind.

      Doch wie finde ich den nötigen Mut für dieses Abenteuer? Bereits Seneca wird dieses Zitat zugeschrieben: »Wenn die Sehnsucht größer ist als die Angst, entsteht Mut!« Ich wage dieses Abenteuer, getrieben von der Sehnsucht, mehr über meinen Schöpfer und seinen Plan mit mir und meinem Leben zu erfahren. Im Vertrauen darauf, dass er mir Wege aufzeigen wird, wie ich mit meiner vielschichtigen und intensiven Innenwelt so umgehen kann, dass sie mir und anderen zum Segen wird. Ulrich Schaffer hat dieses Wagnis so umschrieben:

      Ich wage es,

      mich mit meinen dunklen Seiten zu befassen,

      weil ich ihnen ihre finstere Macht nehme,

      wenn ich sie in mir verstehe.

      Durch den Schatten breche ich durch in ein umfassenderes Licht.56

      In diesem Sinne möchte ich Ihnen Mut machen, ins Ungewisse abzutauchen. Nicht ziellos, sondern auf der Suche nach den kostbaren Schätzen, die in der Tiefe Ihrer Innenwelt verborgen sind. Es ist eine Suche nach Antworten, nach Klarheit, nach Orientierung, nach Frieden, nach Erfüllung und einem festen Halt. Einem Anker in den Stürmen des Lebens. Und sollten Sie in den Untiefen auf Hindernisse, Unvorhergesehenes oder gar auf »Ungeheuer« stoßen: Lassen Sie sich nicht davon beirren! Nichts und niemand soll Sie von Ihrer Suche abhalten! Denn es ist für Ihr Leben von entscheidender Bedeutung, dass Sie Ihre innere Stärke entdecken und diesen Schatz bergen.

      In der Fortsetzung möchte ich beispielhaft vier Hindernisse aufzeigen, die Ihre Suche erschweren könnten. Es sind vier Problemfelder, mit denen introvertierte Menschen besonders oft zu kämpfen haben. Je nach Ausprägung der Introversion können sie stärker oder schwächer sein. Auch die Kombination von Introversion mit Hochsensibilität und/oder Hochbegabung kann beeinflussen, wie intensiv die Erfahrung ist.

      1. Dunkelheit

      Dieses erste Hindernis möchte ich ausführlicher behandeln als die übrigen, weil es mir aus persönlichem Erleben besonders am Herzen liegt und weil ich weiß, dass es für diejenigen, die davon betroffen sind, von großer Tragweite sein kann.

      Dunkelheit ist hier nicht im wörtlichen Sinne zu verstehen, sondern vielmehr als Sammelbegriff für Gefühle oder Zustände, die teilweise nur schwer in Worte zu fassen sind und für deren Auftreten oder Existenz man selber oft keine Erklärung findet: Mutlosigkeit, Erschöpfung, Traurigkeit, Schmerz, Lebensmüdigkeit, Antriebslosigkeit, Hoffnungslosigkeit bis hin zur Resignation.

      Um 1576 hat der Kirchenlehrer und Mystiker Johannes vom Kreuz ein Gedicht geschrieben mit dem Titel Die dunkle Nacht der Seele. Obwohl es in dem Gedicht um geistliche Erfahrungen geht, fand das Gedicht (und vor allem sein Titel) später in vielen Büchern als Metapher für Depressionen Eingang. Experten sind sich einig, dass eine auffallend hohe Zahl von »außergewöhnlichen Menschen«57 mehr oder weniger intensiv depressive Lebensphasen erlebt. (Wobei man vorsichtig mit dem Begriff Depression umgehen sollte, da es sich hierbei um ein sehr ernst zu nehmendes Krankheitsbild handelt.) Wenn die Dunkelheit so überwältigend wird, dass man keinen Ausweg mehr sieht, kann ein Mensch im Extremfall sogar zur Überzeugung gelangen, dass sein Leben nicht mehr lebenswert ist. In vielen Fällen hatten Menschen, die Suizid begehen, vorher mit schweren Depressionen zu kämpfen. Und in den meisten Fällen wundert sich das Umfeld anschließend, wieso niemand etwas davon gemerkt hat. Eine erschütternde Illustration für die verborgene Innenwelt im Leben eines Introvertierten.58 Wenn die Dunkelheit so überwältigend wird, dass das alltägliche Leben massiv davon beeinträchtigt wird (auch wenn dies nur der betroffenen Person selbst bewusst ist), braucht es dringend Unterstützung von außen! Wenn ich in der Fortsetzung von Dunkelheit spreche, meine ich damit nicht eine schwere Form der Depression (die dringend ärztliche Betreuung erfordert), sondern eine grundsätzliche Veranlagung zu depressiven Verstimmungen und damit verbundenen depressiven Phasen im Leben eines Introvertierten. In Kapitel 19 seines Romans Schuld und Sühne schrieb Fjodor Dostojewski: »Wo eine umfassende Erkenntnis und ein tief empfindendes Herz vorhanden sind, da bleiben auch Leid und Schmerz nicht aus. Die wahrhaft großen Menschen müssen, wie ich glaube, auf der Welt eine große Traurigkeit empfinden.«59

      Das Stichwort Traurigkeit erinnert mich an mein allererstes Klavierstück, das ich an einem Vorspielabend vortragen durfte. Das Stück hieß Columbine is sad/Kolumbine ist traurig/Colombine est triste. Auf dem Notenblatt war zur Illustration in Schwarz-Weiß ein kleines Mädchen mit hängendem Kopf, hängenden Schultern und einem Clown in der Hand abgebildet. Ich kann mich erinnern, wie ich dieses Stück immer und immer und immer wieder gespielt habe, obwohl ich es längst fehlerfrei konnte. Es tat so unglaublich gut in der Seele! Es war, als ob ich die Melodie meines Herzens gefunden hätte! Eine Sprache für Gefühle, für die es keine Worte gab. Noch heute klingt die schlichte Melodie in Molltönen in meinen Ohren, als wäre es gestern gewesen. Als wir vor rund drei Jahren das Haus meiner Eltern verkauften, fielen mir bei den Räumungsarbeiten im Dachgeschoss die Notenblätter wieder in die Hände und ich war ganz gerührt. Ich brachte es nicht übers Herz, sie zu entsorgen. Columbine war zwar bloß eine Skizze auf Papier. Es war auch nicht ersichtlich, weshalb sie traurig war. Doch es reichte aus, dass ich mich mit ihr identifizieren konnte – weil ich ihre Traurigkeit mitfühlte. Für mich blieb auch rätselhaft, wo meine Traurigkeit herrührte. Ich wuchs in einem behüteten Zuhause auf, war von Liebe umgeben, hatte einen kindlichen, aber ernsthaften Glauben an Gott, der mir Halt gab, ich kam gut klar mit dem Schulstoff, war nach außen hin aufgeweckt und fröhlich und vieles mehr. Wenn da nur nicht diese Traurigkeit, diese Dunkelheit tief in mir gewesen wäre …

      Diese Veranlagung kann belastend sein. Auch für Freundschaften, Familien, Beziehungen. Mein Ehemann weiß, wovon ich spreche. Er ist einer der wenigen, der hin und wieder einen kleinen Einblick in meine Innenwelt erhält. Vorbereitend auf meine Arbeit an diesem Buch, stellte ich ihm einige Fragen und bat um eine schriftliche Antwort. Dazu gehörte die Frage: Was stört dich am meisten an mir? Rolfs ehrliche Antwort lautete: »Deine pessimistische Art (depressive Verstimmungen) bis hin zur Selbstaufgabe, wenn es dir nicht gut geht. Und das war in den letzten Monaten/Jahren fast immer der Fall.« Seine Antwort mag viele meiner Bekannten und sogar Freunde überraschen. Menschen, die mich für alles andere als pessimistisch halten. Ganz im Gegenteil! Schon viele haben mir gesagt, wie sehr sie meine positive und fröhliche Art schätzen. Und Anteile hiervon habe ich durchaus. Es ist nicht einfach nur gespielt. Es ist höchstens einseitig gespielt, weil ich den schmerzvollen und dunklen Teil in mir lieber bedeckt halte.

      Mein Beispiel zeigt, was auch auf viele andere Introvertierte (mit unterschiedlichen Abstufungen) zutrifft. Es wäre aber absolut unzutreffend, Introversion per se mit dem Bild eines schlecht gelaunten, griesgrämigen Menschen in Verbindung zu bringen. Glauben Sie mir: Vielen Introvertierten, die mit Dunkelheit in ihrem Inneren kämpfen, ist von außen nichts davon anzumerken! Während Extrovertierten meist am Gesicht abzulesen ist, wie es ihnen geht, und sie in der Regel sehr offen mit ihren Gefühlen umgehen, geschieht dies bei Introvertierten im Verborgenen. Anne Heintze und andere Autoren weisen überdies darauf hin, dass Depressionen umso wahrscheinlicher sind, wenn Introvertierte

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