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beobachte mehr, als du denkst.

      Michaela Chung 64

      Es würde mir zweifellos leichter fallen, ein Buch über meine Schwächen zu schreiben als über meine Stärken. Seit meiner Kindheit und Jugendzeit bin ich mir meiner Schwächen bewusst. Meine Tagebücher sind stumme Zeugen der intensiven Auseinandersetzung damit. Beim Teil über die Schwächen sprudelten meine Gedanken und Ideen geradezu über. Ganz anders bei den Stärken. Da musste ich mich erst einmal hinsetzen und sehr lange nachdenken. Auch meine Familie fragte ich, was sie an mir schätzt. Menschen, die vor Selbstvertrauen strotzend durchs Leben gehen und ihre Stärken lobend erwähnen, sind mir ein Rätsel. Und ich habe festgestellt, dass es anderen Introvertierten ähnlich geht.

      Die Wahrnehmung, als U-Boot in der Überwasserwelt nicht mit den Schiffen mithalten zu können, vermittelt ein unangenehmes Gefühl der Unzulänglichkeit. Denn was dort »oben« geschieht, wird wahrgenommen. Es wird gesehen und beurteilt – nach den dort geltenden Maßstäben. Dabei schneiden Introvertierte vergleichsweise schlechter ab als Extrovertierte. Eigentlich seltsam, dass man nicht danach fragt, wie denn die Schiffe in der Unterwasserwelt mit den U-Booten mithalten könnten. Unter Wasser bewegen wir uns im Bereich der Unsichtbarkeit. Was hier geschieht, sieht man nicht und es wird kaum wahrgenommen. Aber ist es deswegen auch weniger wichtig?

      Die Andersartigkeit von Introvertierten in der sichtbaren Überwasserwelt erweckt bei einigen den Eindruck, dass mit diesen sonderbaren U-Booten etwas nicht in Ordnung ist. Verunsichert durch Reaktionen aus ihrem Umfeld, beginnen auch Introvertierte, plötzlich an sich zu zweifeln. Das gilt ebenso für introvertierte Christen. In einem Setting, in dem hingegebenes Christsein primär an Aktivitäten gemessen wird, spielen Introvertierte eine unscheinbare Nebenrolle. Ihr Beitrag scheint nicht relevant. Nicht ausreichend. Tragischerweise setzen zudem viele amerikanische Evangelikale, so Susan Cain, »Kontaktfreudigkeit mit Frömmigkeit gleich«65. Selbst jetzt, wo mehr über Introversion bekannt wird, unterliegen Introvertierte noch immer dem offenen oder versteckten Druck, sich zu ändern, bedauert Sophia Dembling in ihrem Buch Die Macht der Stille.66 Die Tatsache, dass man Introversion im Jahr 2010 in die nächste Ausgabe der »Diagnosebibel für Psychische Störungen«67 aufnehmen wollte, macht die Sache nicht besser. Introversion als psychische Störung?68 Schließlich besannen sich die Ärzte eines Besseren und beschlossen, die Introversion aus der Diskussion herauszuhalten.

      Trotzdem bleibt ein fahler Nachgeschmack. Und es erklärt sich von selbst, wie schwierig es für Introvertierte ist, an ihre eigene Stärke zu glauben und von sich selbst überzeugt zu sein. Dembling bedauert: »Nachdem man uns zeitlebens erzählt hat, dass unsere Lebensart nicht die richtige sei, haben wir unser Leben lang versucht, ›aus unserem Schneckenhaus‹ zu kommen, oder haben uns auf die Zunge gebissen und unserer Introversion nur heimlich nachgegeben, als wäre sie ein schmutziges Geheimnis.«69 Doch das ist sie nicht! Introversion ist nichts, wofür man sich schämen müsste! Wenn Sie introvertiert sind, sind Sie weder psychisch krank noch gefährlich, seltsam oder mangelhaft. Sie sind einfach nur manchmal gerne allein. Das ist Ihnen angeboren.70

      Introversion ist ein kostbarer Schatz, den es zu bergen, zu hegen und zu pflegen gilt. Sie ist ein wertvolles Geschenk. Eine Stärke, die es zu würdigen gilt. Dementsprechend schicken wir uns in diesem Unterkapitel an, diesen Schatz zu entdecken. Sich auf Schatzsuche zu begeben bedeutet, den Blick statt auf die Defizite (die den Introvertierten oft überdimensional stark bewusst sind) auf die vorhandenen Ressourcen zu richten. Das Wort Ressource ist von lateinisch resurgere abgeleitet, was unter anderem für »hervorquellen« und »zur Wirkung bringen« steht. Ihre innere Stärke wurde Ihnen nicht geschenkt, damit sie tief verborgen vom Sand der Zeit und den Altlasten des Lebens zugeschüttet wird, sondern dass sie ihre Wirkung entfaltet – Ihnen und anderen zum Segen.

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