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zu denken, dass alle Introvertierten depressive Verstimmungen erleben, wie ich sie eben beschrieben habe. Von der Veranlagung her sind am ehesten diejenigen betroffen, deren Introversion auch mit Hochsensibilität und/oder Hochbegabung gekoppelt ist oder die von ihrer introvertierten Ausrichtung her zur Melancholie neigen.

      Das Hindernis Dunkelheit, dem sich viele Introvertierte stellen müssen, kann für introvertierte Christen eine doppelte Herausforderung darstellen, zum Beispiel im Blick auf Fragen wie: »Was stimmt nicht mit mir und meinem Glauben?«, »Sollte ich als Christ nicht von solchen Gefühlen befreit sein?«, »Jesus ist doch das Licht. Er hat doch die Dunkelheit besiegt – wieso ist sie dann in meinem Leben noch da?« Hier scheint mir zunächst einmal wichtig, dass wir die Dunkelheit der Seele nicht mit der Dunkelheit der Sünde verwechseln oder gar gleichsetzen. Was Letzteres betrifft, bietet uns Jesus durch sein Sterben am Kreuz Vergebung unserer Schuld an. Diejenigen, die seine Vergebung annehmen, führt er aus der Macht der Dunkelheit in sein göttliches Licht. Paulus schreibt an die Christen in Ephesus: Früher gehörtet ihr selbst zur Finsternis, doch jetzt gehört ihr zum Licht, weil ihr mit dem Herrn [Jesus Christus, D. S.] verbunden seid. Verhaltet euch so, wie Menschen des Lichts sich verhalten (Epheser 5,8). Ja, Jesus ist das Licht. Er hat die Dunkelheit überwunden. Und trotzdem wird Dunkelheit im Sinne von schmerzvollen Gefühlen und Erfahrungen Teil unserer menschlichen Realität bleiben. Auch im Leben von Christen. Dies bestätigt ein Blick in die Bibel: beispielsweise in Psalmtexten (zum Beispiel Psalm 143,4), weiter das Beispiel von Elia (vgl. 1. Könige 19,4) oder auch Aussagen von Paulus im Neuen Testament (vgl. 2. Korinther 4,8-9), um nur einige zu nennen.

      Passend zum Bild des Ozeans habe ich dieses Unterkapitel mit den Worten aus dem Wallfahrtspsalm 130,1 überschrieben: Aus der Tiefe schreie ich zu dir, Herr! Die »Tiefe« wird nicht näher erklärt. Es bleibt offen, ob es eine körperliche Krankheit, ein psychisches Leiden, die Last einer Schuld, eine familiäre Not oder was auch immer ist. Das hebräische Wort, das hier mit »Tiefe« übersetzt wird, lässt an Verschiedenes denken: zum Beispiel an ein Wasserloch, in das man stürzen kann, eine dunkle Grube, ein Grab, die Unterwelt und nicht zuletzt an die Meerestiefen, in denen die Menschen der damaligen Zeit den Sitz von Ungeheuern und Chaosmächten vermuteten. Was auch immer die Tiefe ist, aus der sich der Psalmbeter an Gott wendet – es ist ein Hilfeschrei aus tiefster Not. Ähnlich singt David in Psalm 69,3: Ich versinke in tiefem Schlamm und finde keinen Halt. Das Wasser reißt mich in die Tiefe, die Flut überschwemmt mich. Verbunden mit der Bitte an Gott: Sorge dafür, dass die Flut mich nicht überschwemmt und die tiefen Strudel mich nicht verschlingen (Psalm 69,16a).

      Wenn es uns nicht gelingt, vertrauens- und hoffnungsvoll mit dem Hindernis Dunkelheit umzugehen, bringt Letztere die Suche nach inneren Schätzen früher oder später zum Scheitern. Während ich das schreibe, ist mir schmerzlich bewusst, wie widersprüchlich die Worte »vertrauens- und hoffnungsvoll« in der Dunkelheit klingen. Ein vertrauens- und hoffnungsvoller Umgang verändert möglicherweise nichts an meiner Dunkelheit oder meinem Empfinden, aber ich ringe darum, meinem Denken mitten in der Dunkelheit eine andere Ausrichtung zu geben. Ich entscheide mich, meinen Blick nicht länger verzweifelt auf das Dunkel zu richten, das mich umgibt, sondern auf denjenigen, der mich in dieser Dunkelheit auffängt, wenn ich falle. Auf den, der mich rettet, wenn ich innerlich ertrinke. Der russische Dichter Apollon Maikow kam zum Schluss: »Je dunkler die Nacht, umso heller die Sterne, je tiefer die Trauer, umso näher ist Gott.«61 Vertrauen kann mich trotz Dunkelheit in Gottes Nähe ziehen. Es ist das Vertrauen darauf, dass Gott zu dem steht, was er in seinem Wort verspricht: Gott ist unsre Zuflucht und unsre Stärke, der uns in Zeiten der Not hilft. Deshalb fürchten wir uns nicht, auch wenn […] die Ozeane wüten und schäumen und durch ihre Wucht die Berge erzittern! (Psalm 46,2-4; NLB).

      Falls Ihre Sicht auf das Leben genau in diesem Moment von Dunkelheit getrübt ist, möchte ich Ihnen Folgendes ans Herz legen: Geben Sie sich der Dunkelheit nicht hin! Bleiben Sie in Ihrer Not nicht allein und wagen Sie es, Ihre Dunkelheit mit jemandem zu teilen. Das kann jemand sein, der Ihnen nahesteht, eine Fachperson oder sonst jemand, zu dem Sie Vertrauen haben. Fassen Sie sich ein Herz und wagen Sie diesen wichtigen Schritt aus der Isolation. Aus eigener Erfahrung möchte ich noch ergänzen: In manchen Fällen kann auch die Einnahme von Medikamenten hilfreich sein (in Absprache mit einem Arzt), damit sich der dunkle Schleier der Seele etwas lichtet. Und schließlich: Bitten Sie Gott, dass er Ihnen trotz dunkler Strömungen, die Ihre Sicht gelegentlich trüben werden, eine zunehmend klarere Sicht schenkt und Ihnen seine Sicht der Dinge offenbart.

      2. Ängste

      Zu den größten Stolperfallen gehören außerdem Ängste. Es liegt auf der Hand, dass einige Ängste untrennbar mit der oben geschilderten Dunkelheit in Verbindung stehen. Angst vor der Dunkelheit, vor dem Versinken, der Einsamkeit. Darauf werde ich hier nicht weiter eingehen. Und selbstverständlich sind auch Extrovertierte von vielerlei Ängsten betroffen. An dieser Stelle möchte ich lediglich auf eine Angst hinweisen, die meines Erachtens eng mit dem introvertierten Wesen in Verbindung steht: die Angst, was geschehen könnte, wenn meine »Außenwelt« einen ungefilterten Einblick in mein komplexes Innenleben erhalten würde. Oder anders formuliert: die Angst davor, nicht für die Person geliebt zu sein, die ich im Innersten bin. Dahinter steckt im Kern auch die Angst davor, mich verletzlich zu machen – und im schlimmsten Fall abgelehnt zu werden.

      Neulich fiel mir ein Gedicht in die Hände, das ich vor rund drei Jahren geschrieben habe. Ich schrieb es in Englisch, möglicherweise weil der Gebrauch einer Fremdsprache eine wohltuende Distanz zum schonungslos ehrlichen Inhalt geschaffen hat oder weil mir der prägnante englische Wortschatz geeigneter dafür schien auszudrücken, was ich fühlte. Ich überschrieb das Gedicht mit dem Titel Hidden me (Verborgenes Ich). Es ist vermutlich das »introvertierteste« Gedicht, das ich je geschrieben habe (auch wenn mir dies gar nicht bewusst war). Und zwar in einer Zeit, in der mich eine chronische Schmerzsituation an den Rand meiner Kräfte brachte. Der erste Teil beschreibt mein Empfinden, wie ich von der Außenwelt wahrgenommen werde – und dann folgt der ehrliche Blick in die Innenwelt:

      Verborgenes Ich

      sie loben mich

      für mein heiteres Wesen

      meine Intelligenz und Höflichkeit

      sie mögen mich

      wegen meines herzlichen Lachens

      meiner Freundlichkeit und Heiterkeit

      sie danken mir

      für mein Verständnis

      meine Ermutigung und Nachsicht

      sie nennen mich

      stark, zäh

      tapfer und mutig

      und rühmen sich dafür

      mich so gut zu kennen.

      Ich lächle nur

      fühle mich einsamer

      als je zuvor

      frage mich

      ob sie mich wohl immer noch mögen würden

      wenn nichts von mir bliebe

      als mein verborgenes Ich?

      wenn sie

      den Schmerz hinter meinen Worten

      die Tränen hinter meinem Lächeln

      die Ängste hinter meinen Taten

      die Zweifel hinter meinen Plänen

      die Schwächen hinter meinen Stärken

      sehen würden?

      wirst DU mich noch mögen

      wenn nichts von mir bleibt

      als mein verborgenes Ich?

      mein einsames, ängstliches

      verletzliches, weinendes

      verborgenes Ich

      überfordert vom Leben

      verloren in der Komplexität

      Debora Sommer, 10. August 2014

      (übersetzt aus dem Englischen) 62

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