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Er wandte sich an Helwig. »Theoretisch haben Sie recht. Alle Flüsse und Kanäle in Hamburg münden letztendlich in die Elbe.«

      »Vielleicht stammt das Mädchen ja vom Kiez«, sagte Elvers. »Es wäre nicht die erste minderjährige Prostituierte.«

      »Das stimmt«, gab Moses zu. »Aber ich habe das Gefühl, dass sie nicht aus dem Milieu kommt. Ich werde mich trotzdem ein wenig umhören. Vielleicht liege ich ja falsch.« Er griff nach seinem Kaffee, der inzwischen kalt war. Verärgert stellte er die Tasse zurück auf den Tisch.

      »Möglicherweise war es gar kein Gewaltverbrechen«, rief Leitner.

      Helwig verdrehte die Augen, aber Leitner sprach unbeirrt weiter. »Vielleicht ist die Kleine an einer Überdosis gestorben, oder sie hat Schlaftabletten genommen, und jemand hat nur die Leiche entsorgt.«

      »Komm schon, Leo!« Helwig zeigte auf die Fotos am Whiteboard. »Mit Puppenkleidchen und geschminkt wie eine Lolita? In einem antiken Koffer? So was macht nur ein Psychopath. Und es würde mich nicht wundern, wenn er nicht zum ersten Mal getötet hat. Das da verlangt einiges an Übung und Kenntnis.«

      Die gleiche Befürchtung trieb auch Moses um, seit er am Strand die Eisenkette gesehen hatte, mit der der Koffer beschwert gewesen war. Wer auch immer den Koffer versenkt hatte, wollte nicht, dass sein grausiger Inhalt jemals gefunden wurde. Und das warf zwangsläufig die beunruhigende Frage auf, ob es nicht noch mehr Koffer auf dem Grund der Elbe gab. Koffer, die niemals wieder auftauchen würden.

      Leitner gab sich nicht so leicht geschlagen. »Zugegeben, die Art und Weise, wie die Leiche beseitigt wurde, ist ungewöhnlich. Auch ihre Aufmachung. Aber nicht jeder Psychopath ist auch gleich ein Mörder, liebe Katja.«

      Als Helwig etwas entgegnen wollte, ging Moses dazwischen. »Noch einmal: Lassen Sie uns die Ergebnisse der Obduktion abwarten.« Er richtete sich an Elvers. »Trotzdem kann es nicht schaden, wenn wir uns die Akten ansehen. Vielleicht gibt es ja doch Parallelen zu anderen Mordfällen, die von dem Computerprogramm nicht erfasst werden. Könnten Sie das übernehmen?«

      Elvers nickte. Moses sah zu Leitner. »Und Sie finden bitte heraus, woher dieser antike Koffer stammt. Vielleicht erkennt ihn jemand wieder. Er ist bislang unsere einzige konkrete Spur.«

      Leitner riss entsetzt die Augen auf. »Sie wollen, dass ich alle Antiquitätengeschäfte der Stadt abklappere?«

      »So viele werden es schon nicht sein«, sagte Moses. »Frau Helwig kann Sie ja dabei unterstützen.«

      Helwig gab einen missmutigen Laut von sich.

      Moses hob eine Augenbraue. »Haben Sie irgendwelche Einwände?«

      »Das ist reine Zeitverschwendung«, sprudelte es aus ihr heraus. »Vielleicht wurde der Koffer online gekauft. Das ist viel wahrscheinlicher. Oder er stand jahrelang in einem Keller rum.«

      »Im Augenblick haben wir nicht viele Alternativen«, sagte Moses ernst. »Abgesehen davon besteht unser Beruf nun mal aus harter Arbeit und einer Portion Glück.«

      »Und was mache ich?«, fragte Viteri.

      »Sie nehmen sich am besten den Stoffhasen vor, der in dem Koffer gelegen hat. Versuchen Sie herauszufinden, wo es den zu kaufen gibt.«

      »Geht klar!«

      »Ich hatte auch mal so ein Prinzessinnenkleid.«

      Alle sahen Elvers erstaunt an.

      »Als Kind, meine ich natürlich«, sagte sie ein wenig verlegen. »Was ich eigentlich sagen will: Das Kleid und das Alter des Mädchens passen nicht zusammen. Sieht irgendwie aus, als hätte das Mädchen das nicht freiwillig angezogen.« Sie klemmte sich eine Locke hinter das Ohr.

      »Das finde ich auch«, sagte Helwig. »In dem Alter hätte ich so einen Fummel auf keinen Fall freiwillig angezogen. Von dem Plüschtier ganz zu schweigen!«

      Moses rieb sich das Kinn. Der Widerspruch zwischen dem Alter der Toten und ihrer Aufmachung war ihm schon am Elbufer ins Auge gestochen. Als hätte jemand versucht, die Tote jünger zu machen, als sie in Wirklichkeit war.

      Er lenkte die Diskussion auf ein Thema, das ihn ebenfalls vom ersten Augenblick an beschäftigte. »Es gibt etwas, worüber wir noch gar nicht gesprochen haben«, setzte er an, aber Helwig kam ihm zuvor:

      »Die Wunde! Die passt überhaupt nicht ins Bild.«

      »Richtig«, sagte Moses. »Woher stammt diese Verletzung? Und steht sie in einem Zusammenhang mit dem Tod des Mädchens?«

      »Wir sollten eine Anfrage an die Krankenhäuser rausgeben«, meinte Elvers. »Ob sie in den letzten Wochen eine Verletzung dieser Art behandelt haben. Wenn Sie wollen, übernehme ich das.«

      »Sehr gut.« Moses blickte in die Runde. »Gibt es noch Fragen?« Als eine Reaktion ausblieb, stand er auf. »Gut, dann legen Sie los.«

      Leitner, Elvers und Viteri sammelten ihre Notizen ein und erhoben sich ebenfalls.

      »Und was haben Sie vor?«, erkundigte sich Helwig, die am Tisch sitzen geblieben war.

      Moses hielt inne. »Ich werde mich ein wenig umhören. Nur um sicherzugehen.« Dann ließ er die junge Kommissarin ohne eine weitere Erklärung allein.

      8

      Ihr Zeitgefühl hatte Nele längst verloren. War es Tag oder Nacht? Sie wusste es nicht. Es musste Stunden her sein, seitdem ihr unsichtbarer Entführer sie gezwungen hatte, das Kleid anzuziehen. Sie schaute an sich herunter. Bislang hatte sie nicht gewagt, sich wieder umzuziehen. Obwohl sie glaubte, allein zu sein. Zumindest hatte sich die Kamera neben der Deckenlampe schon lange nicht mehr bewegt. Trotzdem war sie auf der Hut. Sie hatte Angst, etwas falsch zu machen, denn dann würde sie der Irre wieder mit diesem grausamen Pfeifton quälen.

      Wenn sie doch nur ihr Handy hätte! Der Wahnsinnige hatte es ihr natürlich abgenommen. Wann, daran konnte sie sich nicht erinnern. Sie wusste nur noch, dass sie auf dem Nachhauseweg vom Ballettunterricht eine SMS bekommen hatte. Darin hatte gestanden, dass überraschend ein Stipendienplatz in New York frei geworden sei und sie deshalb sofort zum Vortanzen erscheinen sollte. Sie wusste noch, wie aufgeregt sie plötzlich gewesen war. Sie hatte das Fahrrad abgestellt und war mit der U-Bahn zu der Adresse gefahren, wo in einem Hinterhof ein Auto auf sie gewartet hatte. Im Wagen war dann alles sehr schnell gegangen. Jemand hatte ihr ein feuchtes Tuch auf das Gesicht gedrückt, das entsetzlich nach Chemikalien gestunken hatte. Danach war alles schwarz gewesen.

      Nele kauerte mit angezogenen Beinen auf dem Kinderbett, auf dem sie wieder zu sich gekommen war. Der Gedanke an die Bereitwilligkeit, mit der sie sich in die Fänge eines Psychopathen begeben hatte, war unerträglich. Sie versuchte sich vorzustellen, was gerade außerhalb dieser grässlichen Wände geschah. Ihre Eltern würden bestimmt mittlerweile nach ihr suchen. Ebenso wie die Polizei. Aber konnte man sie überhaupt finden in diesem Kellerloch? Ihr Blick wanderte über den flauschigen Kinderteppich, die rosafarbenen Möbel und die Elfenposter an den Wänden. Schließlich blieb er an den vielen Puppen im Regal am Fußende des Bettes hängen, die mit toten Augen zurückstarrten. Was war, wenn sie sich gar nicht mehr in Hamburg befand? Wie lange sie bewusstlos gewesen war, wusste sie schließlich nicht. Vielleicht hatte der Verrückte sie ja stundenlang durch die Gegend gefahren. Über irgendeine Grenze. Sie betete, dass dies nicht der Fall war.

      Nele spürte, wie die Augenlider trotz des hellen Lichts schwer wurden, aber sie wollte auf keinen Fall wieder einschlafen. Das letzte Mal, als sie eingeschlafen war, hatte beim Aufwachen an der Stahltür ein Tablett mit einer Schale Schokocornflakes darauf gestanden. Der Verrückte musste es durch die bodentiefe Gitterklappe in der Tür geschoben haben. Oder er hatte die Tür sogar geöffnet. Sie hatte geschlafen und nichts bemerkt. Das durfte ihr nicht noch einmal passieren! Es war eine Chance gewesen, die sie verpasst hatte.

      Vorsichtig streckte Nele die steifen Beine aus. Als das Blut in ihren Adern wieder frei zu zirkulieren begann, hatte sie das Gefühl, als würden Tausende Ameisen über ihre Haut krabbeln. Sie sehnte sich nach ihrer Mutter. Jetzt bereute Nele, dass sie schon wieder gestritten hatten, als sie sich das letzte

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