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Reimann, auch »Bulle« genannt, war in Kiez-Kreisen eine lebende Legende. Seinen Spitznamen hatte er sich in jungen Jahren im Boxring der Ritze verdient, und es gab Zeiten, in denen er unter anderem ein Bordell am Hans-Albers-Platz besessen hatte. Heute bot der in die Jahre gekommene Exzuhälter zahlungskräftigen Touristen private Führungen über die Reeperbahn an. Von soft bis hart, je nach Wunsch und Geldbeutel.

      »Sie haben Kunden?«, fragte Moses, während er die beachtliche Glasfigurensammlung auf dem Sideboard begutachtete. »Um diese Tageszeit?«

      Dem Plätschern nach zu urteilen, wusch sich Reimann das Gesicht. »Vorher gibt es noch eine Stadtrundfahrt«, rief er dann. »Und anschließend ein Candle-Light-Dinner! Ich …«, seine Stimme verlor sich kurz im Handtuch, »… neu im Extrapaket!«

      Reimann kam aus dem Bad und grinste breit. »Die Konkurrenz schläft nicht. Ein Unternehmer wie ich muss innovativ sein.« Sein gerötetes Gesicht glänzte, was die vielen Falten nur noch tiefer erscheinen ließ. Das Nachtleben, gelegentliche Gefängnisaufenthalte und unzählige Stunden im Solarium hatten unübersehbare Spuren hinterlassen. Was seiner Eitelkeit jedoch keinen Abbruch zu tun schien. Er rauschte an Moses vorbei und hüllte ihn in eine Wolke diverser Duftwässerchen. »Also, was wollen Sie? Ich schulde Ihnen nichts mehr!« Er stemmte die Fäuste in die Seite und sah Moses grimmig an.

      »Ich weiß, dass wir quitt sind«, sagte Moses. »Trotzdem können Sie mir vielleicht helfen. Sagen wir, um der alten Zeiten willen.«

      Vor Jahren hatte er Reimann vor einer unrechtmäßigen Mordanklage bewahrt. Seine Freundin, eine Prostituierte, war erstochen aufgefunden worden, und sowohl die Indizien als auch der Staatsanwalt hatten gegen Reimann gesprochen. Für Moses, der damals gerade erst bei der Mordkommission angefangen hatte, war es einer seiner ersten Fälle gewesen. Es war ihm gelungen, eine Kollegin der Toten als wahre Täterin zu überführen. Seitdem gehörte der ehemalige Bordellkönig zu Moses’ persönlichem Kontakt-Netzwerk, das er selbst vor seinen Kollegen geheim hielt.

      »Ich soll Ihnen einen Gefallen tun?«, stöhnte Reimann. »Das bringt mir doch wieder nichts als Ärger.« Er ging ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Moses überlegte, sich auf das lachsfarbene Sofa zu setzen, blieb dann aber doch stehen. »Wer betreibt im Moment das Geschäft mit den Minderjährigen?«, fragte er laut.

      »Keine Ahnung«, kam es aus dem Schlafzimmer zurück.

      »Ach kommen Sie! Wer zieht da momentan die Fäden?«

      Moses widerstrebte es zutiefst, an diese dunkle Seite seiner Heimatstadt auch nur zu denken. Die Kinderprostitution war wie ein bösartiges Krebsgeschwür. Sie ließ sich allenfalls eindämmen, ausmerzen ließ sie sich nie. Es war schwer, sich damit abzufinden. Moses trat an das Sideboard und nahm einen kitschigen Kristallbären in die Hand. Unweigerlich hatte er wieder das tote Mädchen vor Augen, die lebensgroße Puppe in dem Koffer.

      »Ich bin schon lange raus«, sagte Reimann laut. »Außerdem habe ich nie mit Kindern zu tun gehabt. Bei mir war immer alles legal. Das wissen Sie doch.«

      »Ich behaupte ja gar nichts anderes«, sagte Moses. Er stellte die Glasfigur an ihren Platz zurück. »Aber Sie sind immer noch auf dem Kiez unterwegs. Sie kennen die Leute, hören Gerüchte …«

      Reimann kam fertig angezogen aus dem Zimmer. Er sah aus wie ein Relikt aus den Achtzigerjahren. Er trug mit Strass besetzte Cowboystiefel, eine knallenge Bluejeans und ein halb zugeknöpftes gelbes Hemd, das den Blick auf seine Brustbehaarung freigab. »Seitdem die Albaner den Kiez übernommen haben, ist es anders als früher«, sagte er. Er entnahm einer Schatulle eine Goldkette und legte sie an. »Ich halte meinen Arsch lieber raus. Dat is’ gesünder.«

      Moses zog ein Foto des toten Mädchens hervor und hielt es Reimann unter die Nase. »Vielleicht ist Ihnen die junge Frau hier ja trotzdem schon mal zufällig begegnet. Auf einer Ihrer Touren vielleicht. Sie sind immerhin jede Nacht unterwegs.«

      Reimann warf einen schnellen Blick auf das Foto. Er verzog das Gesicht. »Wie alt ist die Lütte?«

      »Vierzehn oder fünfzehn. Haben Sie das Mädchen schon mal gesehen?«

      Reimann schüttelte den Kopf. »Wo wurde sie gefunden?«

      »Am Elbstrand. In einem alten, mit roten Kissen und Plüschtier ausstaffierten Überseekoffer.«

      Reimann nahm seine Rolex vom Tisch und schloss das Armband um sein Handgelenk.

      »Rote Kissen und Plüschtier?« Er lachte trocken. »Dann hat es ganz sicher nicht mit dem Kiez zu tun. Wenn da etwas mit einem Freier schiefgelaufen ist, betten sie die Mädchen nicht auf Kissen. Die werfen die Kleine weg und besorgen sich Nachschub. Die Zeiten sind nicht mehr wie früher, wo die Tillen Kapital waren, das betüdelt werden musste.«

      »Das Mädchen war ausstaffiert wie eine Puppe«, sagte Moses. »Vielleicht bringt Sie das ja auf eine Idee. Denken Sie nach: Wer könnte so was im Angebot haben?«

      »Ich weiß es wirklich nicht!«, sagte Reimann abwehrend.

      »Aber Sie könnten sich für mich ein wenig umhören, oder nicht? Dann hätten Sie was gut bei mir …«

      Reimann fuhr sich mit den Fingern durch die Dauerwelle. »Ich hab schon ziemlich viel gut bei Ihnen …«

      Moses steckte das Foto wieder ein. »Ich will nur wissen, wer das getan hat. Und für Sie ist es ein Leichtes, Ihre Kontakte zu nutzen. Vielleicht gibt es ja einen neuen Player in der Szene.«

      Reimann warf einen nervösen Blick auf seine goldene Armbanduhr. »Okay, okay! Wenn es Sie glücklich macht, höre ich mich um. Aber jetzt muss ich los. Die Stretchlimo wartet unten, und die alten Muddern stehen garantiert schon vorm Hotel.«

      Moses lachte auf. »Alte Muddern?«

      »Ein Kaffeekränzchen vom Land.« Reimann zuckte mit den Schultern. »Soweit ich weiß, ist eine von denen Witwe geworden. Dat wollen die heute feiern.«

      Moses hob die Augenbrauen. Mitunter trieb die Liebe seltsame Blüten. Er hoffte sehr, dass sie nie an den Punkt kommen würden, an dem Juliane oder er ein Freudenfest veranstalteten, wenn dem anderen etwas zustieß.

      Er verabschiedete sich und verließ die Wohnung. Im Grunde hatte er sich nur eine Bestätigung holen wollen, und die hatte er bekommen. Sein Gefühl hatte ihm von Anfang an gesagt, dass die Tote nicht zu den vielen jungen Mädchen aus Osteuropa gehörte, die tagtäglich den Versprechen der skrupellosen Schlepper Glauben schenkten und inmitten des vermeintlichen Paradieses im Elend der Prostitution landeten. Also würde er außerhalb des Milieus nach der Lösung dieses bizarren Falls suchen müssen. Was wiederum, wie er sich eingestehen musste, die Aufgabe nicht leichter machte. Hamburg war eine Millionenmetropole, und irgendwo da draußen gab es jemanden, den er finden musste.

      Jemand, der ein junges Mädchen als Puppe verkleidete, sie in eine Kiste steckte und dann in die Elbe schmiss.

      10

      Als Moses auf die Straße trat, parkte eine Stretchlimousine in zweiter Reihe vor dem Haus. Die Luxuskarosse wirkte in der Umgebung ebenso deplatziert wie der Fahrer, der an der Kühlerhaube lehnte und an einer E-Zigarette sog. Er trug eine dunkelgrüne Livree samt Schirmmütze und weißen Handschuhen. Obwohl Moses das Gesicht nur von der Seite sehen konnte, glaubte er es zu erkennen. Er kam aber nicht darauf, woher.

      Moses stieg in seinen Wagen und rief im Präsidium an. Viteri nahm sofort ab. »Gibt es Neuigkeiten?«, erkundigte sich Moses.

      »Die gibt es«, sagte Viteri triumphierend. »Die Kollegen haben sich das Kleid und die anderen Sachen noch einmal vorgenommen. Und bingo: Sie haben ein fremdes Haar gefunden. Es muss aus irgendwelchen Gründen bislang übersehen worden sein.«

      »Und es gehört sicher nicht dem Mädchen?«

      »Die KTU sagt Nein.«

      Immerhin. Moses fuhr sich mit der Hand über den Nacken. Jetzt brauchte er nur noch einen Verdächtigen. Das Problem war allerdings, dass er nicht wusste, wie er ihn finden sollte. Und solange er ihn nicht hatte, nutzte ihm auch das Haar nichts.

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