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Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften
Год выпуска 0
isbn 9788075830890
Автор произведения Edith Stein
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Wir wurden zunächst in den Speisesaal geführt und erhielten ein kräftiges Mittagessen. Die meisten Schwestern hatten schon gespeist, nur ein paar Nachzügler waren noch da. Sie fragten uns, ob wir ihnen Post mitgebracht hätten. Tatsächlich hatte uns Fräulein Stein Briefe mitgegeben. Wir legten sie auf den Flügel, wo sich dann die Empfängerinnen das Ihre heraussuchten. Diese Briefbeförderung durch hin- und herreisende Schwestern war eine stehende Einrichtung, weil auf dem gewöhnlichen Wege viel verlorenging oder wochenlang aufgehalten wurde. Es war allerdings streng verboten, auf diese Weise die Zensur zu umgehen, die zwischen den verbündeten Staaten bestand. Aber offenbar kümmerte sich niemand um dieses Verbot.
Wenn ich mich recht erinnere, wurde uns nach dem Mittagessen eine Schlafstelle angewiesen. Irgendeiner Helferin auf dem Gang wurde zugerufen, sie solle mich mitnehmen. Sie zeigte mir in einem großen Schlafsaal ein freies Bett. Das sollte ich mir zurechtmachen. Außerdem sagte sie mir noch in den wenigen Minuten, die sie für mich übrighatte, ich würde wohl bald die Angina bekommen, die bekämen alle mal am Anfang. Es schien mir wenig verlockend, in dieser Umgebung krank zu werden. Freundlicher war der Eindruck, als endlich Schwester Oberin Zeit fand, uns zu begrüßen. Sie ließ uns in ihr Amtszimmer rufen. Das war ein heller, großer Raum, der mit seinem soliden Schreibtisch und Blumenschmuck ganz friedensmäßig aussah. Schwester Margarete war ein kleines, aber kräftiges Persönchen, wenig über 30 Jahre alt; das Gesicht unter dem weißen Häubchen war gut und freundlich, ihr Wesen einfach, natürlich und anspruchslos, aber fest und bestimmt. Vor dem Krieg war sie Gemeindeschwester in einer ländlichen Gemeinde in Schlesien. Wie die meisten Schwestern hier gehörte sie der Berufsorganisation an. Sie hatte das Lazarett unter den schwierigsten Verhältnissen mit wenigen Hilfskräften eingerichtet. Ehe sie noch das Nötigste zur Hand hatten, kam schon der erste Transport von Cholerakranken. Nun hatte sie eine Schar von 150 Schwestern und Helferinnen zu leiten, dazu den schwierigen Verkehr mit einem tschechischen Direktor, den Ärzten, der Militärkanzlei. Bei der Bevölkerung fand man keinerlei Unterstützung. Sie war fast ganz tschechisch und deutschfeindlich. Wenn wir auf der Straße jemanden auf Deutsch nach dem Wege fragten, bekamen wir keine Antwort. Das Lazarett erhielt höchst selten von Einheimischen Liebesgaben, weil deutsche Schwestern darin pflegten. Wir waren auf das angewiesen, was uns aus der Heimat geschickt wurde. Während wir ihre Verwundeten pflegten, saßen die Weißkirchener Mädchen schön geputzt auf der Kurpromenade beim Konzert.
Schwester Margarete überlegte einen Augenblick, wo sie die neuen Helferinnen hinschicken sollte. Mich bestimmte sie für die Typhusstation. Sie telephonierte nach der Großen Reitschule, um mich dort anzukündigen. Wer mich hinführte, weiß ich nicht mehr. Wir gingen zum Hoftor hinaus und kamen an der Kleinen Reitschule vorbei zur Großen. Das war ein einstöckiges Gebäude, eigentlich nur eine geräumige Baracke. Links von der Haustür lag am Hausgang zunächst ein kleines Zimmer für den Arzt, der jeweils Nachtdienst hatte. Dahinter kam ein Schwesternzimmer. Auf der rechten Seite befanden sich das Badezimmer und ein kleiner Raum, in dem Patienten untergebracht wurden, die wegen einer andern Infektionskrankheit von den übrigen abgesondert werden mußten. Dem Eingang gegenüber führten zwei Türen in die beiden vorderen Krankensäle. Dahinter lagen noch zwei andere und je ein kleines Verschreibzimmer für den Chefarzt und die Oberschwester. Zu jedem Saal gehörte noch eine kleine Teeküche. In den beiden vorderen Krankensälen lagen je 60 schwer Typhuskranke, in den hinteren je58. Die Genesenden wurden in die Baracken verlegt. Jeder Saal hatte einen eigenen Arzt, zwei Berufsschwestern und zwei Helferinnen; außerdem für die häuslichen Arbeiten noch zwei Wärterinnen (einheimische Mädchen) und einen Landsturmmann. Chef der ganzen Typhusabteilung war Geheimrat Boral, Schwester Anna war die Oberschwester. Ich wurde in den I.Saal geführt, in dem ich als Helferin arbeiten sollte, und mit den Schwestern bekanntgemacht. Schwester Loni war eine kleine, rundliche Rheinländerin mit stark gerötetem Gesicht und etwas verschwommenen Zügen, gutherzig und gesprächig. Schwester Emma war groß und schlank, meist gut beherrscht, aber von manchmal hervorbrechender Leidenschaftlichkeit. Die Schwestern begrüßten mich freundlich. Ich bekam über mein Schwesternkleid und die weiße Latzschürze noch einen weißen Ärztekittel gezogen. Den legten wir ab, wenn wir die Typhusstation verließen, um möglichst wenig Bazillen mit hinauszutragen. Außerdem stand in jedem Saal eine Schüssel mit Sublimatlösung. Darein tauchte man die Hände nach jeder Berührung mit den Kranken. Auch sonst wurde mit Desinfektionsmitteln nicht gespart. Die gebrauchte Wäsche kam sofort in große Bütten mit Lysollösung. Man war stolz darauf, daß sehr selten eine Hausinfektion vorkam. Und von der Oberschwester sagte man, wenn sie sich anstecken würde, dann würde sie nicht am Typhus, sondern an der Scham sterben. Denn die Typhusbazillen werden nicht durch den Atem, sondern nur durch die Ausscheidungen der Kranken übertragen. Es ist zwar bei der Pflege nicht zu vermeiden, damit in Berührung zu kommen. Aber wenn man sich sofort wäscht, kann man sich schützen; Ansteckung ist also ein Zeichen mangelnder Sauberkeit.
Die zweite Helferin, Steffi, war eine kleine Polin, zart und blond und traurig. Es waren mehrere Polinnen im Lazarett, Flüchtlinge aus dem galizischen Kriegsgebiet oder »Soldaten« aus der polnischen Legion. So war im Nachbarsaal ein kleiner weiblicher Korporal. Sie war verwundet und danach zum Lazarettdienst bestimmt worden, obgleich sie keine Ausbildung in Krankenpflege hatte. Auch Steffi war eine ungeschulte Hilfskraft. Dem gegenüber hatte ich ja manches voraus. Aber immerhin: Unser Kursus hatte nur einen Monat gedauert, dann hatte ich noch sechs Wochen praktisch gearbeitet. Und das lag nun schon ein halbes Jahr zurück. Einen Typhuspatienten hatte ich noch nie gesehen; ich kannte nur aus unserem Lehrbuch Ursachen, Anzeichen und Verlauf der Krankheit. Natürlich mußte ich mich erst einarbeiten und habe mir wohl manches Stückchen geleistet. In Erinnerung ist mir nur eines: Ich sah im Vorbeigehen einen Kranken, dem vor Frost die Zähne aufeinanderschlugen. Schnell füllte ich eine Bettflasche mit heißem Wasser und legte sie ihm an die Füße. Da mußte selbst der Patient lächeln: Er lag nämlich in einer kalten Packung.
Schwester Loni führte mich nach meiner Ankunft im ganzen Saal herum, zeigte mir alle Einrichtungen und sagte mir Bescheid über die Kranken. Vor allem machte sie mich auf den damals schwersten Patienten aufmerksam. Es war ein junger italienischer Kaufmann aus Triest. Man nannte ihn nur mit seinem Vornamen; der Name will mir nicht mehr einfallen, ich will ihn Mario nennen. Die Krankheit war bei ihm mit ungewöhnlicher Heftigkeit aufgetreten. Sein Mund war beständig mit einem oft blutuntermischten Schleim gefüllt. Schwester Loni wies mich an, ihm jedesmal, wenn ich vorbeikäme, mit einem Läppchen den Mund zu reinigen. Für diesen Liebesdienst dankte er immer mit einem Blick. Sprechen konnte er überhaupt nicht; er hatte die Stimme ganz verloren. Bei jeder Visite wurde er gründlich untersucht. Arzt und Schwestern sprachen dann an seinem Bett von ihm, als ob er nichts verstünde. Aber ich sah es seinen großen, glänzenden Augen an, daß er bei völlig klarer Besinnung war und gespannt auf jedes Wort hörte. Meist lag er ganz still da, folgte uns aber mit den Blicken. Die andern Fieberkranken waren fast alle schwer benommen und merkten nichts von dem, was um sie herum vorging. Man besorgte sie wie kleine Kinder und war erstaunt, wenn sie nach Wochen zu sich kamen und sich wie richtige Menschen benahmen. Bei manchen war der Typhus schon im Abklingen, aber sie hatten noch an Begleiterscheinungen zu leiden. Lungen- und Rippenfellentzündung waren häufig auftretende Komplikationen und forderten mehr Opfer als der Typhus selbst. Einige hatten aus dem Karpatenwinter erfrorene Füße mitgebracht und mußten daraufhin behandelt werden.
Während wir unsern Rundgang durch den Saal machten, kam der Arzt zur Visite und wurde mir vorgestellt. Er war noch recht jung, klein und untersetzt, hellblond und rosig. Nach einigen freundlichen Worten erklärte er: »Die Schwester wird von der Reise ermüdet sein. Wir wollen sie für heute eliminieren.«
Indessen war in einem andern Saal ein Fall von Flecktyphus festgestellt worden. Das galt als etwas sehr Schlimmes. Der Verlauf war meist tödlich und die Ansteckungsgefahr groß; man konnte sich auch kaum davor schützen, weil der Erreger noch nicht entdeckt war. Schwester Oberin gab die Weisung, daß die Schwestern der Typhusstation möglichst wenig mit andern zusammenkommen und alle in der Großen Reitschule schlafen sollten. So mußte ich mein Gepäck schon wieder aus dem großen Schlafsaal wegholen, wo ich es vor einigen Stunden hingebracht hatte. Ich fand in dem weitläufigen Gebäudekomplex nur mühsam den Weg. Es war mir aber sehr recht, daß ich