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Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften
Год выпуска 0
isbn 9788075830890
Автор произведения Edith Stein
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Von den Philosophen hörte ich außer den Phänomenologen noch Leonard Nelson. Er war noch jung, kaum über 30 Jahre alt, aber schon in ganz Deutschland berühmt oder eher berüchtigt durch sein Buch über »das sogenannte Erkenntnisproblem«. Darin hatte er mit großem Scharfsinn alle bedeutenderen Vertreter der neuzeitlichen Erkenntnistheorie einen nach dem andern durch Nachweis formaler Widersprüche »getötet«. In seinem Kolleg – ich hörte seine »Kritik der praktischen Vernunft« – verfuhr er nicht glimpflicher. Er hatte zwei schematische Zeichnungen zur Darstellung der typischen Widersprüche; sie wurden fast jede Stunde für neue Gegner an die Tafel gemalt und hießen bei den Hörern die »Guillotine«. Der einzig Überlebende auf dem Schlachtfeld war der Kant-Schüler Fries, nach dem Nelson seine eigene Philosophie benannte. Seine Ethik gipfelte in der Ableitung eines etwas abgewandelten kategorischen Imperativs. Überhaupt war die ganze Vorlesung eine lückenlose Deduktion aus einigen vorausgeschickten Thesen. Seinen Schlußfolgerungen konnte man sich schwer entziehen, aber ich hatte durchaus den Eindruck, daß in den Voraussetzungen Fehler steckten. Das Gefährliche war, daß er das, was er in seiner Ethik theoretisch ableitete, auch unweigerlich praktisch durchführte und dasselbe von seinen Schülern verlangte. Er hatte einen Kreis von jungen Menschen um sich (hauptsächlich Jugendbewegte), die sich ganz von ihm führen ließen und ihr Leben nach seinen Leitsätzen gestalteten. Richard Courant, der zeitweise selbst stark unter seinem Einfluß gestanden hatte, pflegte zu sagen: »Wie die Corpsstudenten zum Frühschoppen gehen, so gehen die Freischärler ins Nelsonkolleg.« Er war eine echte Führernatur; die Festigkeit seines Charakters, die Unbeugsamkeit seines Willens, die stille Leidenschaft seines sittlichen Idealismus gaben ihm Macht über andere. Äußerlich hatte er wenig Bestechendes. Er war groß und breitschultrig, sein Gang war schwer, schwer lagen die Lider über den hellblauen Augen, und auch seine Sprache klang schwer und etwas müde trotz der Entschiedenheit und dem Nachdruck, womit er alles vorbrachte. Das Gesicht war häßlich, aber anziehend; das Schönste an ihm waren die dichten, welligen blonden Haare. Er sprach ganz nüchtern und trocken; den Hauptgedankengang skizzierte er an die Tafel; der Schrift und den schematischen Zeichnungen sah man es an, daß er die Hand eines Malers hatte.
Es gab wenige Menschen, die er seines Verkehrs würdigte, ohne daß sie sich seiner Philosophie und seiner Lebensweise bedingungslos verschrieben. Zu diesen Wenigen gehörte Rosa Heine, eine russische Jüdin, die schon seit Jahren in Göttingen Psychologie studierte. Ich hatte sie im Psychologischen Institut kennen gelernt, und eines Tages, als ich auf der Straße mit ihr ging, begegneten wir Nelson. Sie begrüßte ihn, stellte mich vor und erklärte, wir müßten uns nun miteinander aussprechen. Darauf verabschiedete sie sich und ließ uns allein weitergehen. Nelson kannte mich vom Sehen aus seinem Kolleg und wollte gern hören, was ich dazu sagte, denn er wußte, daß ich Husserlschülerin sei, und es verlor sich nicht oft jemand aus diesem Lager zu ihm. Er selbst kannte Husserls Schriften nicht genau und erklärte, es koste zuviel Zeit, sich in dessen schwierige neue Terminologie hineinzufinden. Ich fragte, ob er sich nicht einmal mit Reinach auseinandergesetzt habe; das ginge doch leichter. »Reinach ist klarer, aber dafür ist er weniger tief«, lautete die bündige Antwort. Damit war unser Gespräch zu Ende, denn wir waren vor dem Verlag von Vandenhoeck und Ruprecht angelangt, dem er zusteuerte. Es dauerte Jahre, bis ich noch einmal persönlich mit ihm zusammentraf.
Im Psychologischen Institut hörte ich »Psychophysik der Augenempfindungen« bei Georg Elias Müller, einem Veteranen der alten, rein naturwissenschaftlich verfahrenden Methode. Es war eine Exaktheit darin, die mich anzog und mir vertrauenswürdiger war als das, was ich bei Stern kennengelernt hatte. Aber ich hatte daran nur Freude wie an theoretischer Physik oder Mathematik: Es waren Arbeitsgebiete, über die ich mich gern unterrichten ließ, in denen aber für mich persönlich keine Aufgaben lagen. Müller war ein rabiater Gegner der Phänomenologie, weil es für ihn etwas anderes als Erfahrungswissenschaft nicht gab. Husserl dagegen empfahl uns, bei ihm zu hören, weil er Wert darauf legte, daß wir die Methoden der positiven Wissenschaften kennenlernten. David Katz, der als Privatdozent neben Müller im Institut wirkte, hatte sich in seiner Studienzeit auch mit Phänomenologie beschäftigt, und man merkte es seinen Vorlesungen an, daß sie davon befruchtet waren. Durch Moskiewicz und Rosa Heine (mit der er sich später verheiratete) lernte ich ihn auch persönlich kennen. Der Betrieb im Institut war sehr eigenartig. Müller hatte eine ganze Reihe von Schülern, die bei ihm promovieren wollten, obgleich das keine einfache Sache war. Es dauerte oft Monate, ehe man nur die Versuchsanordnung und die nötigen Apparate zusammenhatte. Keiner sagte dem andern, was er für eine Arbeit machte. In den verschiedenen Versuchsräumen des alten Gebäudes in der Paulinerstraße wirkten sie an ihren Maschinen geheimnisvoll herum. Einige Zeit diente ich einem dänischen Psychologen als Versuchsperson. Ich saß im verdunkelten Zimmer vor einem Tachystoskop, bekam nacheinander eine Reihe von verschiedenen grünen, leuchtenden Figuren jeweils einen Augenblick gezeigt und mußte nachher angeben, was ich gesehen hatte. Daran merkte ich, daß es sich um das Wiedererkennen von Figuren handelte, aber näheren Aufschluß erhielt ich nicht. Wir Phänomenologen lachten über diese Geheimniskrämerei und freuten uns unseres freien Gedankenaustausches: Wir hatten keine Furcht, daß einer dem andern seine Ergebnisse wegschnappen könnte.
Neben der Philosophie war mir in Göttingen das Wichtigste die Arbeit bei Max Lehmann. Ich hatte in Breslau schon sein großes Werk über den Freiherrn vom Stein durchgearbeitet und freute mich, ihn persönlich kennenzulernen. Ich hörte sein großes Kolleg über das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung und ein einstündiges über Bismarck. Ich freute mich an seiner Art, europäisch zu denken, einem Erbteil seines großen Lehrers Ranke, und war stolz, durch ihn eine Enkelschülerin von Ranke zu werden. Mit seinen Auffassungen konnte ich freilich nicht in allem übereinstimmen. Als alter Hannoveraner war er stark antipreußisch gesinnt; der englische Liberalismus war sein Ideal. Besonders stark trat das natürlich in der Bismarckvorlesung hervor. Da mich Einseitigkeiten immer dazu anregten, der Gegenseite gerechtzuwerden, wurde ich mir hier mehr als daheim der Vorzüge des preußischen Wesens bewußt und wurde in meinem Preußentum bestärkt.
Ich habe schon erwähnt, daß ich auf Reinachs Übungen verzichtete, um das gleichzeitige Lehmannsche Seminar mitzumachen. Allerdings bereute ich es fast, als ich merkte, welche Arbeitsanforderungen hier gestellt wurden; denn soviel Zeit hatte ich in Göttingen nicht auf das Geschichtsstudium verwenden wollen. Unsere Aufgabe für das ganze Semester war ein Vergleich der damaligen deutschen Reichsverfassung mit dem Verfassungsentwurf von 1849. Die wichtigsten Bücher für das Studium dieser Frage waren in einem kleinen Arbeitszimmer neben dem großen Übungsraum für unsern Gebrauch zusammengestellt. Ich habe manche Stunde dort zugebracht. Die peinlichste Überraschung aber war, daß jedes neue Mitglied eine große schriftliche Arbeit übernehmen mußte. Die Themen wurden gleich in der ersten Stunde verteilt, und zwar so, daß je zwei – möglichst ein Herr und eine Dame – dasselbe zu bearbeiten hatten. Auch der Ablieferungstermin wurde sofort festgesetzt. In der zweiten Semesterhälfte wurden die Arbeiten in den Seminarsitzungen besprochen. Dazu mußten die beiden Opfer an dem großen hufeisenförmigen Tisch die Plätze Lehmann gegenüber einnehmen und Rede und Antwort stehen. Das war für ihn die Gelegenheit, einen gründlich persönlich kennenzulernen. Er hatte sehr schwache Augen und konnte uns nicht sehen, wenn wir entfernter saßen. Zu Beginn jedes Semesters ließ er sich die Tische aufzeichnen und den Namen jedes Teilnehmers an seinem Platz eintragen.