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er die auf Stelzen gebaute Rettungsstation fast erreicht hatte, löste sich aus ihrem Schatten ein schwarzes Etwas. Eine haarige Bestie schoss mit gebleckten Zähnen auf ihn zu. Moses verlagerte sein Gewicht, um ihr notfalls einen gezielten Tritt zu verpassen. Aber dann bremste der schwarze Schäferhundmischling unmittelbar vor ihm ab. Er setzte sich, legte den Kopf schief und sah Moses hechelnd an.

      »Nostradamus! Bei Fuß!«

      Der Hund legte den Kopf noch schiefer. Dann spurtete er zurück zu seinem Herrchen.

      Moses atmete langsam wieder aus. Zornig legte er die letzten Meter zurück und trat unter das Stelzenhaus. »Sie will nur spielen«, sagte der Hundebesitzer ungerührt, ein blasser Mittvierziger mit randloser Brille. Er nahm den Schäferhund endlich an die Leine und kraulte ihm den Nacken. Moses hätte ihn zu gern auf die im Naturschutzgebiet herrschende Leinenpflicht hingewiesen. Und seinem Hinweis mit einer Verwarnung Nachdruck verliehen. Aber dazu bekam er keine Gelegenheit.

      »Sind Sie der, auf den wir die ganze Zeit warten mussten?«, rief der ältere Herr, der mit seiner Frau bei Oberkommissar Leitner stand. Der Mann stützte sich auf zwei Nordic-Walking-Stöcke und war von Kopf bis Fuß wie der Teilnehmer eines Survivalcamps gekleidet. Feste Wanderschuhe, Trekkinghose und ein olivgrünes Fieldjacket samt Hut. Um seinen Hals baumelte ein dickes Fernglas. Auch seine weißhaarige Frau war ausstaffiert, als ginge es an diesem Teil des Elbufers um das nackte Überleben. Allerdings wirkte die zierliche Person in dem martialischen Outfit ein wenig verloren. Nicht nur die grobe Wollmütze war ihr eindeutig zu groß.

      Ihr Ehemann zielte mit einem seiner Stöcke auf Moses’ Brust: »Sie sind also hier der Chef?«

      »Das ist korrekt.« Moses zückte seinen Dienstausweis.

      »Dann will ich mich beschweren!«, polterte der Alte los, ohne einen Blick auf den Ausweis zu werfen. »Dieser süddeutsche Smeerbüdel da hält uns seit Stunden gefangen!« Er deutete auf Oberkommissar Leitner, der nur die Augen verdrehte.

      »So lange warten wir nun auch wieder nicht«, mischte sich der Hundehalter ein. »Und wenn man bedenkt, um was es hier geht, fällt das wohl kaum ins Gewicht.« Er warf einen Blick in die Richtung, wo gerade der Abtransport der Leiche vorbereitet wurde.

      »Er hat recht, Horst.« Die alte Frau versuchte ihren aufgebrachten Ehemann zu besänftigen und legte ihm eine Hand auf den Arm. Sie wirkte untröstlich. »Denk doch an das arme Kind. Das ist alles so schrecklich.«

      »Nicht nur das«, brummte ihr Mann. »Mittlerweile herrschen hier ja Zustände wie bei den Hottentotten.«

      Moses blieb gelassen. »Dann waren Sie also schon einmal bei den ›Hottentotten‹ und kennen sich gut mit ihnen aus?«

      »Nein!« Der Alte machte eine wegwerfende Handbewegung. »Selbstverständlich nicht.«

      »Dann können wir uns ja wichtigeren Dingen zuwenden. Je schneller wir fertig werden, desto eher können Sie nach Hause gehen.« Moses sah dem Ehepaar und dem Hundebesitzer in die Augen. »Sie sind Zeugen in einem Fall, bei dem ein junger Mensch sein Leben verloren hat. Deshalb benötigen wir jetzt Ihre Hilfe. Ihre Daten hat sich mein Kollege ja bereits notiert. Erzählen Sie mir bitte genau, was heute Morgen passiert ist.«

      »Das haben wir diesem Jungspund doch schon alles gesagt!«, beschwerte sich der Alte.

      »Dann tun Sie es eben noch einmal«, sagte Moses scharf. Er hatte nasse Füße und seine Geduld war allmählich erschöpft. »Ansonsten können wir dieses Gespräch auch gerne im Präsidium fortsetzen. Die Entscheidung liegt ganz bei Ihnen.«

      Bevor ihr Mann etwas erwidern konnte, ging die Frau dazwischen. »Sie müssen meinen Mann entschuldigen, Herr Kommissar.« Sie knetete ein zerknülltes Stofftaschentuch in den Händen. »Uns nimmt das Ganze sehr mit, wissen Sie? Schließlich erlebt man so etwas Furchtbares nicht jeden Tag …« Sie stockte und presste die Lippen aufeinander.

      Moses versuchte, behutsam zu klingen. »Es ist sehr wichtig, dass Sie mir jetzt alles erzählen. Soweit ich weiß, haben Sie mit Ihrem Mann den Koffer aus dem Wasser gezogen. Ist das richtig?«

      Die Frau nickte. »Wir wohnen nicht weit von hier. Und wir gehen hier seit fünfzehn Jahren jeden Morgen spazieren. Bei jedem Wetter!« Sie sah Moses an, als erwartete sie eine Reaktion, aber als diese ausblieb, fuhr sie fort. »Jeden Morgen gehen wir hier am Strand spazieren. Und heute haben wir von der Landungsbrücke aus den Koffer im Wasser gesehen.«

      »Von der Landungsbrücke?«, fragte Moses. »Dann müssen Sie aber bemerkenswert gute Augen haben, die ist ja einige Hundert Meter entfernt.«

      »Wir sind Vogelkundler«, mischte sich ihr Ehemann ein. Er tippte auf das große Fernglas, das um seinen Hals hing.

      Seine Frau nickte entschieden. »Wir beobachten Vögel. Und dabei hat mein Mann den Koffer gesehen. Er lag noch halb im Wasser.«

      »Und dann sind Sie rübergelaufen, haben ihn herausgezogen und geöffnet?«, hakte Moses nach.

      Die alte Frau nickte wieder und tupfte ihre Augenwinkel mit dem Stofftaschentuch.

      »Darf ich fragen, wie Sie das Vorhängeschloss an der Kette geöffnet haben?«

      »Hiermit!« Die Frau schniefte, griff unter ihre Wollmütze und zog eine Haarnadel aus ihrem schlohweißen Haarknoten. Man konnte erkennen, dass sie wieder gerade gebogen worden war. »Es ist ein ziemlich altes Schloss. Solche Dinger haben wir schon als Kinder geknackt.« Ihre Elendsmiene wurde von einem kurzen, entschuldigenden Lächeln unterbrochen.

      »Strandgut gehört dem, der es findet!«, rief der Mann resolut. »Das ist ein uraltes Gesetz!«

      »Das klären wir später«, sagte Moses scharf. Er wandte sich wieder an die Frau. »Fahren Sie bitte fort.«

      »Wir waren nur neugierig«, versicherte diese eilig. »Wir wollten nur wissen, was in dem Koffer ist, Herr Kommissar! Deshalb haben wir die Kette abgemacht. Wir haben hineingesehen, und da … da lag dieses Mädchen.« Wieder schossen ihr Tränen in die Augen. Zu Moses’ Überraschung nahm ihr Mann sie liebevoll in den Arm.

      »Und danach?«, fragte Moses. »Was haben Sie dann gemacht?«

      »Wir haben alles stehen und liegen gelassen und wollten Hilfe rufen«, sagte der Rentner. »Dummerweise habe ich mein Handy vergessen, aber zum Glück kam der junge Mann hier vorbei.« Er nickte zum Hundebesitzer.

      »Und ich habe Sie dann angerufen«, bestätigte dieser. »Die beiden Herrschaften kamen schreiend auf mich zugerannt. Nachdem sie mir erzählt haben, was sich in dem Koffer befindet, habe ich den Notruf gewählt.«

      Moses nickte. »Wohnen Sie auch hier in der Nähe?«

      »Ja, direkt in Rissen. Ich gehe hier oft mit dem Hund spazieren.« Das Tier stupste ihn ungeduldig ans Knie. »Sonst weiß ich nichts. Die beiden kamen auf mich zu, und ich habe Sie benachrichtigt. Das ist alles. Aber das habe ich Ihrem Kollegen schon gesagt.« Sein Blick wanderte zu dem Zelt am Strand. »Zum Glück hab ich es nicht selbst gesehen. Ist es wirklich ein totes Mädchen?«

      »Es sieht ganz danach aus«, sagte Moses nüchtern. »Deshalb möchte ich Sie bitten, sich uns weiterhin zur Verfügung zu halten.« Er wandte sich wieder an das Rentnerpaar. »Das gilt natürlich auch für Sie. Wir werden Sie noch ins Präsidium bitten müssen, um Ihre Aussage zu Protokoll zu nehmen.«

      »Ich dachte, deswegen haben wir so lange auf Sie gewartet. Damit wir das nicht machen müssen!« Der Alte klapperte aufgebracht mit seinen Wanderstöcken.

      »Sie müssen nicht sofort mitkommen, aber Sie erhalten in jedem Fall noch eine Aufforderung. Danke für Ihre Mithilfe.« Mit diesen Worten beendete Moses das Gespräch und trat mit Leitner ein paar Schritte zur Seite. »Haben Sie Namen und Adresse der Leute notiert?«

      »Habe ich.« Leitner zwinkerte mit seinen wachen kastanienbraunen Augen und klopfte auf das Notizbuch in der Brusttasche seines Hemdes.

      Moses nickte zufrieden. Leitner war schon ein paar Jahre in seinem Team, und die Zusammenarbeit war nicht immer einfach gewesen. Er hatte

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