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eine Postkarte, und sie erschien zu einer Besprechung: eine stattliche Dame, groß und mächtig breit, so daß ich ganz daneben verschwand. Sie ließ sich auf die Chaiselongue nieder und erklärte, da Frau Doktor es wünsche, müsse sie dies ja übernehmen. Auf die Heizung verstand sie sich noch nicht. Nachmittags kam sie mit ihrem Mann wieder, um sich von ihm die Behandlung des Kessels erklären zu lassen. Auch das Ehepaar Pabst fand sich zu dieser Beratung ein, und ich kam mir sehr wichtig da unten im Keller vor, da eine ganze Versammlung sich darum bemühte, mir für die nötige Wärme zu sorgen. Von nun an kam Frau Hartung jeden Morgen, ehe der Tag graute. Ich hörte es oben in der Heizung, wenn sie unten das Feuer anmachte; das war für mich das Zeichen zum Aufstehen. Dann begab sie sich in die Küche und kochte für mich Kaffee; Milch und Brötchen brachte sie mit. Während ich frühstückte, machte sie das Arbeitszimmer fertig, so daß ich mich dann sofort an den Schreibtisch setzen konnte. Ich hörte sie noch eine Weile nebenan im Schlafzimmer herumwirken. Dann verabschiedete sie sich, und ich war für den Rest des Tages allein. Öfters klingelte es unten, und es kamen Angelegenheiten, die Courants betrafen. Wenn ich keinen Bescheid wußte, holte ich mir in Breslau Weisungen. Sonst erledigte ich die Sachen, wie es mir am besten schien. Nelli war sehr dankbar dafür, und ihr Vater erklärte, sie brauche keinen Rechtsvertreter in Göttingen, solange ich da sei. Öfters bat sie mich, ihr etwas von ihren Sachen zu schicken, und vielleicht noch häufiger hatte Richard Wünsche. Ich erfüllte sie immer so schnell wie möglich, und eines Tages schrieb er, da er von mir alles viel schneller bekäme als aus Breslau, werde er sich jetzt immer an mich wenden, wenn er etwas brauche. Es waren manchmal erstaunliche Dinge, die er verlangte, und mitunter kostete es ziemlich viel Zeit und Mühe, sie zu beschaffen, zu verpacken und auf den Weg zu bringen. Ich war aber froh, wenn ich etwas für ihn tun konnte. Pauline Reinach wunderte sich, daß es Nelli recht war, so ausgeschaltet zu werden. Aber ich war überzeugt, daß sie mir nur dankbar für die Entlastung sei. Sie war ja so sehr unpraktisch und machte alles so umständlich, daß ihr diese Dinge alle viel mehr Zeit genommen hätten als mir.

      Der nächste Weg von der Schillerstraße zur Stadt führte über den Albanikirchhof und am Feuerteich vorbei. Als ich einige Tage nach meiner Ankunft auf dem Heimweg an den Teich kam, ging eine Dame vor mir her, deren grüner Mantel mir bekannt war. Sie war eben in den Hainholzweg eingebogen (entgegengesetzt zu der Richtung, die ich einschlagen mußte) – da drehte sie sich um, und als sie mich erblickte, blieb sie stehen, um auf mich zu warten. Es war Erika Gothe. Außer uns beiden war niemand von dem engeren Husserlkreis nach Göttingen zurückgekehrt. So war es selbstverständlich, daß wir uns jetzt aneinander anschlossen. Sie ging eben zu ihrem Mittagstisch bei Frau Groneweg am Hainholzweg 20. Ich hatte an diesem Tag schon gegessen, aber von nun an sollte ich doch auch hinkommen. Pauline Reinach war ganz in Pension bei Groneweg. Die Wohnung am Steinsgraben war abgeschlossen, Frau Reinach war bei ihrer Mutter in Stuttgart. Bald war ich in dem Haus am Hainholzweg ebenso heimisch wie in der Schillerstraße. Ich ging nur mittags hin, abends sorgte ich wie früher für mich selbst. Regelmäßig einmal in der Woche kam ein Päckchen von zu Hause. Wenn meine Mutter Freitag früh die Striezel für den Sabbath auf die vorgeschriebene Weise flocht, da machte sie auch einen kleinen für mich (ebenso für die Hamburger Kinder und Enkel je einen) und mittags wurden sie frisch gebacken zur Post gebracht; dazu kam als Beilage eine Gänseleber oder ein Stück vom Sonntagsbraten.

      Frau Groneweg war eine ältere Dame, etwas verkümmert und verbittert, weil sie früher bessere Tage gesehen hatte und es jetzt sehr schwer hatte. Ihr Mann August lebte noch, aber er hatte vor Jahren einen Schlaganfall gehabt, konnte sich nur mühsam bewegen und schwer sprechen, war auch geistig nicht mehr normal. Er aß mit am allgemeinen Tisch, und das war eine starke Zumutung für die fremden Gäste. Aber es war uns noch leichter, den Anblick des alten Mannes zu ertragen als die Gemütsverfassung der vergrämten Frau, die durch seine Unbeholfenheit offenbar beständig gereizt wurde und das mühsam unter tadellosen gesellschaftlichen Formen zu verbergen suchte. Außer Pauline gab es noch eine Vollpensionärin: Liane Weigelt. Sie war mir ein wenig bekannt aus Husserls Seminar und der Philosophischen Gesellschaft. Sie war aber dort nur zu sehen und nicht zu hören gewesen. Sie hatte sich von dem Philosophen Heinrich Maier das Thema zu einer philosophischen Arbeit geben lassen, die Philosophie lag ihr aber offenbar gar nicht. Für ihr anderes Fach, Kunstgeschichte, brachte sie sicher mehr Begabung mit. Aber im Grunde war sie wohl überhaupt nicht zum Studium geschaffen. Sie verstand es, ein Heim behaglich zu machen – das sah man an ihrer Studentenwohnung im romantischen Gartenhäuschen des Groneweg'schen Grundstücks –, andere zu verwöhnen und sich verwöhnen zu lassen. Leider hatte sie weder Eltern noch Geschwister und stand eigentlich ganz allein auf der Welt. Ihre freundschaftlichen Beziehungen mußten daher für sie sehr viel mehr bedeuten als für den andern Teil und brachten ihr manche Enttäuschung. Pauline Reinach nahm sich liebevoll um sie an. Paulines Arbeitszimmer wurde überhaupt für uns ein Mittelpunkt. Nach dem Mittagessen fanden wir uns gewöhnlich noch für eine Weile dort zusammen: Erika, Liane und ich. Sogar der Forstmeister, der noch zu unserer Tafelrunde gehörte, kam manchmal dazu. Er hatte als Landwehrhauptmann in Göttingen Rekruten auszubilden und war für diese Zeit bei Frau Groneweg untergebracht. Er war ein älterer, verheirateter Mann, fühlte sich aber sehr wohl in unserer Gesellschaft.

      Es gab damals immer so viel, worüber man sich aussprechen mußte: die Kriegsereignisse, die Nachrichten aus dem Feld, die Studienangelegenheiten. Wie glücklich waren wir, wenn eine Feldpostkarte oder gar ein Brief von Reinach kam! Er stand in der Gegend von Verdun. Einmal schickte er in einem Brief für jede von uns ein Schneeglöckchen mit. Er hatte sie selbst gepflückt, sie kamen ganz frisch an. Erika und ich verschafften uns auch die Feldadressen unserer Studiengefährten und begannen sie mit Feldpostpaketen zu versorgen. Dafür kamen dann Briefe zurück: von Hering, von Lipps, von Kaufmann. Der Herbst brachte auch die ersten Verluste in unserm Kreis: Fritz Frankfurther und Rudolf Clemens. Frankfurthers Mutter lebte in Breslau, bei Kriegsbeginn ging auch ihre Tochter Magda Frei zu ihr. Sie war Ärztin und mit einem Arzt in Göttingen verheiratet, ihr Mann war aber jetzt auch im Feld. Nach dem Kieg siedelten Freis ganz nach Breslau über. Toni Meyer war mit Frau Frankfurther und Frau Dr. Frei befreundet und veranlaßte mich, sie zu besuchen, als ich wieder nach Breslau kam. Die beiden konnten sich jahrelang über den Verlust des einzigen Sohnes und Bruders nicht trösten. Es war ihnen von großer Bedeutung, daß ich zu ihnen kam und daß sie durch mich Fühlung mit dem Kreise behielten, in dem ihr Fritz so glücklich gewesen war. Ich bekam sein Kriegstagebuch zu lesen und seinen ganzen literarischen Nachlaß durchzusehen. Gar zu gern hätten sie seine hinterlassenen Arbeiten veröffentlicht gesehen, aber ich konnte das nicht durchsetzen.

      Auch Erikas Bruder Hans Gothe war im Feld. Er und der jüngere Bruder Georg stammten aus ihres Vaters zweiter Ehe, ihre Schwester Lene und sie selbst aus der ersten. Nun war auch der Vater längst tot, aber die zweite Mutter war für Erika eine wirkliche Mutter, und auch das Verhältnis zu den Brüdern war ein sehr inniges. Ich habe Frau Gothe und ihr Haus in Schwerin nie gesehen, aber durch Erikas Erzählungen wurde ich mit beiden ganz vertraut. Sie war eine tiefgläubige Protestantin, und von der warmen Güte ihres Wesens strahlte etwas bis zu uns herüber.

      Trotz der lastenden Kriegssorgen ist wohl dieser Winter die glücklichste Zeit während meiner Göttinger Studienjahre gewesen. Die Freundschaft mit Pauline und Erika war tiefer und schöner als die alten Studienfreundschaften. Es war zum erstenmal, daß nicht ich der führende und umworbene Teil war, sondern daß ich in den andern etwas Besseres und Höheres sah als ich selbst war.

      Die Arbeit mit meinen beiden Lernkameradinnen ging weiter. Wenn Fräulein Scharf und ich jetzt in meinem gemütlichen Arbeitszimmer abends zusammensaßen, strickten wir eifrig Strümpfe und andere warme Sachen für die Feldgrauen. Ich hatte es als Schulkind im Handarbeitsunterricht nicht sehr weit in dieser Kunst gebracht und sie seitdem längst vergessen. Jetzt lernte ich sie neu bei meiner geschickten Gefährtin, und die Nadeln klapperten geschäftig, während wir unser Geschichtspensum durchsprachen und einprägten.

      An bestimmten Abenden arbeitete ich mit Erika zusammen Philosophie. Für die letzte Wiederholung erhielt ich von ihr drei Blätter, auf denen Hering einen Abriß der Geschichte der Philosophie aufgezeichnet hatte. Er selbst und Frankfurther hatten ihn schon für's Staatsexamen benützt, und nun vererbte er sich weiter. Als Letztes war darauf das Zeitalter der Phänomenologie vermerkt; dabei stand: Ende aller übrigen Philosophie. Pauline hatte auch eine Arbeitsverabredung

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