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geboren, in den dunklen, tiefen Ozean ihres Geistes abzutauchen. Dorthin, wo ihnen niemand folgen kann, wo sie ganz ungestört und allein mit sich sind. Im Gegensatz zu den Schiffen können sich U-Boote sowohl unterhalb als auch oberhalb der Wasseroberfläche aufhalten. Introvertierte U-Boote sind allerdings nicht ausschließlich für ein Leben unter der Wasseroberfläche bestimmt. Gelegentlich oder regelmäßig verlangt das Leben auch von U-Booten, dass sie dem Schiffsverkehr und bunten Treiben über der Wasseroberfläche zusehen (und sei es nur ganz vorsichtig mit dem Periskop) oder sich gar aktiv daran beteiligen. Das heißt, sie müssen von Zeit zu Zeit auftauchen. Und tun sie das, sind die Schiffe an der Wasseroberfläche ihrerseits manchmal ein wenig verwundert »über die seltsamen Fahrzeuge, die da plötzlich auftauchen«, schreibt Birgit Trappmann-Korr, »denn man kann sie kaum hören und meistens sind sie irgendwie nicht ›da‹ und nicht so recht bei der Sache. Sie glauben, dass U-Boote vielleicht einen Konstruktionsfehler haben und deshalb nicht so richtig schwimmen können.«51

      Je intensiver und länger die Eindrücke und Erfahrungen oberhalb der Wasseroberfläche, desto größer wird die Sehnsucht der U-Boote nach der Stille des Ozeans. Haben sie genügend Daten gesammelt (zum Beispiel nach einem langen Arbeitstag oder wenn viele Eindrücke auf sie einstürmten), tauchen sie ab, um diese Daten zu verarbeiten. Doch dieses Verhalten ist auch mit Gefahren verbunden. Einige Introvertierte tauchen so tief, dass sie den Weg zur Wasseroberfläche kaum mehr allein finden. Sie brauchen Hilfe, da sie in ihrer Innenwelt die Orientierung verlieren. Sie wissen nicht mehr, wo »oben« und »unten« ist und wo sie eigentlich hingehören.52 Es ist für sie von zentraler Bedeutung, dass sie gute Strategien entwickeln, wie sie sich in den zwei unterschiedlichen Lebensräumen so bewegen können, dass sie nicht verloren gehen.

      Schwierige Begegnungen

      Es liegt auf der Hand, dass Begegnungen von Schiffen mit U-Booten anders verlaufen als solche von Schiffen untereinander oder von U-Booten untereinander. Unter seinesgleichen braucht es keine Erklärungen für ein Verhalten, das mit dem bevorzugten Lebensraum zusammenhängt. So kommt es auf beiden Seiten oft zu Missverständnissen und Vorurteilen. Während U-Boote die Schiffe als eher oberflächlich, rücksichtslos, lieblos, vorschnell, gedankenlos, unbesonnen, launisch, unbeherrscht oder Ähnliches erleben, verzweifeln die Schiffe manchmal schier am rätselhaften Verhalten der U-Boote. Ja, mag sein, dass sie, die Schiffe, manchmal etwas laut und vorschnell sind und vielleicht sogar rücksichtslos erscheinen. Doch was in den Augen der harmoniebedürftigen U-Boote rücksichtslos erscheint, ist aus Sicht der Schiffe ehrliches Verhalten, das durchaus angemessen und sogar dringend nötig ist und das sie bei den U-Booten meist vermissen. In der Regel stehen sie zu dem, was sie sind, wie sie sind, was sie denken, wie sie sich fühlen, und lassen das auch alle Wasserfahrzeuge in ihrem Umkreis wissen. Hier, auf der Wasseroberfläche, im Tageslicht sieht man die Dinge, wie sie sind. Man wird mit offensichtlichen Tatsachen konfrontiert und erkennt, wo man bei Problemen ansetzen muss. Sind Reparaturen oder Anpassungen notwendig, kann alles, was dafür gebraucht wird, in die Wege geleitet werden.

      Sollte jedoch ein Schiff einem U-Boot in Not beistehen, wird der Fall komplizierter, und so mancher Schiffer beziehungsweise manche Schifferin fischt im Trüben. Unter der Wasseroberfläche sind die Gesetzmäßigkeiten, die über der Wasseroberfläche gelten und funktionieren, zermürbenderweise außer Kraft gesetzt. In der Dunkelheit, der Undurchsichtigkeit, der Komplexität und Endlosigkeit des Ozeans ist manchmal nicht nur keine Lösung des Problems absehbar, sondern selbst das U-Boot verschwindet aus dem Blickfeld. Dieser Umstand ist für lösungsorientierte und praktisch veranlagte Schiffe nur schwer zu akzeptieren. Das Gefühl der Hilflosigkeit kann sich in Form von Unmut gegenüber U-Booten Luft machen. Schiffe raten den U-Booten eindringlich, ihr Verhalten zu ändern und (wie sie) über der Wasseroberfläche zu leben.

      Wer lebt richtig?

      Vielleicht ist dies der größte Spannungspunkt zwischen Schiffen und U-Booten überhaupt: dass beide ihren bevorzugten Lebensraum für den wichtigeren, entscheidenden oder im Extremfall sogar für den einzig richtigen halten. Das Abtauchen der U-Boote in den tiefen Ozean scheint den Schiffen nichts anderes als eine Flucht vor der Wirklichkeit des Lebens zu sein und ein Zeichen mangelnder Bereitschaft, sich der Realität des Lebens zu stellen. Für die Schiffe ist ohne jeden Zweifel die äußere Welt aus Menschen und Dingen die wahre Welt. Dabei übersehen sie die Tatsache, dass U-Boote im Gegensatz zu ihnen für ein Leben unter Wasser geschaffen sind. Dass U-Boote in diesem unendlichen, undurchdringlichen, aber auf seine Weise ebenfalls wunderschönen und faszinierenden Lebensraum zu Hause sind. Dass dies deren Realität ist, dass sich Intros dort wohlfühlen und sich dort auf intensive Weise der Wirklichkeit und den Herausforderungen ihres Lebens stellen. Und dass Intros im Gegensatz zu ihnen vielmehr die innere Welt aus Gedanken, Zusammenhängen und Tiefgang für die wahre Welt halten.

      Ähnlich wie die Schiffe den U-Booten vorwerfen, sich der Realität des Lebens über der Wasseroberfläche zu verweigern, halten U-Boote die Schiffe für feige, weil jene es nach Möglichkeit vermeiden, abzutauchen und sich der Realität ihrer inneren Abgründe zu stellen. Im Grunde genommen sind viele U-Boote auch selbst überfordert mit sich, den Untiefen des Ozeans und dem Auftauchen an der Wasseroberfläche. Birgit Trappmann-Korr beschreibt es sehr anschaulich:

      Leider, und dies ist meines Erachtens ein Dilemma, gibt es noch keine »U-Boot-Schule«, niemand sagt den kleinen und großen U-Booten, was das Besondere an ihnen ist, was sie können und vor allem, worauf sie beim Abtauchen achten müssen. So bleibt jeder sich selbst überlassen und muss alles Stück für Stück allein herausfinden, und nicht selten wächst die Erkenntnis, dass hier wirklich etwas nicht zu stimmen scheint. Manche wollen doch einfach nur so sein wie alle anderen, doch je mehr sie das versuchen und je weniger sie abtauchen, desto überstimulierter werden sie. Manchmal kommt es auch zu einer Radikalwende und sie tauchen ab, wann immer sie möchten. Wenn die Welt über Wasser nicht länger von Wichtigkeit ist, dann kann es zu ihrem Schicksal werden, ziellos im Ozean zu treiben.53

      In solchen Fällen ist bei Introvertierten auch eine Tendenz zum Suchtverhalten feststellbar. Die Flucht in eine Sucht wird als momentaner Ausweg gesehen, all die belastenden Gedanken zu verdrängen und die innere Uferlosigkeit zumindest für einen Moment zu vergessen. Doch leider ist dies ein Trugschluss, da Intros ihrer inneren Realität nie entfliehen können.

      An dieser Stelle gilt es, mit Nachdruck festzuhalten: Introversion ist weder falsch noch Extroversion richtig – und umgekehrt. Wir sind, wie wir sind, und genau das macht die Welt interessant. Und so wenig, wie man einen Kurzsichtigen auffordern kann, »sei nicht kurzsichtig«, kann man einen Extrovertierten auffordern, »sei nicht extrovertiert«, oder einen Introvertierten, »sei nicht introvertiert«. Sophia Dembling erklärt: »Introversion […] ist ganz einfach eine Funktionsweise in dieser Welt, und daran ist überhaupt nichts Verkehrtes. Es ist an der Zeit, dass wir unsere Natur annehmen und anfangen, unseren Fall zu verteidigen. – In aller Stille.«54 Hier klingt auch schon etwas davon an, was möglich wäre, wenn an die Stelle gegenseitiger Kritik und Ablehnung ein Blick für die kraftvolle Ergänzung treten würde.

      Damit das Leben der U-Boote und hiermit auch die Begegnung von U-Booten mit Schiffen und umgekehrt einfacher wird, werden in der Fortsetzung dieses Kapitels folgende Fragen untersucht: Wie können sich U-Boote (in diesem Fall introvertierte Christen) auf die Suche nach ihrer inneren Stärke machen? Wie entdecken sie ihre innere Stärke? Wie kann jene geschützt werden? Und mitten in alldem: Welche Hilfestellungen bietet uns Gottes Wort zu diesen Fragen?

      Impulse zum Weiterdenken

      • Ist Ihr bevorzugter Lebensraum über oder unter der Wasseroberfläche? Worin äußert sich dies?

      • Wie denken Sie über »die anderen« (als Extrovertierte über Introvertierte oder umgekehrt)?

      • Welches Vorurteil möchten Sie als Extrovertierte/-r gegenüber Introvertierten (oder als Introvertierte/-r gegenüber Extrovertierten) loslassen?

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