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zur Verwahrung. Schnell rechnete ich auch mit ihr noch ab und verabschiedete mich. Es war gerade Zeit, zu Courants hinüberzulaufen. Der Wagen stand schon vor der Tür, auch Toni war zur Stelle. Nelli aber ließ noch lange auf sich warten. Richard wollte zwar ein Stück mit uns fahren, aber sie nahmen jetzt schon in seinem Arbeitszimmer Abschied. Und das ging nicht so schnell. Ich war voller Teilnahme für beide. Eigentlich war es ja erstaunlich, daß Nelli abreiste, ehe ihr Mann fortgehen mußte. Ich hätte das an ihrer Stelle bestimmt nicht getan. Es geschah wohl aus Besorgnis um ihren Vater. Und dann war sie ja überhaupt anders als andere Menschen.

      Der Bahnhof und der Zug waren natürlich voll von Reisenden. Wir konnten nicht nach Eichenberg fahren, wo wir sonst den Anschluß an die große Bahnstrecke Cassel-Breslau fanden, sondern mußten nach Cassel. Soweit begleitete uns Richard. In Cassel war die Aufregung und Verwirrung noch größer. Es war nicht einmal zu ermitteln, ob der Zug, in den wir stiegen, wirklich nach Breslau ging. Die Beamten wußten selbst nicht Bescheid und ließen sich schließlich gar nicht mehr blicken, um nicht immer wieder gefragt zu werden. An jeder Eisenbahnbrücke, über die wir fuhren, stand ein Wachtposten. Das war ein kleiner Vorgeschmack des Krieges. Im übrigen wurde es immer ruhiger und geordneter, je weiter wir nach Osten kamen. Dieselbe Beobachtung habe ich später bei Beginn der Revolution gemacht. Einmal mußten wir unterwegs längere Zeit haltmachen, weil an der Maschine etwas auszubessern war. Das war schon am nächsten Tag. Aus allen Abteilen kletterten die Reisenden hinaus und lagerten sich am Wegrand im hellen Juli-Sonnenschein. Es war ein friedliches und fröhliches Bild und berührte einen seltsam, wenn man daran dachte, daß man in den Krieg hineinfuhr. Irgendwo unterwegs fand sich der treue Danziger zu uns. Am späten Nachmittag des 31.Juli langten wir in Breslau an. Meine Hauptsorge galt Nelli. Ich wollte sie ihrem Vater abliefern, ehe ich selbst nach Hause fuhr. Ich glaube, ich bat Danziger, indessen an meine Leute zu telephonieren, daß ich eingetroffen sei und bald käme. Justizrat Neumann schloß in seiner Freude erst seine Tochter und dann mich in die Arme. Ich hielt mich nicht lange auf; ich hatte die Taxe vor dem Haus warten lassen und fuhr gleich weiter. Meine Mutter wartete am Fenster und kam mir auf die Straße entgegen. Sie stand schon am Wagenschlag, als ich ausstieg. »So gut hast du noch nie gefolgt«, sagte sie freudestrahlend. Ich mußte das Lob ablehnen: Ihre Weisung, schleunigst nach Hause zu kommen, hatte mich in Göttingen nicht mehr erreicht.

      Die ganze Familie war zusammen. Selbst Bibersteins waren da. Zu meinem Erstaunen war man gar nicht so erfüllt von den Ereignissen wie ich. »Nur keine Angst!«, sagte meine Mutter. »Ich habe keine Angst«, erwiderte ich, »aber es ist doch durchaus möglich, daß die Russen in ein paar Tagen über die Grenze kommen.« »Dann nehmen wir einen Besenstiel und hauen sie wieder raus.« – Ich konnte es kaum ertragen, am Teetisch zu sitzen und Frau Biberstein ihre alltäglichen Geschichten erzählen zu hören. Es war für mich geradezu eine Befreiung, als meine Mutter mich zu Bett schickte, um mich nach der durchreisten Nacht auszuschlafen. An Schlaf war freilich nicht zu denken. Ich war in einer fieberhaften Anspannung, sah aber mit großer Klarheit und Entschlossenheit den Dingen ins Auge. »Ich habe jetzt kein eigenes Leben mehr«, sagte ich mir. »Meine ganze Kraft gehört dem großen Geschehen. Wenn der Krieg vorbei ist und wenn ich dann noch lebe, dann darf ich wieder an meine privaten Angelegenheiten denken.«

      Der nächste Tag war der Sonntag der Kriegserklärung. Rose kam mich begrüßen. Von ihr erfuhr ich, daß ein Krankenpflegekursus für Studentinnen eingerichtet werde. Ich meldete mich sofort dafür, und bald war ich jeden Tag im Allerheiligenhospital, hörte Vorträge über Kriegschirurgie und Kriegsseuchen und lernte Verbände anlegen und Einspritzungen machen. Meine alte Klassengefährtin Toni Hamburger nahm an dem Kursus teil und bemühte sich im Wetteifer mit mir um eine gute Ausbildung. Unser Krankenpflegelehrbuch genügte mir nicht. Ich nahm daheim Ernas anatomischen Atlas und ihre dicken medizinischen Grundrisse zu Hilfe. Ich suchte auch sie und Lilli häufig in der Frauenklinik auf, um mich im Verbinden zu üben. Sie hatten große Freude an meinem Eifer für ihr Fach. Während des Kursus mußten wir angeben, ob wir uns dem Roten Kreuz zur Verfügung stellen wollten; ob nur für das Festungsgebiet Breslau, für die Heimat oder ganz ohne Bedingung. Natürlich stellte ich mich bedingungslos zur Verfügung. Ich hatte ja keinen andern Wunsch als möglichst bald und möglichst weit hinauszukommen, am liebsten an die Front in ein Feldlazarett. Aber so rasch ging das nicht. Es war Überfluß an Hilfskräften. Nach vierwöchentlicher Ausbildung bestanden wir die Helferinnenprüfung. Aber es kam keine Einberufung. Ich durfte mich zur Übung im Allerheiligenhospital weiter betätigen. Einige Wochen war ich auf einer Tuberkulosestation, dann auf einer chirurgischen Station in einem Zimmer, in dem meist überfahrene Kinder lagen. Zuletzt half ich in der chirurgischen Poliklinik. Überall fand ich reichlich Arbeit. Nirgends brauchte man sich als fünftes Rad am Wagen zu fühlen. Das Allerheiligenhospital ist ein großes Städtisches Krankenhaus. Es beschäftigt verhältnismäßig wenig voll ausgebildete Krankenschwestern; die meiste Arbeit wird von »Wärterinnen« gemacht: Mädchen ohne Vorbildung, die zunächst für die häuslichen Arbeiten angestellt werden, aber allmählich unter der Leitung der Stationsschwester oder Stationswärterin die praktischen Handgriffe der Krankenpflege erlernen und verrichten. Ich bekam den Eindruck, daß die Kranken wenig an liebevolle Aufmerksamkeit gewöhnt waren und daß freiwillige Hilfskräfte an solchen Stätten des Leidens dauernd ein reiches Feld für werktätige Nächstenliebe finden würden. Freilich wäre es wohl eine dornenvolle Aufgabe, und es würde wahrscheinlich auch erst einen Kampf kosten, um überhaupt Zutritt zu erlangen. Uns machte man damals keine Schwierigkeiten, weil wir ja zum Zweck unserer Ausbildung und nur für ein paar Wochen da waren.

      Meine freiwillige Tätigkeit fand dadurch ein Ende, daß ich mir im Oktober dabei einen schweren Bronchialkatarrh holte. Als er vorbei war, stand der Beginn des Wintersemesters unmittelbar bevor. Ich hatte im August nicht daran gedacht, im Winter wieder nach Göttingen zu gehen. Da aber keine Aussicht auf Einberufung zum Lazarettdienst zu bestehen schien, hatte ich während meiner Krankenhauszeit in den Mittagspausen meine Staatsarbeiten vorgenommen und die letzte Hand daran gelegt. Im November waren sie abzuliefern. Und nun fand ich, wenn ich doch vorläufig im »Heeresdienst« keine Verwendung finden könnte, so wäre es das Gescheiteste, nach Göttingen zu gehen und während der Wartezeit die Prüfung zu erledigen. An meiner Einstellung hatte sich nichts geändert. Ich hätte mich jeden Tag gefreut, wenn man mich von meinen Büchern abberufen hätte. Die Prüfung erschien mir als etwas lächerlich Unwichtiges im Verhältnis zu den Zeitereignissen, die uns natürlich während dieser Monate dauernd in Spannung hielten. Ich hatte in Breslau manches an Kriegseindrücken erlebt. Die Russen waren zwar nicht gekommen. Wohl hatten sie gleich in den ersten Augusttagen in Oberschlesien die Grenzen überschritten, waren aber schnell zurückgedrängt worden. Dafür erfand die Kriegspsychose die erstaunlichsten Schreckbilder. Das Gerücht, die Russen hätten uns das Trinkwasser vergiftet, führte sogar zu sehr peinlichen obrigkeitlichen Verordnungen. Wir bekamen kein Wasser aus dem städtischen Wasserwerk; man mußte wie in alter Zeit von den Brunnen an den Straßenecken Wasser holen; um Wasser zu sparen, sollte man das Baden auf ein Mindestmaß einschränken, keine weißen Kleider und keine weißen Schuhe tragen.

      Indessen verfolgten wir im Siegesjubel den Vormarsch unserer Armeen in Frankreich, bezeichneten sie mit bunten Stecknadelköpfen auf unsern Landkarten und warteten auf den Tag, wo »wir« in Paris einrücken könnten. Es war wie eine glanzvollere Wiederholung des Feldzugs von 1870, den wir aus den Schulbüchern im Kopf hatten und unsere Eltern aus eigenem Miterleben. Ganz unfaßlich war der große Rückschlag der ersten Marneschlacht. Eines meiner ersten niederdrückenden Kriegserlebnisse war der Anblick einer langen Reihe von Pferden, die für den Heeresbedarf eingefordert waren und durch die Straßen geführt wurden. Ich mußte an eine große Saugpumpe denken, die alle Kraft aus dem Lande herausholte. Ähnlich beklemmend wirkte einige Monate später der Anblick des völlig toten Hamburger Hafens mit seinem Wald von starren Schornsteinen und segellosen Masten.

      Meine Brüder waren nicht im Feld. Paul wurde bei jeder Musterung für dienstuntauglich erklärt. Arno wurde im Sanitätsdienst verwendet, und zwar so, daß er nicht dauernd abwesend zu sein brauchte, sondern nur Transportzüge zu begleiten hatte. Aber viele meiner Vettern waren im Feld, und die Göttinger Studiengefährten wohl alle. Ein ganzes Göttinger Freiwilligenregiment stand in den heißesten Kämpfen in Flandern. Viele Studenten waren dort eingetreten, andere hatten sich in ihrer Vaterstadt gemeldet und waren in die Heimatregimenter eingereiht worden.

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