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Sonst hatten wir fast immer noch einen Begleiter mit: Dr. Erich Danziger, Assistent am Chemischen Institut. Er stammte aus Breslau; Rose hatte ihn dort beim Chemiestudium kennengelernt. Er war klein und unansehnlich und etwas linkisch; aber Rose erzählte, er habe die geschicktesten Hände im ganzen Institut gehabt und sei immer zu Hilfe gerufen worden, wenn etwas besonders zart behandelt werden mußte. Es lag immer ein Druck auf ihm, wohl die Folge sehr trauriger häuslicher Verhältnisse: Seine Mutter war seit vielen Jahren dauernd in einer Nervenheilanstalt; er und seine einzige Schwester waren fast wie Waisenkinder aufgewachsen. Jetzt schloß er sich ganz an uns beide an, andern Verkehr hatte er kaum. Er war ein herzensguter und treuer Mensch. (Es schien mir, daß er eine stille Neigung für Rose hatte, aber gar nicht zu denken wagte, daß dieses geistvolle und elegante Mädchen für ihn in Betracht kommen könnte.) Es bedrückte ihn aber immer etwas, daß er außerhalb der philosophischen Welt stand, in der wir lebten.

      Etwas später als wir war auch Georg Moskiewicz angekommen. Er war erheblich älter als wir; im Mai feierten wir zusammen seinen 35.Geburtstag. Er bezog keine Studentenbude, sondern zwei geräumige, gut möblierte Zimmer in dem stillen Kirchweg in der Nähe der Kliniken. So entsprach es seiner Würde als Dr. med. et phil. und angehender Privatdozent. Doch auch für ihn waren wir der menschliche Halt. An unsern Ausflügen nahm er selten teil, weil zu einem solchen Unternehmen ein Entschluß nötig war, und den brachte er nicht leicht fertig. Wenn er aber mitkam, dann war er fröhlich, ja übermütig wie ein kleiner Junge. Bei ihm war es ganz deutlich, daß er eine tiefe Neigung zu Rose gefaßt hatte. Aber wie konnte er es bei der Ungewißheit seiner Zukunft wagen, sie an sich zu binden? Mit mir verband ihn herzliche Freundschaft und das gemeinsame philosophische Interesse.

      Damit komme ich von den vielen Nebenumständen endlich zu der Hauptsache, die mich nach Göttingen geführt hatte: die Phänomenologie und die Phänomenologen. In Breslau hatte mir Mos die Anweisung gegeben: »Wenn man nach Göttingen kommt, geht man zuerst zu Reinach; der besorgt dann alles Übrige.« Adolf Reinach war Privatdozent für Philosophie. Er und seine Freunde Hans Theodor Conrad, Moritz Geiger und einige andere waren ursprünglich Schüler von Theodor Lipps in München. Nach dem Erscheinen der »Logischen Untersuchungen« hatten sie darauf bestanden, daß Lipps dieses Werk mit ihnen in seinem Seminar besprach. Nachdem Husserl nach Göttingen berufen war, waren sie i.J. 1905 zusammen dorthingekommen, um sich von dem Meister selbst in die Geheimnisse der neuen Wissenschaft einweihen zu lassen. Das war der Anfang der »Göttinger Schule«. Reinach hatte sich als Erster aus diesem Kreise in Göttingen habilitiert und war nun Husserls rechte Hand, vor allem das Bindeglied zwischen ihm und den Studenten, da er sich vorzüglich auf Menschen verstand, während Husserl darin ziemlich hilflos war. Er war damals etwa 33J. alt.

      Ich befolgte Moskiewicz' guten Rat aufs Wort. Ich glaube, schon am Tage nach meiner Ankunft machte ich mich auf den Weg nach dem Steinsgraben 28. Diese Straße führt bis ganz an den Rand der Stadt. Das Haus, in dem Reinachs wohnten, war das letzte. Dahinter dehnte sich ein weites Kornfeld; ein schmaler Fußweg führte daran vorbei zum Kaiser-WilhelmPark hinauf, durch den man zum Bismarckturm und in den Göttinger Wald gelangte. Als ich nach Herrn Dr. Reinach fragte, führte mich das blonde Dienstmädchen in sein Arbeitszimmer und nahm meine Visitenkarte, um ihn zu rufen. Es war ein schöner, großer Raum mit zwei hohen Fenstern, dunklen Tapeten und braunen Eichenmöbeln. Die beiden Wände links vom Eingang waren fast bis zur Decke hinauf von Bücherregalen verdeckt. Auf der rechten Seite führte eine große Schiebetür mit bunten Glasscheiben zum Nebenzimmer. Die große Ecke zwischen dieser Tür und dem einen Fenster füllte der mächtige Schreibtisch. Rechts neben dem Schreibtisch und dem Schreibstuhl gegenüber standen Klubsessel für die Besucher bereit. In dem Winkel zwischen den beiden Bücherwänden war eine gemütliche Ecke hergerichtet: ein Tisch, ein Klubsofa und mehrere Sessel. Dem Schreibsessel gegenüber hing an der Wand eine große Reproduktion von Michelangelos »Erschaffung des Menschen«. Es war das behaglichste und geschmackvollste Arbeitszimmer, das ich je gesehen hatte. Reinach hatte ein halbes Jahr zuvor geheiratet, die ganze Einrichtung der ausgedehnten Wohnung war von seiner Frau mit der größten Liebe ausgedacht und nach ihren Weisungen angefertigt. Ich glaube übrigens nicht, daß ich beim ersten Besuch schon viel von diesen Einzelheiten erfaßte. Denn ich hatte nur wenige Augenblicke gewartet, als ich am Ende des langen Ganges einen Ausruf freudiger Überraschung hörte; dann kam jemand im Laufschritt daher, die Tür öffnete sich, und Reinach stand mir gegenüber. Er war kaum mittelgroß, nicht stark, aber breitschultrig. Ein bartloses Kinn, ein kurzes, dunkles Schnurrbärtchen, die Stirn breit und hoch. Durch die Gläser des ungefaßten Kneifers blickten die braunen Augen klug und überaus gütig. Er begrüßte mich mit herzlicher Liebenswürdigkeit, nötigte mich in den nächsten Klubsessel und nahm selbst schrägüber an seinem Schreibtisch Platz. »Dr. Moskiewicz hat mir von Ihnen geschrieben. Sie haben sich schon mit Phänomenologie beschäftigt?« (Er sprach mit starkem Mainzer Dialektanklang.) Ich gab kurz Auskunft. Er war sofort bereit, mich in seine »Übungen für Fortgeschrittene« aufzunehmen, konnte mir nur noch keinen Bescheid über Tag und Stunde geben, weil er das erst mit seinen Schülern vereinbaren wollte. Er versprach, mich bei Husserl anzukündigen. »Wollen Sie vielleicht jemanden von der ›Philosophischen Gesellschaft‹ kennenlernen? Ich könnte Sie den Damen vorstellen.« Ich meinte, er brauchte sich darum nicht eigens zu bemühen, Dr. Moskiewicz würde mich einführen. »Richtig! Dann lernen Sie ja bald alle kennen.«

      Ich war nach dieser ersten Begegnung sehr glücklich und von einer tiefen Dankbarkeit erfüllt. Es war mir, als sei mir noch nie ein Mensch mit einer so reinen Herzensgüte entgegengekommen. Daß die nächsten Angehörigen und Freunde, die einen jahrelang kennen, einem Liebe erweisen, schien mir selbstverständlich. Aber hier lag etwas ganz anderes vor. Es war wie ein erster Blick in eine ganz neue Welt. Nach einigen Tagen kam eine Postkarte mit der freundlichen Mitteilung, daß die Übungen für Montag abend 6–8 festgelegt seien. Leider hatte ich für diese Stunden schon etwas anderes, was ich nicht gern aufgeben wollte: das historische Seminar von Max Lehmann. So verzichtete ich, wenn auch sehr ungern. Bei Husserl machte ich zunächst keinen Antrittsbesuch in seiner Wohnung. Er hatte am Schwarzen Brett eine Vorbesprechung im Philosophischen Seminar angekündigt. Dort sollten sich auch die Neulinge zur Aufnahme vorstellen. Dort sah ich also zum erstenmal »den Husserl leibhaft vor mir stehen«. Es war nichts Auffallendes oder Überwältigendes in seiner äußeren Erscheinung. Ein vornehmer Professorentypus. Die Gestalt mittelgroß, die Haltung würdevoll, der Kopf schön und bedeutend. Die Sprache verriet sofort den geborenen Österreicher: Er stammte aus Mähren und hatte in Wien studiert. Auch seine heitere Liebenswürdigkeit hatte etwas vom alten Wien. Er hatte gerade sein 54.Jahr vollendet.

      Nach den allgemeinen Besprechungen rief er die Neuen einzeln zu sich heran. Als ich meinen Namen nannte, sagte er: »Herr Dr. Reinach hat mir von Ihnen gesprochen. Haben Sie schon etwas von meinen Sachen gelesen?« – »Die Logischen Untersuchungen.« – »Die ganzen Logischen Untersuchungen?« – »Den II.Band ganz.« – »Den ganzen II.Band? Nun, das ist eine Heldentat«, sagte er lächelnd. Damit war ich aufgenommen.

      Kurz vor Semesterbeginn war Husserls neues großes Werk erschienen: »Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie.« Es sollte im Seminar besprochen werden. Außerdem kündigte Husserl an, daß er regelmäßig an einem Nachmittag der Woche zu Hause sein wollte, damit wir zu ihm kommen und ihm unsere Fragen und Bedenken vortragen könnten. Natürlich kaufte ich mir das Buch sofort (d.h. den I.Band des »Jahrbuchs für Philosophie und phänomenologische Forschung«, den es eröffnete; dieses Jahrbuch sollte fortan die Arbeiten der Phänomenologen gesammelt herausbringen). Am ersten »offenen Nachmittag« fand ich mich als erster Gast bei Husserl ein und trug ihm meine Bedenken vor. Bald fanden sich andere dazu. Alle hatten dieselbe Frage auf dem Herzen. Die »Logischen Untersuchungen« hatten vor allem dadurch Eindruck gemacht, daß sie als eine radikale Abkehr vom kritischen Idealismus kantischer und neukantianischer Prägung erschienen. Man sah darin eine »neue Scholastik«, weil der Blick sich vom Subjekt ab- und den Sachen zuwendete: Die Erkenntnis schien wieder ein Empfangen, das von den Dingen sein Gesetz erhielt, nicht – wie im Kritizismus – ein Bestimmen, das den Dingen sein Gesetz aufnötigte. Alle jungen Phänomenologen waren entschiedene Realisten. Die »Ideen« aber enthielten einige Wendungen, die ganz danach klangen, als wollte ihr Meister zum Idealismus zurücklenken. Was er uns mündlich zur Deutung sagte, konnte die Bedenken nicht beschwichtigen. Es war der Anfang

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