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neben Hans am Flügel stand, begann plötzlich eine altbekannte, lebhafte Melodie. »Ist das nicht ein Dreher?«, fragte ich. Dieser Tanz war in unserer Studentenzeit aufgekommen, und ich hatte ihn von Hans gelernt. »Ja«, sagte er, »hast du etwa Lust zu tanzen? Ich habe es bisher nicht gewagt, dich zu bitten, weil es dir nicht gut war.« Wir fingen an und tanzten den ganzen etwas wilden Tanz durch. Als Hans mich dann zu einem Stuhl führen wollte, ging die Musik in einen langsamen Walzer über. »So«, sagte er, »jetzt müssen wir doch den Leuten zeigen, daß wir auch vornehm tanzen können«, und wir tanzten noch den ganzen Walzer durch. Es war für mich das letztemal, daß ich richtig tanzte. Nach Jahren habe ich es noch ein paarmal mit meinen Schülerinnen getan, wenn sie an Fastnacht sehr darum baten.

      Die kirchliche Trauung fand bei uns im Hause statt. Ich richtete mit meinem Bruder Arno zusammen den Saal dafür her. Bei den jüdischen Trauungen sitzt die Braut zunächst auf einem abgesonderten Platz, während der Bräutigam mit dem Rabbiner und den andern Männern – es müssen mindestens zehn sein – in einem andern Raum betet. Dann spricht der Rabbiner einen Segen über sie, ehe sie der Bräutigam in feierlichem Zuge zum eigentlichen Trauakt unter den »Brauthimmel« holt. Wir stellten den Sessel für Erna an einen Pfeiler zwischen zwei Fenster, wo sonst mein Schreibtisch stand. Darüber hing ein Bild des hl. Franziskus von Cimabue. »Das müssen wir wohl forttun«, sagte Arno in dem Gefühl, daß der Heilige wohl kein ganz passender Zeuge bei einer jüdischen Trauung sei. »Laß es ruhig hängen«, erwiderte ich, »es wird niemand darauf achten.« Es blieb an seinem Platz. Erna war eine ungewöhnlich schöne Braut. Auf dem liturgisch geschmückten Sessel zwischen grünen Pflanzen saß sie wie eine orientalische Prinzessin. Ich sah auf den hl. Franziskus über ihrem Kopf, und es war mir ein großer Trost, daß er da war.

      Das Brautpaar fuhr nach der Hochzeit ins Riesengebirge. Erna schrieb mir von dort aus einen überglücklichen Brief. Sie müßte mir sagen, wie schön es sei, weil sie wüßte, daß ich mich mit ihr freuen würde. Nun war ich beruhigt und fühlte mich frei, für mich selbst Sorge zu tragen.

      VII. Von den Studienjahren in Göttingen

       Inhaltsverzeichnis

      1.

      Es war ein weiter Weg, den ich zurückgelegt hatte von jenem Apriltage im Jahr 1913, an dem ich zum erstenmal nach Göttingen kam, bis zum März 1921, als ich wieder einmal dorthin fuhr – der größten Entscheidung meines Lebens entgegen. Das liebe alte Göttingen! Ich glaube, nur wer in den Jahren zwischen 1905 und 1914, der kurzen Blütezeit der Göttinger Phänomenologenschule, dort studiert hat, kann ermessen, was für uns in diesem Namen schwingt.

      Ich war 1913 21 Jahre alt und voller Erwartung dessen, was nun kommen sollte. In den Ferien hatte ich noch einen Besuch in Hamburg gemacht. Vor Ende April waren keine Vorlesungen; aber am 15. war offizieller Semesterbeginn, dann waren die Amtsräume der Universität in Betrieb, ich konnte die Immatrikulation und alle andern äußern Geschäfte erledigen und gleich richtig mit der Arbeit einsetzen, wenn das Leben in den Hörsälen begann. Ich reiste also am 17. April von Hamburg ab. Mein Schwager Max war etwas besorgt, mich so allein in eine ganz fremde Umgebung ziehenzulassen. Er fragte, ob ich nicht wenigstens die erste Nacht bei Courants schlafen könnte statt in der Studentenwohnung, die sie für Rose und mich besorgt hatten. Das lehnte ich natürlich ab. Ich meldete mich nur bei ihnen an, und Richard holte mich am Bahnhof ab, obgleich er gerade einen schlimmen Fuß hatte. Es war schon Abend, und er führte mich in der Dunkelheit in das neue Heim. Rose sollte erst einige Tage später aus Berlin kommen. Ich war sehr erfreut, als eine junge Frau mit hübschem, freundlichem Gesicht die Tür öffnete. Später gestand sie mir, daß auch sie bei meinem Anblick angenehm überrascht war. Sie hatte noch nie Studentinnen im Haus gehabt und dachte, sie seien alle alt und häßlich. Fast in jedem Bürgerhaus in Göttingen wohnten Studenten. Viele Wirtinnen nahmen grundsätzlich keine Damen auf. Manche hatten moralische Vorurteile. Andere fürchteten, daß ihre Küche zu viel zum Waschen, Kochen und Bügeln in Anspruch genommen würde oder daß im Zimmer durch einen Spirituskocher Schaden angerichtet würde. Es war sehr peinlich, wenn man Wohnung suchte und dann ein mürrisches Gesicht durch einen Spalt herausguckte, um ein paar abweisende Worte zu murmeln. Wir hatten es also sehr gut getroffen. Das Haus lag in der Langen Geismarstr., einer engen Kleinstadtgasse, die vom Innern der Stadt zum Albanikirchhof heraufführte; es war Nr.2, dicht am Kirchhof. Mit »Kirchhof« werden in Göttingen die Kirchplätze bezeichnet. Der Albanikirchhof liegt an der Grenze der alten Stadt. Weiter außerhalb ziehen sich nette Villenstraßen mit den Häusern der Professoren und den vornehmeren Pensionen hin. St. Albani ist die älteste Kirche, hat eine ganz glatte Fassade und einen schweren Turm. Die Glocke läutete noch dreimal am Tage den Angelus und verriet dadurch ihre katholische Vergangenheit. Ich hörte das Läuten; seine Bedeutung kannte ich nicht. Gleich am Tage nach meiner Ankunft begann ich meine Erkundungsgänge. Von Kindheit an hatte es mir Freude gemacht, auf Entdeckungen auszugehen. Wenn Erna und ich in Breslau oder Hamburg allein spazierengeschickt wurden, sagte ich gewöhnlich: »Heute wollen wir aber wohingehen, wo wir noch nie gewesen sind.« Jetzt hatte ich eine ganze Stadt und ihre nähere und fernere Umgebung zu erobern. Es gab genug zu sehen. Man brauchte nur die Lange Geismarstr. hinunterzugehen und rechts um die Ecke zu biegen, dann war man gleich am Marktplatz. Da stand das schöne gotische Rathaus; an seinen Fenstern blühten rote Geranien, die lustig von den alten grauen Steinen abstachen. Davor war der reizende Gänseliesel-Brunnen von Schaper. Nicht weit davon in einer Seitenstraße lag das schönste alte Haus von Göttingen, die »Mütze« genannt, eine altdeutsche Weinstube mit Fachwerkgiebel und Butzenscheiben. Vom Markt gerade nach Norden führt die Hauptstraße der Stadt, die Weenderstr., in der nachmittags der große »Bummel« stattfindet zum Weender Tor. Auf der rechten Seite, etwa in der Mitte, erhebt sich das Wahrzeichen von Göttingen, der hohe Jakobikirchturm. Zusammen mit den beiden weniger stattlichen Türmen der Johanniskirche bestimmt er das Stadtbild, wenn man aus der Ferne darauf sieht. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist die berühmte Konditorei von Cron und Lanz, wo es die besten Torten gibt und wo Professoren und Studenten (soweit ihre Börse es erlaubt) den Nachmittagskaffee nehmen und Zeitungen lesen. Das letzte Haus am Weender Tor auf der rechten Seite, ist das Auditorienhaus, der Mittelpunkt des Universitätslebens. Es ist kein Monumentalbau und kann sich weder mit unserer alten Breslauer Leopoldina noch mit den modernen Prunkbauten in Jena oder München messen: ein einfaches, nüchternes Haus mit einfachen, nüchternen Arbeitsräumen. Es liegt etwas zurück von der Straße, durch grüne Anlagen geschützt, in denen die Studenten in den freien Minuten zwischen zwei Vorlesungen herumwandeln und ihre Zigarette rauchen. Moderner und eleganter ist das nahegelegene Seminargebäude, rechts um die Ecke am Nikolausbergerweg; es war damals ganz neu. Dort waren die meisten Seminare untergebracht, ganz unter dem Dach – wie ich es fast überall gefunden habe – das Philosophische Seminar. Ganz getrennt davon war das Psychologische Institut: Es lag in der Nähe der Johanniskirche, etwas westwärts vom Markt; ein altes Haus mit ausgetretenen Stufen und engen Zimmern. Die räumliche Trennung deutete schon an, daß Philosophie und Psychologie in Göttingen nichts miteinander zu tun hatten. Der Nikolausbergerweg führt vom Weender Tor in vielen Windungen ostwärts aus der Stadt heraus und bergan. Wenn man die letzten Häuser hinter sich hat, sieht man auf der Höhe das reizende Dörfchen Nikolausberg liegen. Eingeweihte wußten, daß die Wirtin im Gasthaus besonders gute Waffeln zu backen verstand; wenn man sich vorher bei ihr zum Abendessen anmeldete und nach des Tages Last und Mühen hinaufstieg, bekam man eine dampfende Schüssel vorgesetzt. Das habe ich aber erst viel später erfahren. Links von Nikolausberg erhob sich ein kahler Hügel mit drei windzerzausten Bäumen, die mich immer an die drei Kreuze auf Golgatha erinnerten. Ich sah das alles gleich in den ersten Tagen, gelangte aber beim ersten Spaziergang vor die Stadt nicht hinauf, sondern seitwärts in einen Wiesengrund. Dabei machte ich mit der Bodenbeschaffenheit der Leineberge (auf Göttingisch: Laaneberge) Bekanntschaft: Man kommt selten von einem Spaziergang ohne dicke Lehmklumpen an den Schuhen zurück. Auch das Straßenpflaster in der Stadt ist eigenartig – eine Sorte Asphalt, der abwechselnd von der Sonne und vom Regen aufgeweicht ist; häufiger vom Regen, da es in Göttingen sehr viel regnet. Die Einwohnerzahl betrug damals etwa 30000. Es gab keine Straßenbahn. Bis zum Krieg wurde immer darüber

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