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und der Eindruck verstärkte sich, daß ich mich an etwas herangewagt hätte, was über meine Kräfte ging.

      Ich traf Lipps damals manchmal mit einem seiner Bekannten beim Mittagessen. Ich hatte in jenen Monaten kein Stammlokal, sondern ging – wenn überhaupt – dann zu irgendeinem Mittagstisch, der mir gerade am Wege lag. Wenn die beiden mich bemerkten, mußte ich mich mit ihnen an ihren Tisch setzen; das war dann auch eine kurze Zeit der Entspannung. Einmal entschuldigte sich Lipps, daß er mich hinterher nicht nach der Schillerstraße begleitete. Er müsse jetzt schnell nach Hause gehen und sich schlafen legen. Er probiere es eben aus, möglichst viel zu schlafen und die übrige Zeit ganz konzentriert zu arbeiten. Auf 14 Stunden Schlaf habe er es schon gebracht, er hoffe aber allmählich bis zu 21 zu gelangen. Er führte in jenem Winter den Vorsitz in der Philosophischen Gesellschaft; gegen Ende des Semesters mußte er die Vorbereitungen für Schelers Gastvorlesungen treffen und war sehr dankbar, daß ich auch meine Bekannten darauf hinwies. Im Sommer aber wollte er nicht wiederkommen, er wollte dann zu Hering nach Straßburg gehen. Es tat mir sehr leid, als ich das hörte. Ich dachte, ich würde mir noch verlorener vorkommen, wenn keine Aussicht mehr bestand, seine hohe Gestalt und seine marineblaue Jacke irgendwo auftauchen zu sehen.

      Kurz vor Weihnachten wurde der ganze Schülerkreis bei Reinachs zum Abendessen eingeladen. Ich hatte Frau Dr. Reinach bisher keinen Besuch gemacht, wie es die älteren Studentinnen taten. Vom Sehen kannte ich sie aus der Vorlesung ihres Mannes, die sie regelmäßig besuchte. Sie war groß und sehr schlank, ihre Bewegungen hatten etwas von der Anmut eines Rehs. Am meisten entzückte uns ihr unverfälschter schwäbischer Dialekt. Einmal ging sie den Steinsgraben hinauf vor mir her, als ich Reinach besuchen wollte. Vor der Tür zu ihrer Wohnung drehte sie sich um, begrüßte mich freundlich und sagte: »Sie wollen gewiß zu meinem Mann.« Dann nahm sie mich mit hinein und meldete mich gleich selbst bei ihm an. Nach Jahren erzählte sie mir, was ich damals nicht bemerkt hatte: Reinach hatte damals oben am Fenster gestanden und ihr entgegengesehen; sie rief nun halblaut hinauf: Adole (die Koseform von Adolf), Büble, Herzle! Er winkte entsetzt ab, weil er mich hinterherkommen sah, und machte ihr oben Vorwürfe, wie sie ihn so vor einer Schülerin blamieren könne.

      An jenem Abend wurden wir im Salon empfangen, der mit seinen großen silbergrauen Plüschsesseln sehr vornehm, aber weniger behaglich wirkte als die andern Räume. Zum Essen wurden wir in Reinachs Arbeitszimmer gerufen – wohl, weil es geräumiger und heimeliger war als das Speisezimmer. Es war an kleinen Tischen gedeckt, und auf jedem stand ein brennendes Bäumchen; kein elektrisches Licht störte den warmen Kerzenschein. Wir standen vor dem entzückenden Anblick überrascht wie Kinder am Weihnachtsabend. Da unter den Gästen nur 3 Damen waren, bestimmte Frau Reinach, daß jede sich an ein Tischchen setzen sollte; die Herren sollten sich dann nach eigener Wahl dazufinden. Sie selbst mußte den größten Tisch wählen, da die Hausfrau natürlich den Hauptanziehungspunkt bildete. Dort ging es auch am lustigsten zu. Einmal schnappte ich etwas von der Unterhaltung auf: Man sprach vom »Kampf um Rom« – wahrscheinlich, mit welcher Begeisterung man früher die vier Bände verschlungen habe. Da tönte Frau Reinachs Stimme durchs ganze Zimmer: »Den hab' i nie kriegt!« Ich hatte das kleinste Tischchen gewählt, an dem nur drei Plätze waren. Meine Kavaliere waren Edwin Oakford, ein reicher Amerikaner, der auch in Lehmanns Kolleg mein Nachbar war, und Dr. Mense, den ich aus der Philosophischen Gesellschaft kannte – ein etwas düster und unstet aussehender Mensch, von dem wir später nie mehr etwas hörten.

      Solche geselligen Veranstaltungen waren damals Lichtpunkte für mich. Ich freute mich lange darauf und zehrte hinterher davon. Sie boten mir auch Stoff für meine Wochenberichte nach Hause, da ich von meinen Sorgen und Schmerzen doch nicht schreiben mochte.

      In den Weihnachtsferien traf ich mich mit meiner Mutter in Hamburg. Die Freude über das Wiedersehen war bei uns beiden groß. Dennoch war es ein sehr trüber Aufenthalt. Wir bemerkten die Gewitterstimmung im Hause, die dauernde Gereiztheit meines Schwagers, der sonst stets so gastfreundlich gewesen war. Es war nicht möglich, ein friedliches Gespräch bei Tisch zu führen. Wenige Monate später kam es zu jener Ehekrisis, von der ich früher berichtet habe. Von meinen Schwierigkeiten sagte ich meiner guten Mutter kein Wort. Sie hätte mich sofort mit nach Hause nehmen wollen, wenn sie etwas davon geahnt hätte.

      Der Einzige, der wußte, daß ich mit dem Fortgang meiner Arbeit nicht zufrieden war – ohne aber zu vermuten, welche seelischen Qualen mir das bereitete –, war Moskiewicz. Der Arme konnte mir natürlich selbst nicht helfen, aber einige Wochen vor Semesterschluß sagte er zu mir: »Warum gehen Sie eigentlich nicht einmal zu Reinach?« Und er redete mir so lange zu, bis ich mich entschloß, seinem Rat zu folgen. Am nächsten Freitag, nach den Übungen, fragte ich, statt mich zu verabschieden, ob ich Reinach noch einen Augenblick allein sprechen könnte. Er sagte freundlich zu, aber ich mußte etwas warten, da noch andere Leute mit persönlichen Anliegen da waren. Er ging mit einem von ihnen in ein anderes Zimmer. Nach einer Weile holte er mich. Nun sagte ich ihm, daß ich gern einmal über meine Arbeit sprechen würde. »Aber es ist alles noch so unklar!«, fügte ich kleinlaut hinzu. »Nun, über die Unklarheiten wird man sich doch klarwerden können«, erwiderte er. Das klang so herzlich und so fröhlich aufmunternd, daß ich mich schon etwas getröstet fühlte. Ich wurde zu einer ausführlichen Unterredung bestellt – ich weiß nicht mehr, ob schon für den nächsten Morgen. Als ich mit beklommenem Herzen kam, wurde ich in den bequemsten Klubsessel, dem Schreibtisch gegenüber, genötigt. Nun berichtete ich von den Stoffmassen, die ich angesammelt hatte, und von dem Plan, der mir vorschwebte, um in dieses Chaos Ordnung zu bringen. Reinach fand, daß ich doch schon sehr weit gekommen sei, und redete mir eindringlich zu, jetzt mit der Ausarbeitung zu beginnen. Es waren noch drei Wochen bis zum Semesterschluß. Dann sollte ich wiederkommen und berichten, was ich zustandegebracht hätte. Das war ein großer Entschluß, aber ich ging unverzüglich an die Ausführung. Es kostete eine so große geistige Anspannung wie noch nichts, was ich bisher gearbeitet hatte. Ich glaube, es kann sich davon kaum jemand eine Vorstellung machen, der nicht selbst schon schöpferisch-philosophisch gearbeitet hat. Dabei erinnere ich mich nicht, daß ich damals schon etwas von jenem tiefen Glück empfunden hätte, wie ich es später stets beim Arbeiten fühlte, wenn einmal die erste schmerzhafte Anstrengung überwunden war. Ich hatte noch nicht jene Stufe der Klarheit erreicht, auf der der Geist in einer gewonnenen Einsicht ruhen kann, von da aus neue Wege sich öffnen sieht und sicher fortschreitet. Ich tastete wie im Nebel voran. Was ich niederschrieb, erschien mir selbst seltsam, und wenn jemand anderer alles für Unsinn erklärt hätte, so hätte ich ihm sofort geglaubt. Vor einer Schwierigkeit blieb ich bewahrt: Ich brauchte kaum je nach Worten zu suchen. Die Gedanken formten sich mir wie von selbst leicht und sicher zum sprachlichen Ausdruck und standen dann so fest und bestimmt auf dem Papier, daß der Leser von den Schmerzen dieser geistigen Geburt keine Spur mehr fand. Ich verbrachte jede Stunde, die ich dafür erübrigen konnte, an meinem kleinen Schreibtisch. Nach Ablauf der drei Wochen hatte ich etwa 30 große Aktenseiten voll. Nun ging ich zu Reinach. Es war am Morgen. In seinem Arbeitszimmer war noch der Frühstückstisch gedeckt. Ich hatte mein Manuskript mitgebracht und wollte Reinach bitten, es dazubehalten und durchzusehen. Zu meiner großen Überraschung forderte er mich auf, dazubleiben; er wolle es sofort lesen. Mir gab er indessen Hegels »Phänomenologie des Geistes«, die gerade auf seinem Schreibtisch lag, zur Unterhaltung. Ich schlug das Buch auf und versuchte, etwas zu lesen, aber es war mir unmöglich, meine Aufmerksamkeit darauf zu richten. Es war doch zu aufregend, dabei zu sitzen, während mein Richter sich den Urteilsspruch über mein Werk zu bilden suchte. Er las eifrig, nickte manchmal beifällig, ließ auch bisweilen einen Ausruf der Zustimmung hören. Erstaunlich schnell war er fertig. »Sehr schön, Fräulein Stein«, sagte er. War es möglich? Ja, er hatte wirklich nichts auszusetzen und redete mir nur zu, die Arbeit nicht zu unterbrechen. Ob ich nicht in Göttingen bleiben könnte, bis ich fertig wäre? Zu Hause wäre ich doch gewiß nicht so ungestört. Er wisse ja, wie es sei, wenn er nach Mainz komme. Dann müsse man alle Tanten besuchen. Ich war sofort entschlossen, seinem Rat zu folgen. Er war eben im Begriff, zu seinen Eltern nach Mainz zu fahren, aber nur für etwa acht Tage. Wenn ich fertig wäre, könnte ich ihm den zweiten Teil meiner Arbeit bringen.

      Die Ferien begannen, und Göttingen wurde leer. Ich blieb allein zurück und saß in meinem Stübchen am Schreibtisch. Da ich keine Vorlesungen mehr hatte, konnte ich fast ohne Unterbrechung schreiben. Nach einer Woche war ich fertig. Es war etwa acht Uhr abends, ein

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