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war am Donnerstag, den 14.I. Nachmittags um 5 sollte die Prüfung in Deutsch beginnen. Ich ging noch zum Mittagessen zu Groneweg, die allgemeine Tischunterhaltung ging mir aber so auf die Nerven, daß meine Freundinnen beschlossen, am nächsten Tage solle Erika bei mir zu Hause für mich kochen. Sie übernahm es mit Freuden, alles Nötige einzukaufen und sich dann in der sauberen, netten Küche zu betätigen.

      Die Prüfung war im Humanistischen Gymnasium, Gymnasialdirektor Miller war der sehr gefürchtete Vorsitzende der Prüfungskommission. An diesem Tage bekam ich ihn noch nicht zu sehen. Ich wurde ganz allein geprüft, aber zur gleichen Zeit kamen andere Kandidaten in andern Klassenräumen in ihren Fächern an die Reihe. Wir warteten zusammen in einem dafür bestimmten Zimmer. Um 5Uhr kam Weißenfels mich selbst abholen. Es hätte noch ein anderes Mitglied der Prüfungskommission als Beisitzer zugegen sein sollen; da niemand kam, blieben wir allein. Er holte ein kleines Büchlein hervor: den mittelhochdeutschen Text. Was mochte es wohl sein? »Meier Helmbrecht« – ich mußte mich beherrschen, um meine Freude nicht zu verraten. Ich las und übersetzte fließend und konnte auch alle grammatischen Fragen beantworten. Nun begann ein Spaziergang durch die deutsche Literatur. Ich sollte angeben, was aus den mittelhochdeutschen Epen später geworden sei; das gab Gelegenheit, über die Volksbücher zu sprechen. So kamen wir auf das Faustthema und seine verschiedenen Behandlungen. Als ich über Lessings Faustfragment etwas sagen wollte, unterbrach mich Weißenfels. »Sie haben allerdings Lessing als Spezialgebiet angegeben, aber ich möchte doch jetzt lieber noch einige Fragen über die Romantik stellen.« »Bitte!«, sagte ich ruhig und ergeben. Nachdem ich auch diese Fragen noch beantwortet hatte, war die Stunde herum. Der freundliche Examinator wünschte mir Glück und sagte, er freue sich, daß ich die Prüfung so gut begonnen hätte.

      Freitag von 11–12 war die Philosophieprüfung angesetzt. Diesmal war Direktor Miller Beisitzer. Ich wußte, daß Husserl das sehr unangenehm war; er mußte den Vorwurf fürchten, daß er seine Schüler zu milde behandle, und prüfte darum scharf. Eine ganze Stunde lang stellte er Fragen über Geschichte der Philosophie. Ich hatte sehr viel Plato gelesen, aber nun fragte er gerade nach dem »Timaios«, den ich nur aus Darstellungen kannte; das wagte ich jedoch nicht zu sagen, um meinen guten Meister nicht vor dem gestrengen Vorsitzenden zu blamieren, sondern begann kühn den Gedankengang des Dialogs zu konstruieren, indem ich die gestellten Fragen als Anhaltspunkte benützte. Ebenso machte ich es, als ich über die verschiedenen Stellungnahmen David Humes zur Mathematik in seinem »Essay« und »Treatise« Auskunft geben sollte. Ich hatte den Essay gar nicht, den Treatise nur teilweise gelesen, ging aber mutig an den Vergleich heran. Diese geistigen Akrobatenstückchen machten mir sogar Freude, sie kosteten aber eine große Anspannung, und ich war froh, als Husserl endlich zur Logik überging. Zum Schluß kamen noch einige harmlose Fragen aus der Geschichte der Pädagogik. Fünf Viertelstunden hatte ich standhalten müssen. Als ich den schmalen Feldweg vom Albanikirchhof zur Schillerstraße entlangging, lag Erika mit halbem Leibe zum Küchenfenster heraus und winkte mir mit beiden Armen entgegen. Das Mittagessen war fertig und vortrefflich gelungen, das Tischlein für uns beide gedeckt, und während wir uns stärkten, mußte ich getreu den Gang der Schlacht von Anfang bis zu Ende erzählen.

      Ich war ziemlich erschöpft, hatte aber noch keine Zeit, müde zu sein, denn nachmittags um 5 kam der letzte Akt, die Geschichtsprüfung. Diesmal sollte Weißenfels Beisitzer sein. Da er sich etwas verspätete, begann Lehmann zunächst mit dem griechischen Text. Es war wie immer der Anfang der Anabasis, den ich auswendig wußte. Als Weißenfels hereinkam, empfing ihn der Prüfende mit den Worten: »Die Dame weiß sehr gut Bescheid im Griechischen.« »Die Dame weiß überhaupt sehr gut Bescheid«, kam es mit gemütlichen Lachen zurück. Dann ging es weiter. Eine kurze Frage über die Perserkriege. Nun etwas Überraschendes: »Was halten Sie für Hannibals größte Tat?« Darüber hatte ich noch nie nachgedacht. Ich wußte auch nicht, daß es eine beliebte Frage war und daß Lehmann als Antwort wollte: »Den Alpenübergang.« Ich überlegte einen kleinen Augenblick und sagte dann mit großer Bestimmtheit: »Daß er den Kriegsschauplatz nach Italien verlegt hat.« Jetzt war wohl Lehmann überrascht. Er merkte daran wahrscheinlich, daß ich mich nicht darum bemüht hatte, mir eine Sammlung früherer Examensfragen mit den dazugehörigen Antworten zu verschaffen und einzuprägen, sondern daß ich ganz unbefangen nachdachte und urteilte. So ließ er meine Antwort gelten und brachte mich durch eine kleine Zwischenfrage auf den Alpenübergang; darüber wußte ich aus Livius ganz genau Bescheid. – Die alte Geschichte war nur Vorspiel. Nun ging es an Lehmanns eigentliche Arbeitsgebiete, aus denen ich die meinen gewählt hatte. Wieder kam ein überraschender Anfang: »Wie steht es mit dem Vorwurf des preußischen Militarismus?« Ich dachte: »Wie nett! Jetzt denkt er daran, daß ich neulich bei meinem Besuch gesagt habe, es wäre mir lieber, ein politisches Gespräch zu führen als mich prüfen zu lassen.« Die Frage selbst aber war brenzlig. Sie klang wie eine Aufforderung zur Kritik an den bestehenden Zuständen, und das mochte ich nicht. Ich antwortete also zunächst diplomatisch: »Das kommt darauf an, was man unter ›Militarismus‹ versteht.« Weißenfels lachte laut auf. Lehmann aber sagte mir geduldig seine Definition: Von Militarismus spreche man, wo ein stehendes Heer in Friedenszeiten gehalten werde. Unter dieser Voraussetzung konnte ich nun unbedenklich zugeben, daß es berechtigt sei, von preußischem Militarismus zu reden. Danach mußte ich die Gründe angeben, aus denen man sich in England bisher so sehr gegen den Militarismus gewehrt habe. Jetzt waren wir in glattem Fahrwasser, und es ging Schlag auf Schlag weiter, bis es sechs Uhr war.

      Draußen erwartete mich Pauline Reinach. Sie führte mich zunächst zu »Cron und Lanz«, um mich nach der geschlagenen Schlacht mit Kaffee und Kuchen zu stärken. An einem benachbarten Tischchen saßen der Mathematiker Landau und der Psychologe Katz. Nach ein paar Minuten kam Katz zu uns herüber und sagte, Herr Professor Landau habe ihm erzählt, er habe mich soeben noch im Gymnasium gesehen, ich müsse wohl eben Examen gemacht haben. Nun wollte er mir gleich gratulieren. Das ließ ich mir natürlich gern gefallen. An diesem Abend sollte ich bei Gronewegs essen. Unterwegs habe ich wohl an der kleinen Post in der Wendenstraße das Telegramm mit der Freudenbotschaft nach Breslau aufgegeben. Pauline mußte mich noch ein wenig in ihrem Zimmer unterhalten, weil Erika und Liane mit ihren Vorbereitungen im Eßzimmer noch nicht fertig waren. Als wir schließlich zum Nachtessen gerufen wurden, brannten an meinem Platz viele kleine Kerzen in einem gemalten Holzreifen, wie man ihn für Geburtstagskuchen hat; rings herum lagen Veilchensträußchen. Frau Groneweg hatte für ein Festmahl gesorgt. Erika saß mir gegenüber und ihre dunklen Augen strahlten vor Liebe und Freude.

      Am nächsten Tage fuhr ich nach Hamburg. Meine Schwester Rosa war gerade für einige Wochen bei Else, und beide waren froh, daß ich zu ihnen kam, um sie an meiner Freude teilnehmen zu lassen. Hier erhielt ich auch die Glückwünsche aus Breslau. Der Brief meiner Mutter enthielt jene Stelle, die ich früher einmal erwähnte: Sie würde sich noch mehr freuen, wenn ich daran denken wollte, wem ich diesen Erfolg verdankte. Aber so weit war ich noch nicht. Ich hatte in Göttingen Ehrfurcht vor Glaubensfragen und gläubigen Menschen gelernt; ich ging jetzt sogar mit meinen Freundinnen manchmal in eine protestantische Kirche (die Vermischung von Religion und Politik, die dort in den Predigten vorherrschte, konnte mich freilich nicht zur Kenntnis eines reinen Glaubens führen und stieß mich auch oft ab); aber ich hatte den Weg zu Gott noch nicht wiedergefunden.

      Lange wollte ich meinen Besuch nicht ausdehnen. Am Samstag war ich gekommen und am Mittwochnachmittag zu Husserls Seminar war ich pünktlich wieder zur Stelle. Er legte Wert darauf, daß man seine Übungen regelmäßig besuchte; jetzt, wo so wenige von seinen alten Schülern da waren, noch mehr als sonst. Ich hatte ihn nach der Prüfung noch nicht wiedergesehen und ging am Schluß zu ihm ins Direktorzimmer, um zu fragen, wann ich ihn besuchen und etwas Näheres über meine Arbeit hören dürfte. Der sonst so freundliche Meister war merklich verstimmt. Ich hatte einen fauxpas begangen, indem ich nicht sofort nach der Prüfung zu ihm ging. Nun erklärte er mir, er hätte mir viel zu meiner Arbeit sagen wollen, aber nun habe er es vergessen. Zur Doktorarbeit reiche sie noch nicht aus (das war mir ja auch nie in den Sinn gekommen). Und da ich in Geschichte und Literatur so ausgezeichnet bestanden habe, könne ich mir ja noch überlegen, ob ich den Doktor nicht lieber in einem dieser Fächer machen wolle. Schwerer hätte er mich nicht kränken können. »Herr Professor«, sagte ich ganz empört, »es kommt mir nicht darauf an, mir mit irgendeiner Doktorarbeit den Titel zu erwerben. Ich will die Probe machen, ob ich in Philosophie etwas

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