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Vergleich suchen, um komplexe Zusammenhänge besser zu verstehen und anderen einfacher zugänglich zu machen. Und genau darum geht es in diesem einführenden Teil. Anhand eines Bildes möchte ich Ihnen das Thema Introversion, seine Herausforderungen und Stärken auf anschauliche Art näherbringen. Das Bild wird uns auch in der Fortsetzung des Buches weiter begleiten.

      Doch zuvor möchte ich kurz auf das Sprichwort eingehen, das ich als Überschrift für diesen Teil gewählt habe: Stille Wasser sind tief. Es bildet die perfekte Brücke zum nachfolgenden Sinnbild. Das Sprichwort ist aus der Natur abgeleitet, wo selbst ruhige Gewässer oft ungeahnt tief sind und wo sich unter ruhigen Wasseroberflächen manchmal unsichtbare Strömungen und Turbulenzen verbergen. Ähnliches trifft auch auf introvertierte Menschen zu. Oft erscheinen Introvertierte im Gegensatz zu Extrovertierten ruhiger und zurückhaltender. Dabei bleibt häufig verborgen, welche Komplexität, Intensität und Fülle an Gedanken und Ideen Introvertierte in ihrem Inneren bewegen. Deshalb werden sie nicht selten falsch eingeschätzt. Entsprechend groß ist die Überraschung, wenn introvertierte Menschen plötzlich durch unerwartete Handlungen oder überdurchschnittliches Können oder Wissen beeindrucken.

      Genau dies beschreibt auch Toni, der mich seit meiner Jugendzeit kennt. Toni stieß zu unserer Freikirche, als mein Vater dort leitender Pastor war. Wie er mir kürzlich schrieb, fiel ich ihm damals durch meine »äußerst angenehme, eher schüchterne Zurückhaltung auf«, aber auch durch meinen für sein Empfinden »teilweise eher altbackenen Kleidungsstil«. Die Kombination dieser beiden Dinge ergab für ihn »ein völlig falsches Bild« von mir: »Was ich damals aber wirklich nie erahnt hätte«, schrieb er, »ist dein gewaltiges geistiges und emotionales Potenzial.« Die anfängliche Skepsis, mit der er meinen weiteren Weg verfolgte, wandelte sich in zunehmende Verwunderung: »Nie, aber wirklich nie hätte ich gedacht, dass du dich später mit einem akademischen Abschluss zur erfolgreichen Buchautorin und Doktorandin entwickeln und letztlich diesen höchsten akademischen Grad mit genialem Erfolg erreichen wirst.«

      Auf mich wirken solche Reaktionen bis heute seltsam, weil ich mich meinem Empfinden nach als Person gar nicht groß verändert habe. Vielmehr ist im Laufe der Jahre mit Gottes Hilfe etwas von dem tief verborgenen Schatz in mir sichtbar geworden, der ja eigentlich schon immer da war – bloß unsichtbar für andere. Etwas von dieser inneren Welt, die auf der einen Seite ein Segen ist und auf der anderen Seite manchmal auch zur erdrückenden Last werden kann.

      Ein dunkler, tiefer Ozean

      Damit sind wir beim Bild beziehungsweise der Metapher, die uns dabei helfen soll, die Realität introvertierter Menschen besser zu erfassen: Es ist das Bild eines weiten Ozeans mit U-Booten (Introvertierten) und Schiffen (Extrovertierten).

      Dieser Vergleich ist inspiriert von der Verhaltenswissenschaftlerin Birgit Trappmann-Korr. Am Ende ihres Standardwerks zur Hochsensitivität vergleicht sie hochsensitive Menschen mit U-Booten.47 Wieso ich in diesem Buch anstelle von hochsensitiven von introvertierten Menschen spreche, erschließt sich aus den folgenden Zeilen: »Hochsensitive Menschen haben eine reiche und komplexe Innenwelt, das trifft besonders auf diejenigen zu, die introvertiert sind. Während die Introvertierten in unserer Gesellschaft eine Minderheit darstellen, machen sie einen Großteil aller hochsensitiven Menschen aus.«48 Ausgehend hiervon habe ich mir erlaubt, Trappmann-Korrs Idee zu übernehmen, jene auf Introvertierte zu übertragen und weiter zu entfalten.

      Der dunkle, tiefe Ozean steht symbolisch für das Innenleben eines Menschen, egal, ob extrovertiert oder introvertiert. Denn selbstverständlich können auch Extrovertierte eine durchaus reiche Innenwelt haben. Im Unterschied zu den Introvertierten nehmen Extrovertierte jene allerdings nicht so detailliert wahr, weil Außen- und Innenwelt für sie nahezu identisch sind. Mit anderen Worten: »Extrovertierte haben eine einschichtige Persönlichkeit«, erklärt Birgit Trappmann-Korr, »denn sie sind im Allgemeinen in der Öffentlichkeit und im Privaten dieselben. Sie neigen dazu, ihre privaten Gedanken anderen Menschen auch mitzuteilen.«49 Introvertierte hingegen haben ein öffentliches Selbst und ein zweites, privates Selbst. »Dieses private Selbst, die Innenwelt, wird regelrecht von der Außenwelt abgeschirmt und geschützt, sodass oftmals sogar der eigene Partner keine Kenntnis davon erhält und gar nicht weiß, wie der andere wirklich ist.«50

      In einem Tagebucheintrag vom 10. Mai 2006 habe ich diese Tatsache eines öffentlichen und privaten Selbst in eigenen Worten umschrieben, ohne zunächst zu verstehen, wieso ich so empfinde. An jenem Nachmittag verbrachte ich wieder einmal etwas Zeit allein mit unserem damals sechsjährigen Sohn. Die kleine Schwester war ein paar Tage im Urlaub bei der Patin. Auf Rubens Wunsch hin schauten wir uns in einem Kino den Film Asterix und die Wikinger an. Nach dem Film, als niemand mehr im Saal war, schlichen wir uns auf die mächtige Bühne. In meinem Tagebuch von damals ist zu lesen:

      Es war ein unvergesslicher Moment. Noch immer sehe ich uns ausgelassen und glücklich über die Bühne hüpfen, sehe Rubens strahlende Augen vor mir, höre unser gemeinsames Lachen … Es tat einfach sooo gut! Und tat gleichzeitig sooo weh! Genau in solchen Momenten wird mir die Endlichkeit meines/unseres Lebens schmerzhaft bewusst … Unsere Kinder werden so schnell älter und größer. Ich möchte sie manchmal ganz fest an mich binden und nie mehr loslassen. Andererseits freue ich mich auch zu beobachten, wie sie Fortschritte machen und größer und reifer werden!! Beim anschließenden McDonald’s-Abstecher schrieb ich auf eine Serviette: Ich gehöre zu jener Spezies Menschen, die mitten im Trubel eines fröhlichen Alltags in Tränen ausbrechen können (so wie auf der Kinobühne). Natürlich sehr diskret. Nicht öffentlich. Oft erlebe ich das Leben gleichzeitig auf zwei parallelen Ebenen: einerseits die Oberflächenebene mit ihrer alltäglichen Beschaffenheit. Andererseits die Tiefenebene, die mich immer bis ins Mark erschüttert.

      Eine überraschend treffende Beschreibung dessen, was introvertierte Menschen charakterisiert: ein privates und ein öffentliches Selbst.

      Werden Introvertierte verbal angegriffen oder verletzt, dann zeigen sie es nach außen nur schwach oder auch gar nicht, denn sie haben die Tendenz, sich nach innen abzuschirmen. Etwa so, wie sich eine Schnecke in ihr Häuschen zurückzieht oder eine Schildkröte in ihren Panzer. Um ihr privates Selbst zu schützen, ziehen sich Introvertierte bei drohender Gefahr in ihren geheimen Schutzraum zurück. Daher reagieren sie auch selten wütend, sondern eher seltsam distanziert. Meist ist dem Gegenüber gar nicht bewusst, dass der introvertierte Gesprächspartner nicht mehr erreichbar ist. Denn jener innere Rückzug ist äußerlich kaum wahrnehmbar und besonders für eine extrovertierte Persönlichkeit kaum nachzuvollziehen. Leider führt dieses Verhalten oft zu Missverständnissen – etwas, was ich auch oft im christlichen Kontext beobachte: Die Reaktion des introvertierten Gesprächspartners vermittelt dem extrovertierten Gegenüber den Eindruck, dass alles in bester Ordnung ist und wieder zur Tagesordnung übergegangen werden kann. Doch in Wirklichkeit ist bei der introvertierten Person nichts in Ordnung. Sie ist zutiefst verletzt. Und wenn sie keinen Weg findet, auf gute Art mit dieser Verletzung umzugehen, wird diese alte Verletzung auch in zukünftigen Begegnungen mit der betroffenen extrovertierten Person mitschwingen. Letztere hat oft keine Ahnung, weshalb sich das introvertierte Gegenüber plötzlich so seltsam verhält.

      Von U-Booten (Introvertierten) und Schiffen (Extrovertierten)

      Der Hauptunterschied der beiden Typen liegt also darin, wie sie mit ihrem Innenleben umgehen oder anders gesagt, welche Rolle das Innenleben in ihrem Alltag spielt. Und genau dies findet Ausdruck im Bild der unterschiedlichen Wasserfahrzeuge:

      Die extrovertierten Schiffe bewegen sich ihrer Natur gemäß bei Tag und Nacht gut sichtbar auf der Wasseroberfläche. Hier, in der Außenwelt, haben sie den Überblick. Hier können sie sich an den Sternen orientieren und den Horizont absuchen. Hier können sie sich mit ihresgleichen treffen und austauschen. Sie begnügen sich damit, aus der Innenwelt herauszufischen, was sie zum Überleben brauchen. Sie lassen sich vom Wind treiben und stellen sich abenteuerlustig den Herausforderungen der Schifffahrt. In kritischen Situationen wird ihnen manchmal unangenehm bewusst, welch unbekannte Welt in der Tiefe unter ihnen schlummert. Doch in voller Fahrt auf der glitzernden Oberfläche neigen sie dazu, den Gedanken daran wieder zu verdrängen.

      Ganz anders die introvertierten U-Boote.

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