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betrieb er zur Ausfüllung der Stunden, in denen man nicht philosophieren konnte. Manches andere lag schon hinter ihm. Er hatte als Innenarchitekt und Kunstgewerbler begonnen, aber das konnte ihn nicht ausfüllen. Immerhin bastelte er auch später noch gern, und ein stark ausgeprägter künstlerischer Zug gehörte zu seiner Natur. Während er als Dragoner im Leibgarderegiment in Dresden sein Jahr abdiente, lernte er die »Logischen Untersuchungen« kennen, und das wurde für ihn der Anfang eines neuen Lebens. So war er nach Göttingen gekommen. Er war der Einzige aus dem Kreis, der mit dem armen Mos öfters persönlich zusammenkam und ihn liebhatte. Die andern machten sich heimlich über seine Unsicherheit und seine ewig ungelösten Fragen lustig.

      Bei den bisher Genannten war die Philosophie das eigentliche Lebenselement, wenn sie auch anderes außerdem studierten. Dazu kamen einige andere, bei denen es umgekehrt war: Ihre Spezialwissenschaft war ihnen die Hauptsache, aber sie wurde von der Phänomenologie wesentlich befruchtet. Dazu gehörten die Germanisten Friedrich Neumann und Günther Müller, die später beide verhältnismäßig früh ein Ordinariat in ihrem Fach erreicht haben. Auch zwei Damen waren seit einer Reihe von Semestern Mitglieder der Philosophischen Gesellschaft: Grete Ortmann und Erika Gothe. Sie waren erheblich älter als ich; beide hatten schon einige Zeit Schultätigkeit hinter sich, ehe sie sich entschlossen, zur Universität zu gehen. Sie stammten aus Mecklenburg: Fräulein Gothe aus Schwerin, Fräulein Ortmann von einem Gut. Sie war ein kleines, schmächtiges Persönchen, trat aber mit solchem Gewicht auf, daß ihr Mantel meist bis hoch hinauf vom Göttinger Straßenschmutz bespritzt war. Ebenso sprach sie mit großer Eindringlichkeit, aber der Inhalt der Sätze, die wie feierliche Verkündigungen klangen, kam mir oft recht trivial vor. Sie sprach aber nicht oft, sondern hörte in den Seminaren und in der Philosophischen Gesellschaft mit dem Ausdruck schwärmerischer Andacht in ihren großen blauen Augen zu. Bei ihr erschien mir das komisch. Bei Erika Gothe dagegen zog mich die Haltung ehrfürchtigen Schweigens an. Fräulein Ortmann ließ sofort deutlich merken, daß ich ihr sehr unsympathisch sei. Sie selbst erzählte mir später in einer vertraulichen Stunde, Reinach habe ihr einmal eindringlich ins Gewissen geredet, warum sie so unfreundlich gegen Fräulein Stein sei, die sei doch so nett. Sie habe als Begründung angegeben: »Sie redet immer einfach mit. Und die Sachen sind doch so schwer.« Übrigens hatte mich Mos gleich in der ersten Sitzung gebeten, die Protokollführung zu übernehmen, und ich hatte mich unbedenklich dazu bereiterklärt. Von den andern schien niemand an meiner Aktivität Anstoß zu nehmen. Sie waren sehr freundlich gegen mich und nahmen meine Diskussionsbemerkungen durchaus ernst. Immerhin hatte Fräulein Ortmanns Verhalten zur Folge, daß es zunächst zu keinem näheren persönlichen Verkehr mit dem ganzen Kreis kam. Sie und Erika Gothe schienen unzertrennlich. Und es wäre die Aufgabe der Damen gewesen, mich näher heranzuziehen. Ich vermißte es in diesem Sommer nicht, weil mein Bedarf an menschlichen Beziehungen durch die Breslauer Bekannten reichlich gedeckt war. Außerdem erfuhr ich erst viel später von dem, was sich außerhalb der Philosophischen Gesellschaft und der Universität abspielte, und konnte daher gar nicht merken, daß ich ausgeschaltet war.

      Außer Rose und mir gab es noch einige neu eingeführte Mitglieder. Betty Heymann war eine Hamburger Jüdin, klein und nicht ganz normal gewachsen, das feine, zarte Gesicht etwas entstellt durch zu große Zähne, die schönen Augen ungewöhnlich klug und klar. Sie war Schülerin von Georg Simmel, hatte auch vor, bei ihm zu promovieren, und kam zunächst nur für ein Semester, um auch Husserl kennenzulernen. Ebenso hatte Fritz Kaufmann schon eine philosophische Vergangenheit, auf die er mit einigem Stolz zurückblickte. Er kam aus Marburg von Natorp und hatte schon soviel Neukantianismus in sich aufgenommen, daß ihm das Einleben in die phänomenologische Methode Schwierigkeiten machte. Er war der älteste Sohn einer offenbar sehr wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie aus Leipzig. Da er noch zwei jüngere Brüder hatte, die das väterliche Geschäft übernehmen konnten, durfte er sich ganz der Philosophie widmen und geradewegs auf die Hochschullaufbahn zusteuern. Er war wohl der Einzige von uns, der auf gar kein Brotstudium Rücksicht zu nehmen hatte. In diesem Kreise, wo man sonst um äußere Dinge sehr unbekümmert war, fiel seine elegante Kleidung sehr auf. Alle freuten sich im stillen, als einmal sein Nachbar im Seminar, ein Amerikaner, recht energisch die Füllfeder ausspritzte und Kaufmann sichtlich besorgt um seinen hellgrauen Anzug war. Seine Sprache war ein tadellos reines Hochdeutsch ohne den leisesten sächsischen Anflug, während Lipps zu seinem größten Kummer den Sachsen schon mit den ersten Worten verriet. (Er wollte durchaus keiner sein, sondern betonte immer, er sei Preuße, da er von seinem Vater die preußische Staatsangehörigkeit geerbt habe.)

      An dem Tage, an dem wir die Vorbesprechung bei Husserl hatten, gingen Rose und ich nachmittags zum erstenmal auf den Bismarckturm. Während wir unterwegs eifrig Veilchen pflückten, holte uns Kaufmann ein. Er erkannte uns von der Begegnung am Morgen wieder, grüßte und sagte freundlich: »Es sind eine Menge Veilchen da.« Damit war das erste Gespräch eingeleitet. Ich war sehr erstaunt, als er mir gelegentlich erzählte, Reinach habe ihn beim ersten Besuch »beinahe hinausgeworfen« und ihm die Aufnahme in seine Übungen entschieden verweigert. Bisher war mir gar nicht der Gedanke gekommen, daß die Güte, mit der ich empfangen wurde, eine persönliche Auszeichnung sein könnte. Als ich später an Reinachs Übungen teilnahm, fand ich die Erklärung. Reinach wehrte bei aller Güte und Freundlichkeit jede Anmaßung, der er begegnete, sehr ernst ab. Und Kaufmann mochte sich mit einigem Selbstbewußtsein bei ihm vorgestellt haben. Er schadete sich durch diese Haltung und durch eine gewisse Manieriertheit in seiner Sprache bei fast allen. Ich merkte aber ziemlich bald, daß dies nur die Oberfläche war. Ich nahm es mir heraus, ihn manchmal recht kräftig zu necken, ohne von seiner zur Schau getragenen Würde Notiz zu nehmen. Dann guckte er sehr erstaunt wie bei etwas ganz Ungewohntem, aber es schien ihm gutzutun; er taute allmählich auf, und es kam vor, daß sein Ton ganz schlicht und herzlich wurde.

      Es gab in Husserls Seminar auch Leute, die bei ihm persönlich arbeiteten, aber nicht in die Philosophische Gesellschaft kamen. Als ich bald nach Semesterbeginn einen Abend bei Courants eingeladen war, sagte Richard: »Wenn du in Husserls Seminar bist, mußt du doch Bell kennengelernt haben.« Er sei ein Kanadier. Ich hatte einige Amerikaner und Engländer bemerkt, wußte aber nicht, welchen er meinte. »Er ist der netteste Student in Göttingen. Du wirst ihn bestimmt herausfinden.« Bald danach sah ich auf der Rampe des Auditorienhauses einen Studenten in Sportanzug und ohne Hut stehen. Er schien nach jemandem auszublicken und hatte etwas gewinnend Freies und Ungezwungenes in seiner Haltung. »Das ist Bell«, dachte ich. Und es stimmte auch. Er kam nicht viel mit den andern Phänomenologen zusammen. Die Amerikaner und Engländer in Göttingen bildeten eigene Kolonien und hielten sehr zusammen. Außerdem hatte er einen Freundeskreis, der nicht durch das Fachstudium bestimmt war. Dazu gehörte mein Vetter. Durch ihn erfuhr ich auch Bells Vorgeschichte. Er war ursprünglich Ingenieur, aber bei Fahrten im nördlichen Eismeer – seine Heimat war Halifax – hatte er angefangen zu philosophieren. Er kam dann zunächst zum Studium nach England, später nach Deutschland. Er selbst erzählte mir gelegentlich, daß ihn eine Rezension von Moritz Schlick auf die »Logischen Untersuchungen« aufmerksam gemacht und nach Göttingen geführt habe. Jetzt war er schon seit drei Jahren da und machte bei Husserl eine Doktorarbeit über den amerikanischen Philosophen Royce. Er war schon 31 Jahre alt, sah aber sehr viel jünger aus.

      Als Gegenstand der Besprechungen in der Philosophischen Gesellschaft wählten wir für jenen Sommer das zweite große Werk. das damals im Jahrbuch erschienen war und das auf das gesamte Geistesleben der letzten Jahrzehnte vielleicht noch stärker eingewirkt hat als Husserls »Ideen«: Max Schelers »Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik«. Die jungen Phänomenologen standen sehr unter Schelers Einfluß; manche – wie Hildebrand und Clemens – hielten sich mehr an ihn als an Husserl. Er war damals persönlich in einer sehr üblen Lage. Seine erste Frau, von der er sich scheiden ließ, hatte ihn in München in einen Skandalprozess verwickelt. Das belastende Material, das dabei zu Tage kam, hatte zur Folge, daß ihm die Universität die venia legendi entzog. So war ihm die Lehrtätigkeit genommen; außerdem war er ohne festes Einkommen, lebte von seiner Schriftstellerei – meist in Berlin, mit seiner zweiten Frau (Märit Furtwängler) in einem bescheidenen Pensionszimmer, oft auch auf Reisen.

      Die Philosophische Gesellschaft lud ihn jedes Semester für ein paar Wochen zu Vorlesungen nach Göttingen ein. Er durfte nicht in der Universität sprechen, wir durften auch die Vorträge nicht durch Anschlag am Schwarzen Brett bekanntgeben, sondern

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