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auf. »Und?«

      »Dr. Kleinhues bittet um Rückruf.«

      »Mehr hat er nicht gesagt?«

      »Nein.«

      Moses sah auf die Uhr. Siebzehn Uhr. Wahrscheinlich würde er Kleinhues noch in der Gerichtsmedizin antreffen. »Also schön«, sagte er. »Ist Helwig in der Nähe?«

      »Sitzt an ihrem Platz. Sieht die alten Mordfälle durch.«

      »Sagen Sie ihr, wir treffen uns in fünfzehn Minuten in der Gerichtsmedizin.«

      Moses beendete das Gespräch. Er glaubte kaum, dass es Parallelen zu anderen Fällen gab. Deshalb war es besser, wenn sie ihn begleitete. Er manövrierte den Wagen aus der Parklücke und schaltete die Scheibenwischer ein. Es hatte erneut zu regnen begonnen. Über die Ringstraße nach Eppendorf war es nicht weit, und als er in Hoheluft-West an dem unscheinbaren Haus vorbeifuhr, in dessen Keller sich das Birdland vor dem Mainstream verbarg, wurde ihm schmerzlich bewusst, dass er schon lange keinen guten Livejazz mehr genossen hatte. In dem engen Kellerclub, in dem die schweren Holzmöbel Hamburger Musikgeschichte atmeten, hatte Juliane zum ersten Mal Bekanntschaft mit Jazz gemacht. Dass sie ebenso wie er für diese Musik entflammt war, ließ sich allerdings nicht gerade behaupten.

      Er setzte den Blinker und bog in die Hoheluftchaussee. Nur wenige Minuten später hielt er auf dem Parkplatz der Rechtsmedizin. Inzwischen trommelte der Regen einen wilden Rhythmus auf das Autodach, und bevor er ausstieg, schlug er den Kragen seines Mantels hoch. Die kurze Strecke bis zum Eingang der Rechtsmedizin legte er im Laufschritt zurück.

      Im Foyer erwartete ihn eine Überraschung. Helwig war bereits da. Obwohl sie den kürzeren Weg gehabt hatte und er ihren rasanten Fahrstil kannte, fragte er sich dennoch, wie sie es so schnell aus dem Präsidium hierher geschafft hatte.

      Helwig grinste nur.

      Moses schüttelte die Regentropfen vom Mantel. »Haben Sie in den alten Fällen etwas finden können?«

      »Nichts. Auch bei den Sexualstraftätern der Kollegen lässt sich nichts Ähnliches finden. Offenbar haben wir es mit einem Ersttäter zu tun.«

      »Sie gehen also immer noch davon aus, dass es sich um Mord handelt?«

      »Ein Selbstmord mit anschließender liebevoller Entsorgung durch die trauernden Angehörigen? Ach, kommen Sie! Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass es kein Suizid war.« Sie sah ihn eindringlich an, und Moses konnte ihr nicht widersprechen. »Das war das Werk eines Psychopathen. Ich kann es fühlen.«

      »Sie können es fühlen?«, fragte Moses mit einem süffisanten Lächeln.

      »Machen Sie sich nicht über mich lustig«, brummte Helwig. »Sie predigen doch immer, dass man ein Gespür entwickeln muss.«

      Sie hatte ihn kalt erwischt. Moses nickte langsam. »Ich glaube auch, dass wir es mit einem Mord zu tun haben. Gehen wir. Mal sehen, was die Obduktion ergeben hat.«

      Nach ein paar Metern bemerkte Moses, dass Helwig ihm nur widerstrebend folgte. »Was ist?«

      Sie nagte an ihrer Unterlippe. »Ich … kann ich nicht hier warten?«

      »Sie wollen doch sonst immer dabei sein. Was glauben Sie, weshalb ich Sie hergebeten habe?«

      Helwig holte tief Luft. Dann deutete sie mit dem Kinn den Gang entlang. »Das da drinnen muss ich nicht sehen. Die Vorstellung reicht.«

      Moses sah sie verdutzt an. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. »Soll das heißen, Sie waren noch nie in der Rechtsmedizin?«

      »Nur in der Ausbildung. Aber das ist ewig her. Und war auch kein besonders schönes Erlebnis.«

      Moses erinnerte sich daran, wie sich Helwig am Strand übergeben hatte. Offenbar war sie doch nicht so abgebrüht, wie sie sich nach außen hin gab. Was er irgendwie auch beruhigend fand. Dennoch wurde es für sie höchste Zeit, über ihren Schatten zu springen.

      »Ich fürchte, das gehört zu Ihrem Job dazu.« Moses ging weiter den Gang entlang. »Aber keine Sorge. Es riecht gar nicht so schlimm, wie immer behauptet wird. Nach ein paar Minuten hat man sich an alles gewöhnt.«

      »Und was ist bis dahin?«, erwiderte Helwig, die ihm mit vor der Brust verschränkten Armen folgte.

      »Sie werden es schon schaffen.«

      Als sie die Leichenhalle durchquerten, in der die Toten in deckenhohen Kühlschränken gestapelt auf ihr weiteres Schicksal warteten, richtete Helwig ihren Blick starr auf den Schritt ihrer Springerstiefel. Moses wurde bewusst, wie vertraut ihm dieser Ort mittlerweile war. Im Grunde war es absurd: Als Kind war er nur knapp dem Tod entronnen. Er war auf einem Schiff nach Deutschland gekommen, und das Grauen, das er in seiner frühen Kindheit erlebt haben musste, geisterte noch immer in Splittern durch seinen Kopf. Ihm war mit seiner Ankunft in Hamburg ein neues Leben geschenkt worden, und doch war ihm nichts Besseres in den Sinn gekommen, als ausgerechnet diesen Ort der Toten zu einer Art zweitem Wohnzimmer zu machen. Aber vielleicht war er auch genau deswegen bei der Mordkommission. Weil er überlebt hatte.

      Als Moses schließlich die Tür zum Obduktionssaal aufstieß, sog Helwig hörbar die Luft ein.

      Moses hielt ihr die Tür auf. »Sehen Sie, alles halb so wild.«

      Moses sah sich um. Der blitzsaubere Saal glich eher einer aufgeräumten Krankenstation als einer blutigen Schlachtbank, was es Helwig etwas leichter machen dürfte. Außerdem war er leer. Es waren weder Leichen noch ein Arzt zu sehen.

      »Vermutlich ist Dr. Kleinhues in seinem Büro«, sagte Moses. Er hoffte, dass sein Freund nicht schon früher Feierabend gemacht hatte. »Kommen Sie.«

      Als sie auf dem Flur einem Institutsangestellten in einem Kittel begegneten, hielt Moses ihn an. »Ist Dr. Kleinhues noch da?«

      Der junge Mann deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Der ist in seinem Gruselkabinett.« Gelangweilt ging er weiter.

      »Was meint er denn mit Gruselkabinett?«, fragte Helwig vorsichtig, nachdem der Mann um die Ecke verschwunden war.

      Moses lächelte. Im Grunde fand er die unerwartete Seite, die seine toughe junge Kommissarin an den Tag legte, sehr sympathisch. Es machte sie zugänglicher und, wie er sich eingestehen musste, auch irgendwie femininer.

      »Sagen wir mal so«, setzte Moses an. »Der Herr Doktor verfügt über einen etwas eigenwilligen Geschmack. Sie werden es gleich selbst sehen.«

      Helwig machte ein Gesicht, als hätte man ihr soeben einen Zahn gezogen.

      Kurz darauf betraten sie Kleinhues’ Büro. Es war mehr eine Asservatenkammer mit Schreibtisch und Aktenschrank, denn den meisten Platz nahm ein Regal mit Glasgefäßen ein, in denen menschliche Organe schwammen. Von zerschnittenen Augenpaaren über zerschossene Herzmuskel bis hin zu einer von Quecksilber zerfressenen Leber – Kleinhues sammelte nicht nur E-Gitarren, sondern auch gerichtsmedizinische Kuriositäten. Moses hatte sich längst an das exzentrische Hobby seines Freundes gewöhnt, beziehungsweise er sah so gut es ging darüber hinweg. Seiner jungen Kollegin hingegen stockte beim Anblick der makabren Sammlung offenbar der Atem. Zuerst riss sie ungläubig die Augen auf, dann sah sie hastig in Richtung Fenster.

      Kleinhues, der in einem grünen Kittel vor dem Computer saß, drehte sich um. »Sieh mal einer an«, begrüßte er Helwig sichtlich erfreut. Moses erinnerte sich, dass sich die beiden bereits von einem Gerichtstermin kannten. »Schön, dass Sie mich mal besuchen!«

      Helwig lächelte den schlaksigen Endvierziger tapfer an.

      Wie immer hatte er tiefe Ringe unter den Augen, die entweder von seinen Nachtschichten in der Rechtsmedizin oder von seinen Auftritten als Frontmann der polizeieignen Heavy-Metal-Band stammten.

      Zu Moses sagte er: »Bin gleich fertig. Ich schließe nur schnell den Bericht ab …«

      Er wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Helwig und Moses blieben stehen, denn Sitzplätze gab es nicht.

      »Du wolltest mich sprechen«, sagte

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