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mit viel Disziplin wirklich schaffen konnte. Und um Balletttänzerin zu werden, brauchte man einfach kein Abi, das war reine Zeitverschwendung. Bekümmert stellte sich Nele das Gesicht ihrer Mutter vor, wenn sie von den Umständen der Entführung erfuhr. Letztlich hatten ihre Eltern also doch recht gehabt: Das Tanzen hatte sie ins Verderben gestürzt.

      Mit kalten Fingern massierte sie ihre Beine. Allmählich hörte das Kribbeln auf. Sie überlegte, ob sie aufstehen und herumlaufen sollte. Das würde ihren Kreislauf wieder in Gang bringen. Noch besser wäre es, von den Cornflakes zu essen, die mittlerweile nur noch ein brauner Brei waren. Aber sie blieb sitzen. Obwohl ihr Magen nach Nahrung schrie. Sie durfte sich auf keinen Fall so verhalten, wie er es von ihr erwartete. Sie wollte nicht das süße Kaninchen im Käfig sein. Mit einem Mal musste sie fast lächeln. Hatte Tim ihr neulich nicht gestanden, dass er einmal ein Kaninchen besessen hatte? Soweit sie sich erinnerte, hatte er es Oskar genannt. Bestimmt war das arme Tier ziemlich schnell eingegangen. Timmy war nicht gerade der fürsorgliche Typ. Aber das mochte sie auch an ihm. Er hatte seinen eigenen Kopf und hing einem nicht ständig am Rockzipfel wie andere Jungs. Vielleicht hatte sie sich ja deshalb in ihn verliebt. Nele zog ihre Beine wieder an und umklammerte sie so fest sie konnte. Sie stellte sich vor, bei Timmy zu sein, mit ihm auf dem Bett in seinem Zimmer herumzualbern. Jetzt vermisste sie sogar seine doofen Sprüche und seine kindischen Scherze.

      Ob er in diesem Moment ebenfalls an sie dachte? Ob er auch nach ihr suchte?

      Nele stand auf, um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen, vielleicht würde sie sich danach besser fühlen. Sie stützte sich mit beiden Armen auf das Waschbecken und starrte in den Spiegel. War sie das wirklich? Das fremde Mädchen vor ihr war blass, hatte rissige Lippen und trug ein gelbes Rüschenkleid. Mit einer wütenden Handbewegung fegte sie den Lillifee-Zahnputzbecher samt Inhalt von der Spiegelablage. Sogleich schalt sie sich für ihr unüberlegtes Verhalten. Wutausbrüche halfen ihr nicht weiter. Wenn sie hier rauswollte, brauchte sie einen Plan. Als sie sich nach dem heruntergefallenen Becher umsah, fiel ihr auf, dass die Deckenkamera hinter der gekachelten Mauer, die das winzige Bad vom Rest des Zimmers abtrennte, nicht zu sehen war. Weder die Toilette noch die Dusche waren von der Kamera einsehbar. Nur das Waschbecken würde man durch die Kameralinse vermutlich sehen können. Nele war erleichtert und zugleich irritiert. Offenbar war der Mann nicht an ihrem Körper interessiert. Aber was hatte er dann mit ihr vor?

      Kurz entschlossen begann sie, ihr Gefängnis zu durchsuchen. Sie schob die Schränke von der Wand, zog Schubladen auf und sah unter dem Teppich und hinter den Wandpostern nach. Sie entdeckte nichts, das ihr irgendwie von Nutzen sein könnte. Obwohl in dem Regal neben Malbüchern auch Bastelbücher lagen, fand sie keine Schere. Das Einzige, was sie entdeckte, war der Lautsprecher. Er verbarg sich hinter dem Puppenregal und war mit einem engmaschigen Drahtgitter geschützt. Immerhin wusste sie jetzt, woher die Stimme kam. Als ihr Blick auf das Tablett mit der Cornflakesschüssel fiel, krampfte sich ihr Magen zusammen. Sie musste etwas essen, sonst würde sie immer schwächer werden. Trotzdem brachte sie es einfach nicht fertig. Sie schob das Tablett mit dem nackten Fuß beiseite. Dann lauschte sie an der Tür. Als sie nichts hörte, legte sie sich flach auf den Bauch. In ihrem Gesicht konnte sie den Luftzug spüren, der durch das bodentiefe Gitter strömte. Die Luft fühlte sich gut an. Nele rutschte näher an die Tür heran und spähte durch das Gitter. Vielleicht konnte sie ja sehen, was sich außerhalb ihres Kerkers befand. Konzentriert verengte sie die Augen. Plötzlich stieß sie einen Schrei aus.

      Jemand stand direkt vor der Tür.

      9

      Seit seinem letzten Besuch hatte sich nichts verändert. Die Müllcontainer quollen über, Sperrmüll stapelte sich auf dem Gehweg, und an den Hauswänden wiederholten sich Tags, die unsichtbare Reviere absteckten. Moses stieg aus dem Wagen. Die vielen Bäume um ihn herum konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Straße im Norden Altonas zu den weniger bevorzugten Wohnadressen der Stadt zählte. Das galt insbesondere für die abgewirtschaftete Siebzigerjahre-Wohnanlage, die sich über den halben Block erstreckte.

      Moses überquerte die Straße und betrat das Wohnhaus durch die verschmierte Glastür, die wie beim letzten Mal nicht verschlossen war. Die beiden Teenager, die in einer Ecke neben den Briefkästen die Köpfe zusammensteckten, waren sichtlich verblüfft, als plötzlich ein groß gewachsener und elegant gekleideter Schwarzer im Treppenhaus stand. Sie ließen die kleinen Plastiktütchen blitzschnell in ihren Hosentaschen verschwinden, dann machte der Größere einen Schritt auf Moses zu. Die dunklen Augen und pechschwarzen Haare verrieten seine arabischen Wurzeln. »Was willst du, Nigga?«, blaffte er Moses an, der fast einen Kopf größer war.

      Moses blieb gelassen. Als Träger des schwarzen Gürtels wäre es ein Leichtes gewesen, sich den Burschen vom Leib zu halten. Selbst wenn der Junge das Messer zücken würde, das Moses in dessen Tasche vermutete. Aber er hatte Wichtigeres vor, als diesen Rotzlöffel übers Knie zu legen. »Ich rate dir, mir sofort aus dem Weg zu gehen«, sagte er in einem eindringlichen, ruhigen Ton. »Es sei denn, du legst Wert darauf, mich auf das Präsidium zu begleiten.«

      Der Junge blickte sich irritiert nach seinem Freund um.

      »Pass auf, Mann.« Sein blonder Kumpel zog ihn am Ärmel. »Das is n Cop!«

      Der Dunkelhaarige musterte Moses von oben bis unten. »Das soll n Cop sein? Never!«

      »Doch! Er gehört zu dem Typen im dritten Stock. Du weißt schon. Also mach keinen Stress.«

      Moses hatte keine Ahnung, woher der Junge das wusste. Offenbar blieb in dieser Wohnanlage nichts unbeobachtet.

      Der Blonde flüsterte seinem aufgeblasenen Freund etwas ins Ohr, woraufhin dieser Moses einen letzten, verächtlichen Blick zuwarf. Dann drängten sich die beiden an ihm vorbei auf die Straße.

      Moses schüttelte den Kopf und starrte für einen Moment auf die zerbeulten Briefkästen, von denen gut die Hälfte offen standen. Die fremdländischen, mit Tesafilm aufgeklebten Namen daran ließen erahnen, dass in diesem Wohnblock praktisch die ganze Welt zu Hause war. Ein nach Urin und Reinigungsmitteln riechender Mikrokosmos. Voll von ethnischen und kulturellen Gräben und umgeben von einer unsichtbaren, kaum überwindbaren sozialen Mauer. Kein Wunder, dass die Jugendlichen, die hier aufwuchsen, zu tickenden Zeitbomben heranwuchsen. Er dachte unweigerlich an Helwig, die in einer ähnlichen Umgebung aufgewachsen war. Es war erstaunlich, dass sie es geschafft hatte, diese Mauer zu überwinden.

      Da er dem zerkratzten Fahrstuhl nicht traute, entschied sich Moses für die Treppe. Im ersten Stock wummerte irgendwo hinter den verschlossenen Türen der Sound eines Computerspiels. Maschinengewehrsalven und Detonationen verwandelten das Treppenhaus in ein imaginäres Schlachtfeld. Woran sich niemand zu stören schien. In der dritten Etage angekommen, bog er in den rechten Teil des Hausflurs und war schnell am Ziel.

      Moses schlug mit der flachen Hand dreimal gegen die Wohnungstür. Nach einer kurzen Pause schlug er noch ein weiteres Mal dagegen. Während er wartete, schrie in dem Apartment gegenüber eine Frau in einer Sprache, die er nicht identifizieren konnte. Im Hintergrund lief offenbar der Fernseher, dann gab es plötzlich einen Rums, als wäre ein Schrank umgefallen. Sekunden später ging die Tür auf. Ein hohlwangiger Mann in einem gestreiften Pyjama kam aus der Wohnung und schlurfte wortlos an ihm vorbei. Moses fragte sich, ob der Mann ihn überhaupt bemerkt hatte. Er hob die Hand, um erneut gegen die Tür zu hämmern, als sie mit einem Mal aufgerissen wurde.

      Im Türrahmen stand ein Hüne mit schulterlanger, platinblonder Dauerwelle und der Figur eines gealterten Boxers, der nicht mehr trainierte. Sein roter Bademantel hing offen über der stark behaarten Brust, zu Moses’ Erleichterung trug er immerhin eine Jogginghose. Das breite Gesicht des Mannes war komplett mit einer weißen Paste beschmiert.

      »Shit!«, entfuhr es Reimann, als er Moses erkannte. Dann drehte er sich um und verschwand in der Wohnung. Moses folgte ihm und schloss die Tür hinter sich. Das kleine Apartment hatte sich nicht verändert. Es war sauber und aufgeräumt, die Einrichtung noch immer gewöhnungsbedürftig. Die Leopardenkissen auf dem lachsfarbenen Sofa und das viele Gold trafen nicht unbedingt Moses’ Geschmack. Ebenso wenig wie das gerahmte Poster der New Yorker Skyline, das es irgendwie in dieses Zeitalter geschafft hatte.

      »Was

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