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Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften
Год выпуска 0
isbn 9788075830890
Автор произведения Edith Stein
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Die erste Todesnachricht aus unserem Bekanntenkreis kam schon im August: Robert Staiger, der Göttinger Privatdozent für Kunstgeschichte, zugleich Leiter des akademischen Orchesters, das aus Studenten gebildet war und mit Eifer edelste klassische Musik pflegte. Jahrelang war er heimlich mit Elisabeth Klein verlobt, der Tochter des Mathematikers Felix Klein. Der Vater war gegen die Heirat und verbot dem Bewerber sein Haus. Felix Klein spielte durch seine überragende Persönlichkeit eine beherrschende Rolle in Göttingen. Man wagte ihm nicht zu widersprechen. Elisabeth (in der Familie und von ihren Freunden Putti genannt) hatte etwas von der mathematischen Begabung ihres Vaters geerbt, hatte auch studiert und das Staatsexamen gemacht, war aber dann nicht in den Schuldienst gegangen, sondern zum Musikstudium nach Leipzig. Unter dem Göttinger Professorennachwuchs war sie ähnlich tonangebend wie ihr Vater unter den »Bonzen«, allerdings nicht durch gebieterisches Wesen, sondern durch Anmut, Geist und Liebenswürdigkeit. Sie und ihr Verlobter waren mit Reinachs befreundet und trafen sich öfters bei ihnen. Ehe Staiger ins Feld mußte, ließen sie sich kriegstrauen. Nun war er nach wenigen Wochen gefallen.
Diese Nachricht brachte mir Nelli Courant zugleich mit einer andern, die sie in der »Schlesischen Zeitung« gefunden hatte. Dieses konservative Blatt brachte eine abfällige Notiz über die »vaterlandslose Gesinnung« einiger Göttinger Professoren. Sie hätten sich zu einem Engländer, der wegen deutschfeindlicher Äußerungen in Schutzhaft war, begeben, um ihm die mündliche Doktorprüfung abzunehmen. Der »deutschfeindliche Engländer« war unser Freund Bell, die »vaterlandslosen Professoren« unser alter Meister Husserl und die beiden Kollegen, die Bell in den Nebenfächern zu prüfen hatten. Ihre Namen waren alle angeführt. Ich war sofort überzeugt, daß es sich um eine Entstellung der Tatsachen handle, und wollte mir Aufklärung verschaffen. Ich schrieb an Bell, welche »Schauermär« wir gelesen hätten, und bat ihn um Mitteilung des wahren Sachverhalts. Die Antwort trug den Stempel der Polizeidirektion Göttingen und kam aus dem Gefängnis. Bell war als Kanadier zunächst in Freiheit geblieben. (Die Kolonialengländer wurden erst Anfang 1915 interniert.) Eines Tages kam ein Bekannter (ein Deutscher) an seiner Wohnung vorbei und fragte ihn zum Fenster hinauf – das war echt Göttinger Stil, aber bei der Gemütsverfassung des Volkes in den ersten Kriegsmonaten höchst unvorsichtig –: »Was sagen Sie zur japanischen Kriegserklärung?« Bell antwortete ebenso unüberlegt zum Fenster hinaus: »Für uns ist sie natürlich sehr vorteilhaft.« Eine vorübergehende Dame hörte das, geriet in die größte Erregung, erstattete sofort Anzeige. Dabei wurde die Äußerung erheblich entstellt, so daß sie als deutschfeindliche Kundgebung erschien. Bell wurde in Schutzhaft genommen, durfte aber in seiner Wohnung bleiben. Da er sie nicht verlassen durfte, konnte er sich auch nicht an dem festgesetzten Prüfungstage in die Universität begeben, und seine wohlwollenden und teilnahmsvollen Lehrer beschlossen, die Prüfung in seiner Wohnung vorzunehmen. Damit erregten sie heftigen Anstoß bei ihren nationalistischen Kollegen; es wurde eine Fakultätssitzung einberufen, die Prüfung wurde für ungültig erklärt und sogar auch die Annahme der Arbeit, die schon vor Kriegsausbruch abgeliefert war. Als ich nach Göttingen kam, erzählte mir Husserl, daß Bell jetzt im »Carcer« in Haft gehalten werde. Er habe ihn schon dort besucht und ich könne es wohl auch tun, man müsse sich aber dazu die Erlaubnis der Polizeidirektors holen. Natürlich war ich sofort entschlossen, mir diese Erlaubnis zu erbitten. Außer der freundschaftlichen Teilnahme für den Gefangenen spielte wohl auch ein wenig die Romantik eines »Besuchs im Carcer« mit. Dieses Lokal hatte ich bisher noch nicht gesehen. Es lag im obersten Stock der »Aula«, die ich bisher nur bei festlichen Anlässen betreten hatte und zu Beginn jedes Semesters, um meine Kolleggelder zu zahlen. Denn in diesem Gebäude waren die Geschäftsräume der Universität. Der Polizeidirektor bewilligte mir die Erlaubnis ohne Schwierigkeiten. Ich erhielt einen Schein mit dem Vermerk, daß ich am folgenden Sonntagvormittag von 11Ý–12 h im Carcer sein dürfe. Mit diesem Schein meldete ich mich am Sonntag beim Hausverwalter der Aula. Dessen freundliche Frau führte mich hinauf, schloß die Tür auf und – zu meiner großen Überraschung – hinter mir wieder zu. Ich war also für eine halbe Stunde mitgefangen. Bell begrüßte mich mit Freude. Die Handbewegung, mit der er mich zum Platznehmen einlud, verwandelte den rohen Holzstuhl in einen Klubsessel. Ich mußte zunächst den Raum besichtigen: es sei kein übler Aufenthalt. In der Tat – ein helles, geräumiges Zimmer; an einer Wand ein kunstvolles Gemälde, von einem früheren Bewohner herrührend: die »Mütze«, jene berühmte Göttinger Weinstube, das netteste alte Haus der Stadt. Dazu manche andere Wandzeichnungen von weniger kunstgeübter Hand. Viel Hausrat war nicht da, aber alles Notwendige: eine eiserne Bettstelle mit einer groben Wolldecke, zwei Holzstühle und ein fester Holztisch mit vielen Büchern darauf. Der Gefangene war durchaus zufrieden mit seinem Los und ohne jede Bitterkeit gegen die Leute, die seine Haft veranlaßt hatten. Man hatte ihn nicht länger in seiner Wohnung lassen wollen und seine Überführung ins Polizeigefängnis beantragt. Das war aber in Göttingen nicht für längeren Aufenthalt eingerichtet. Es diente nur dazu, gelegentlich einen Betrunkenen für eine Nacht zu beherbergen o. dgl. Längere Haft mußte in Hannover abgebüßt werden. In dieser Verlegenheit hatte sich der Rektor der Universität, der Mathematiker Runge, ins Mittel gelegt. Er erklärte, er könne ein geeignetes Lokal – eben den Carcer – zur Verfügung stellen. Professor Runge war ein gütiger und edler Mensch, Patriot, aber kein Nationalist. (Er hatte alles, was er an Barvermögen besaß, in Kriegsanleihe verwandelt in dem Gedanken: Wenn Deutschland zu Grunde geht, brauchen wir auch unser Privatvermögen nicht mehr.) Für Bell trat er aber nicht nur aus Gerechtigkeitssinn und Menschenfreundlichkeit ein, sondern aus persönlichen Gründen. Bell war mit seinen beiden Söhnen Wilhelm und Bernhard befreundet. Es war wohl eine Art Führerverhältnis, denn er war ganz erheblich älter als sie. Die beiden Brüder waren in das Göttinger Freiwilligenregiment eingetreten und Bernhard war 17jährig in Flandern gefallen. Seine Eltern erhielten seine Briefe; darunter auch die, die ihm Bell ins Feld geschrieben hatte. Daraus sahen sie erst, wie liebevoll er sich um ihn angenommen hatte und sahen ihn nun selbst wie einen Sohn an.
Nach jenem Besuch im Carcer hörte ich einige Monate nichts mehr von Bell. Im Januar begegnete ich ihm plötzlich auf der Straße. Er machte mit Runges einen Spaziergang, ich hatte Erika Gothe bei mir. Er kam sofort von der andern Straßenseite zu uns herüber und erzählte von seinen jüngsten Erlebnissen. Man hatte ihn nicht lange in dem freundlichen Carcer gelassen. Seine »Freunde«, die Philologen, fanden, daß er kein Anrecht auf diesen Aufenthalt habe, da er ja von der Universität verwiesen sei. Er wurde nun ins Gefängnis nach Hannover gebracht. Dort brauchte er aber auch nur zwei Wochen zu bleiben. Professor Runge hatte eine Eingabe gemacht und sich die Erlaubnis erwirkt, ihn in sein Haus aufzunehmen. Er selbst leistete Bürgschaft für ihn, in seiner Begleitung durfte er auch ausgehen. Doch auch diese glückliche Lösung dauerte nicht lange. Einige Wochen später wurde die Internierung aller Kolonialengländer verfügt. Bell kam in das große Konzentrationslager nach Ruhleben und mußte bis zum Ende des Krieges dort bleiben.
Ich war in der zweiten Oktoberhälfte nach Göttingen gekommen. Nelli hatte mir ihre Wohnung mit allem Hausrat zur Verfügung gestellt. Da sie selbst keinen Genuß davon haben konnte, sollte ich mich daran freuen. Ich ließ also meine Sachen von der Schillerstr. 32 nach Nr. 42 bringen. Es war ein ziemlich neues, zweistöckiges Häuschen. Im Erdgeschoß wohnte das Ehepaar Pabst, dem das Haus gehörte. Den ersten und zweiten Stock hatten Courants gemietet. Das war nun mein Reich. Im ersten Stock waren Speisezimmer, Empfangszimmer, Nellis Arbeitszimmer und Küche. Von diesen Räumen benützte ich nur die Küche. Mein Aufenthalt wurde der Oberstock: Richards Arbeitszimmer und das danebenliegende Schlafzimmer. Beide hatten die großen Fenster nach Süden mit freiem Ausblick über Gärten und Felder nach den »falschen Gleichen«, einem Hügelpaar, das den »richtigen Gleichen« ähnlich war. Jetzt im Winter konnte man von hier aus Sonnenaufgang und Sonnenuntergang sehen. Der mächtige Eichenschreibtisch war so vor die Fenster gerückt, daß man beim Arbeiten die Aussicht vor sich hatte. Rechts neben dem Schreibtisch stand an der Wand eine Chaiselongue, darüber hing Rembrandts »Mann mit dem Goldhelm«. Die andern Wände waren mit Büchern bestellt. Es war nicht nur mathematische Fachliteratur, sondern vieles dabei, was ich brauchen konnte. In der Ecke zwischen den beiden Bücherwänden stand ein rundes Tischchen. Das benützte ich abends als Eßtisch.
Natürlich mußte ich jemanden haben, der die Zimmer reinhielt; außerdem hatte ich für die Bedienung der Zentralheizung zu sorgen, da Pabsts ihre Heizkörper