Скачать книгу

wieder froh werden. Bezeichnend ist, was mich von dieser Depression heilte. In jenem Jahr wurde in Breslau das große Bachfest gefeiert. Bach war ja mein besonderer Liebling, und ich hatte eine Karte für alle Veranstaltungen: Orgelkonzert, Kammermusik und einen großen Orchester- und Gesangsabend. Ich weiß nicht mehr, welches Oratorium an diesem Abend zur Aufführung kam. Ich weiß nur, daß Luthers Trutzlied »Ein feste Burg…« darin vorkam. Ich hatte es in unsern Schulandachten immer gern mitgesungen. Als nun so recht kampfesfroh die Strophe erklang: »Und wenn die Welt voll Teufel wär' / und wollt' uns gar verschlingen, / so fürchten wir uns nimmermehr, / es muß uns doch gelingen…«, da war mit einemmal mein ganzer Weltschmerz verschwunden. Gewiß – die Welt mochte schlecht sein: Aber wenn wir unsere ganze Kraft einsetzten, die kleine Schar von Freunden, auf die ich mich verlassen konnte, und ich – dann würden wir schon mit allen »Teufeln« fertig werden.

      5.

      Vier Semester hatte ich an der Universität Breslau studiert. Ich hatte am Leben dieser »alma mater« wie wohl nur wenige Studenten teilgenommen und es mochte scheinen, als sei ich so mit ihr verwachsen, daß ich mich nicht freiwillig von ihr trennen würde. Aber hier wie später noch oft im Leben konnte ich die scheinbar festesten Bande mit einer leichten Bewegung abstreifen und davonfliegen wie ein Vogel, der der Schlinge entronnen ist. Ich hatte es immer vorgehabt, einmal an einer andern Universität zu studieren. Solange ich aufs Gymnasium ging, war es mein Plan, gleich in meinem ersten Semester mit Erna nach Heidelberg zu gehen, dessen Zauber die alten Studentenlieder so verlockend besangen. Dieser Plan wurde dadurch vereitelt, daß Erna in meinem ersten Semester ihr Physikum machte und nicht von Breslau fortkonnte. Im nächsten Sommer hieß es, sie stünde nun schon zu dicht vor dem Staatsexamen und müßte darum zu Hause bleiben. Der stärkere Magnet war wohl Hans Biberstein; er hatte den Sommer vor meinem Abitur in Freiburg i.Br. studiert und durfte nicht noch einmal fort. Ich sah nun ein, daß ich mich nicht an meine Schwester binden könnte. Und ich wollte nicht warten, bis auch mich die Examensrücksichten festhielten.

      In meinem vierten Semester bekam ich den Eindruck, daß Breslau mir nichts mehr zu bieten hätte und daß ich neue Anregungen brauchte. Objektiv stimmte das keineswegs. Es gab noch genügend unausgenützte Möglichkeiten, und ich hätte hier noch sehr viel zulernen können. Es drängte mich aber fort. Für die Wahl der Hochschule spielte nun die Poesie der Studentenlieder keine Rolle mehr. Etwas ganz anderes bestimmte sie eindeutig. Im Sommer 1912 und im Winter 1912/13 wurden in Sterns Seminar Probleme der Denkpsychologie behandelt, hauptsächlich im Anschluß an die Arbeiten der »Würzburger Schule« (Külpe, Bühler, Messer usw.). Ich übernahm in beiden Semestern ein Referat. In den Abhandlungen, die ich dafür durchzuarbeiten hatte, fand ich immer wieder Edmund Husserls »Logische Untersuchungen« angeführt. Eines Tages traf mich Dr. Moskiewicz bei dieser Beschäftigung im Psychologischen Seminar. »Lassen Sie doch all das Zeug«, sagte er, »und lesen Sie das hier; die andern Leute haben ja doch alles nur daher.« Er reichte mir ein dickes Buch: Es war der II.Band von Husserls »Logischen Untersuchungen«. Ich konnte mich nicht sofort darauf stürzen, das erlaubten die laufenden Semesterarbeiten nicht; aber ich nahm es mir für die nächsten Ferien vor. Mos kannte Husserl persönlich; er hatte ein Semester bei ihm in Göttingen studiert und sehnte sich immer wieder dorthin. »In Göttingen wird nur philosophiert – Tag und Nacht, beim Essen, auf der Straße, überall. Man spricht nur von ›Phänomenen‹.« Eines Tages war in den illustrierten Zeitungen das Bild einer Göttinger Studentin zu sehen, die eine philosophische Preisarbeit gemacht hatte: Husserls glänzend begabte Schülerin Hedwig Martius. Mos kannte auch sie und wußte, daß sie sich eben mit einem älteren Husserlschüler, Hans Theodor Conrad, verheiratet hatte. Als ich einmal wieder abends spät nach Hause kam, fand ich auf dem Tisch einen Brief aus Göttingen. Mein Vetter Richard Courant war seit kurzem dort Privatdozent für Mathematik und hatte sich eben mit seiner Studienfreundin Nelli Neumann, einer Breslauerin, verheiratet. Dieser Brief war von Nelli an meine Mutter gerichtet und enthielt den Dank für unser Hochzeitsgeschenk. Er schilderte auch das Leben des jungen Paares; und dabei kam dann der Satz: »Richard hat viele Freunde, aber wenig Freundinnen mit in die Ehe gebracht. Möchtest Du nicht Erna und Edith zum Studium herschicken? Das wäre dann etwas Ausgleich.« Dies war der letzte Tropfen, der bei mir gerade noch fehlte.

      Am nächsten Tage teilte ich der staunenden Familie mit, daß ich im kommenden Sommersemester nach Göttingen gehen wolle. Da ihnen die ganze vorausgehende Entwicklung unbekannt war, kam es wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Meine Mutter sagte: »Wenn es für dein Studium nötig ist, will ich dir gewiß nicht im Wege sein.« Aber sie war sehr traurig – viel trauriger als es der Trennung für ein kurzes Sommersemester entsprach. »Es gefällt ihr nicht mehr bei uns«, sagte sie einmal in meiner Gegenwart zur kleinen Erika. Das Kind hing sehr an mir. Sie liebte es, bei mir im Zimmer zu sein, während ich arbeitete. Ich setzte sie auf den Teppich und gab ihr ein Buch mit Bildern in die Hand. Dann war sie still beschäftigt und störte mich nicht. Man konnte ihr die besten Bücher geben – sie beschädigte keines. Und sie verlangte keine andere Unterhaltung, sondern blieb ruhig und zufrieden da, bis sie jemand herausholte.

      Der erste Schritt zur Ausführung meines Planes war eine Karte an meinen Vetter mit der Bitte, mir über die Vorlesungen der Göttinger Philosophen im nächsten Semester Auskunft zu verschaffen. Er schickte mir bald darauf die Druckbogen des neuen Vorlesungsverzeichnisses. Die Weihnachtsferien benützte ich zum Studium der »Logischen Untersuchungen«. Da sie damals vergriffen waren, mußte ich das Exemplar des Philosophischen Seminars benützen und verbrachte dort meine Tage. Professor Hönigswald kam auch öfters hin und fragte mich schließlich einmal, was ich denn die ganzen Ferien durch so eifrig studierte. »So, nichts Geringeres als Husserl!« war seine Antwort auf meine Auskunft. Jetzt ging mir das Herz auf. »Im Sommer gehe ich nach Göttingen«, erzählte ich freudestrahlend. »O, wenn man nur selbst schon so weit wäre, etwas in dieser Richtung arbeiten zu können!« Er war etwas verblüfft. In jenem Winter hielt er zum erstenmal eine Vorlesung über Denkpsychologie; es war der Anfang seiner Auseinandersetzung mit der Phänomenologie, die später in eine scharfe Gegnerschaft ausartete. Damals war seine Ablehnung noch nicht so entschieden; es war ihm aber doch wohl nicht ganz recht, daß eine Schülerin mit fliegenden Fahnen in jenes Lager überging. Mir war dieser Gedanke gar nicht gekommen. Bei aller Bewunderung für Hönigswalds Scharfsinn kam es mir nicht in den Sinn, daß er es wagen könnte, sich mit Husserl auf eine Linie zu stellen. Denn davon war ich damals schon überzeugt, daß Husserl der Philosoph unserer Zeit sei. Wenn von da ab in Hönigswalds Seminar die Rede auf Phänomenologie kam, wurde ich als »Sachverständige« aufgerufen.

      Am Sylvesterabend trugen Lilli Platau, Rose und Hede Guttmann eine kleine Scherzdichtung vor. Sie hatten für jeden der Anwesenden eine Strophe mit dem bekannten Refrain: Ist das nicht um Kopf zu stehen? Sie sangen hinter einer Spanischen Wand, über die nur ihre Köpfe hervorragten. Beim Kehrreim verschwanden jedesmal die Köpfe, und es tauchten dafür die Füße auf (tatsächlich ausgestopfte Schuhe und Strümpfe, die sie über die Hände gezogen hatten). Meine Strophe lautete:

      Manches Mädchen träumt von Busserl,

       Edith aber nur von Husserl.

       In Göttingen da wird sie sehn

       Den Husserl leibhaft vor sich stehn.

      Ich bekam aber auch noch etwas Ernsteres zu hören. In unserer Sylvesterzeitung stand ein Märchen von einem blauen Steinchen, das mir in zarter Symbolik klarmachte, wie sehr meine Angehörigen und Freundinnen mein Versinken in der reinen Wissenschaft als menschlichen Verlust empfanden. Lilli hatte es verfaßt.

      Allmählich wurden alle nötigen Vorbereitungen zum Aufbruch getroffen. Nachdem für mich selbst der Sommer in Göttingen gesichert war, kam mir ein neuer Gedanke. Göttingen war ja nicht nur ein Paradies für Philosophen, sondern auch für Mathematiker. So machte ich Rose den Vorschlag, mit mir zu gehen. Es lockte sie natürlich sehr, aber sie hatte Bedenken, ob sie es sich leisten könnte. Sie pflegte sich ja durch Privatstunden ihr Studium zu verdienen, und davon konnte an einer fremden Universität keine Rede sein; dort mußte dann alle Zeit ausgenützt werden, um die Anregungen aufzunehmen, die sie bot. Das war es aber gerade, was ich für Rose wünschte. Ihre ständige Überarbeitung in so jungen Jahren machte mir Sorge, und ich hätte sie gern wenigstens für ein paar Monate diesem Betrieb entzogen. Eines

Скачать книгу