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hätte«, sagte er am Ende. Er hatte etwas mädchenhaft Zartes. Er war groß und schlank, und das schmale Gesicht war meist etwas gerötet; äußerlich war ihm keine Krankheit anzumerken, aber er litt sehr an Migräne und war an manchen Tagen ganz arbeitsunfähig. Da ich meine ganze Studienzeit hindurch immer völlig frisch und gesund war, so hatte ich für ihn immer etwas von dem Mitleid gegenüber dem vital Schwächeren.

      Metis hatte etwas, was ihn von all meinen andern Gefährten unterschied: Er war ein strenggläubiger und gesetzestreuer Jude. Wir sprachen nicht viel davon; ich ließ ihn gewähren, und er bemühte sich nicht, auf mich Einfluß zu gewinnen. Wenn er bei mir zum Arbeiten war, nahm er nur etwas Obst an. Als ich ihm einmal Gebäck anbot, sagte er lächelnd: »Was ich nicht definieren kann, das seh' ich als verboten an.« Eines Tages, als ich mit ihm unterwegs war, hatte ich in einem Hause etwas zu erledigen. Ich gab ihm vor der Haustür schnell meine Aktenmappe zum Halten und ging hinein. Zu spät fiel mir ein, daß es Samstag sei und daß man am Sabbath nichts tragen dürfe. Im Torbogen fand ich ihn geduldig wartend. Ich entschuldigte mich, daß ich ihn in meiner Gedankenlosigkeit zu etwas Verbotenem genötigt hätte. »Ich habe nichts Verbotenes getan«, sagte er ruhig, »nur auf der Straße darf man nichts tragen; im Hause ist es erlaubt.« Darum war er im Eingang stehen geblieben und hatte sich sorgfältig gehütet, einen Fuß auf die Straße zu setzen. Das war eine der talmudistischen Spitzfindigkeiten, die mich abstießen. Ich sagte aber nichts. Als ich später in Göttingen anfing, mich mit religiösen Fragen zu beschäftigen, fragte ich ihn einmal brieflich nach seiner Gottesidee: ob er an einen persönlichen Gott glaube. Er antwortete kurz: Gott ist Geist. Mehr sei darüber nicht zu sagen. Das war mir, als ob ich einen Stein statt Brot bekommen hätte.

      Ich bekam nach Göttingen regelmäßig jede Woche einen Brief. In den Ferien arbeiteten wir zusammen deutsche Literatur: ich fürs Staatsexamen, er zur Doktorprüfung. In dieser Prüfung hatte er zunächst Pech und mußte sie ein zweitesmal machen. Das bedrückte ihn sehr. Bei seiner öffentlichen Promotion war ich zugegen; dabei lernte ich auch seine Eltern kennen und wurde von ihnen freundlich begrüßt, auch von der Mutter, die meinen Einfluß früher so gefürchtet hatte. Als ich später »summa cum laude« promovierte, schrieb er mir: »Und es kam, wie es kommen mußte.« Zum Kriegsdienst war er untauglich. Er hatte indessen auch das Staatsexamen gemacht und trat in den Schuldienst ein. Nach Freiburg bekam ich überraschend die Nachricht, daß er an einer Lungenentzündung gestorben sei.

      Meine Angehörigen schickten mir die Todesanzeige und berichteten mir, wie traurig der Anblick der Eltern am Grab des einzigen Kindes gewesen sei. Natürlich schrieb ich ihnen, und später kam mir öfters der Gedanke, ob ich wohl die Mutter einmal aufsuchen solle. Die Erwägung, daß meine spätere Entwicklung ihr wohl ganz unverständlich sei, hielt mich aber immer wieder davon zurück. Ich weiß nicht, wie er selbst sich zu dieser Entwicklung gestellt hätte. Es war schon eine gewisse Entfremdung eingetreten, als ich ins rein wissenschaftliche Fahrwasser einlenkte. Ich hatte ihn in Breslau in die Pädagogische Gruppe eingeführt, und es war ihm schmerzlich, daß die, die ihm die Erziehungsfragen nahegebracht hatte, nun selbst einen ganz andern Weg einschlug.

      4.

      Wenn die vielen allgemein-studentischen Angelegenheiten und freundschaftlichen Beziehungen der Arbeit nicht schadeten, so hatte doch etwas anderes darunter zu leiden: Für das Familienleben blieb mir kaum noch Zeit übrig. Meine Angehörigen bekamen mich fast nur noch bei den Mahlzeiten zu sehen – und auch da nicht einmal immer. Kam ich zu Tisch, so waren meine Gedanken meist noch bei der Arbeit, und ich sprach wenig. Meine Mutter pflegte zu sagen, man könne mir auf den Teller legen, was man wolle, ohne daß ich es merkte. Und sie war noch froh darüber, weil sie so wenigstens dafür sorgen konnte, daß etwas Rechtes auf den Teller kam. In späteren Jahren, wenn ihr meine Appetitlosigkeit Kummer machte, dachte sie mit Sehnsucht an diese Zeiten zurück. Ich hatte es schwerer als Erna, von meinem Studium zu erzählen. In den Kliniken gab es immer Erlebnisse, für die jedermann Verständnis und Interesse hatte. Aber meine philosophischen Probleme waren nichts für den Familientisch. Meine Mutter kam einmal in mein Arbeitszimmer, während ich gerade mit Plato beschäftigt war. Sie nahm mir das Buch aus der Hand, um doch einmal zu sehen, in was für Dinge ich da vertieft sei. Ganz verblüfft sagte sie: »Nun, das weißt du doch längst.« Wenn ich mich nicht irre, war es der »Parmenides«, und sie hatte gerade ein paar Sätze über das Eine und Viele erwischt, die für den naiven Menschen wie platte Selbstverständlichkeiten klingen.

      Es geschah auch nicht selten, daß mich meine Mutter den ganzen Tag, ja manchmal zwei Tage lang überhaupt nicht zu sehen bekam. Früh ging sie oft schon ins Geschäft, ehe ich zum Frühstück herunterkam. Ihre Mittagsstunde war zwischen 12 und 1, ich aber hatte manchmal bis 1Uhr Vorlesung und aß dann allein nach. Und wenn ich abends bis 7Uhr in der Universität zu tun hatte und um 8 schon wieder bei einer Abendveranstaltung in der inneren Stadt sein wollte, dann lohnte es nicht heimzugehen. Ich verbrachte die Stunde im Philosophischen Seminar oder in der Wohnung des Studentinnenvereins und verzehrte dort die mitgebrachten Butterbrote. Kam ich dann nach Hause, so schlief schon alles; auf dem Tisch im Eßzimmer erwartete mich ein liebevoll bereitgestellter kleiner Imbiß und die eingelaufene Post.

      Auch darin unterschied ich mich von Erna, daß ich meine Freunde nicht wie sie in die Familie einführte. Ich lud sie überhaupt nicht zu mir ein, wenn es nicht eine gemeinsame Arbeit notwendig machte. Kam jemand zu diesem Zweck zu mir, so fand ich, ich könnte es ihm nicht zumuten, sich mit einer vielköpfigen Familie bekanntmachen zu lassen und seine Zeit auf eine allgemeine Unterhaltung zu verschwenden. Nur, wenn wir im Vorzimmer oder Treppenhaus jemandem begegneten, stellte ich vor. Mit großer Beschämung muß ich gestehen, daß mir solche Begegnungen stets sehr unangenehm waren. Ja, ich war so albern, daß ich mich der Arbeitskleidung und der harten Arbeitshände meiner lieben Mutter schämte, wenn sie gerade vom Holzplatz heimkam. Die Freundinnen allerdings, die zu mir kamen, haben immer von selbst dafür gesorgt, daß sie auch mit meinen Angehörigen bekanntwurden; und es war keine darunter, die nicht die ungewöhnlichen Eigenschaften meiner Mutter bald erkannt und mit Liebe und Verehrung zu ihr aufgeblickt hätte. An Geburtstagsfeiern und andern Familienfesten nahm ich auch weiter teil, mußte dann auch durch die nötigen Gelegenheitsdichtungen für Unterhaltung sorgen. Wie sehr ich mich sonst den Meinen entzogen hatte und daß sie es schmerzlich empfanden, das merkte ich selbst kaum. Ich lebte ganz in meinem Studium und den Bestrebungen, zu denen es mich geführt hatte. Darin sah ich meine Pflichten und war mir keines Unrechts bewußt.

      Die ständige Anspannung aller Kräfte erweckte das beglückende Gefühl eines hochgesteigerten Lebens, ich erschien mir als ein reiches und bevorzugtes Geschöpf. Im Anfang meiner Studienzeit bat mich einmal unser alter Direktor zu sich, um mir eine Stundenschülerin zu empfehlen. Natürlich erkundigte er sich auch, wie es mir gehe, und als ich so recht von Herzen erwiderte: »O, mir geht es sehr gut!«, öffnete er seine großen, runden, etwas vorstehenden Augen noch weiter als gewöhnlich und sagte verwundert: »Nun, das hört man selten.« Zu dieser Hochstimmung stand in merkwürdigem Gegensatz ein Erlebnis, das ich wohl nicht viel später hatte. Ich schlief damals – wie immer bis zu ihrer Verheiratung – mit meiner Schwester Erna in einem Zimmer. Wir hatten noch kein elektrisches Licht im Haus, sondern Gasbeleuchtung; an der Lampe in unserm Schlafzimmer war ein Kleinsteller angebracht, und wir pflegten nachts den Hahn nicht abzudrehen, um jederzeit rasch wieder Licht haben zu können. Eines Morgens öffnete unsere Schwester Frieda die Tür zu unserm Zimmer und stieß einen Schrei des Schreckens aus. Ein starker Gasgeruch strömte ihr entgegen; wir beide lagen totenbleich und wie in schwerer Betäubung in unsern Betten. Die Flamme war ausgegangen und das Gas ausgeströmt. Frieda riß schnell das Fenster auf, drehte den Hahn ab und weckte uns. Ich erwachte aus einem Zustand süßer, traumloser Ruhe, und als ich zu mir kam und die Situation erfaßte, war mein erster Gedanke: »Wie schade! Warum hat man mich nicht für immer in dieser tiefen Ruhe gelassen?« Ich war selbst ganz betroffen über die Entdeckung, wie wenig ich »am Leben hing«.

      Auch aus dem wachen Tagesleben erinnere ich mich an eine Zeit, in der die Sonne erloschen schien. Es war wohl im Sommer 1912, als ich den Tendenzroman »Helmut Harringa« las. Er schilderte das Studentenleben, den wüsten Betrieb in den Verbindungen mit ihrem unsinnigen Alkoholzwang und die moralischen Verirrungen, die daraus folgen, in den abschreckendsten Farben. Das erfüllte mich mit solchem Ekel, daß

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