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den Kulissen vorangegangen war, und von meinen Beweggründen ahnten sie natürlich nichts. Ich hatte aber von vornherein ihr Herz gewonnen. Sie lernten eifrig, wenn auch natürlich mit sehr ungleichem Erfolg, und bewahrten mir eine große Anhänglichkeit. Als ich am Ende des Wintersemesters mich von ihnen verabschiedete, schickten sie mir als Dank einen großen Rosenstrauß und ein wertvolles kunstgeschichtliches Werk, schrieben mir auch noch nach Göttingen.

      Zu diesen regelmäßigen Veranstaltungen kam gerade in meinem ersten Semester, dem Sommer 1911, noch manches Außerordentliche. Wir feierten damals das 100jährige Jubiläum unserer »Schlesischen Friedrich-WilhelmUniversität«. Sie war 1811, in der Zeit der Franzosenherrschaft, von Friedrich WilhelmIII. begründet worden, nicht als völlige Neugründung, sondern durch Zusammenlegung der protestantischen Universität Frankfurt a.d. Oder, einer Schöpfung der Reformationszeit, mit dem Breslauer Jesuitenkolleg, der »Leopoldina«, von Kaiser Leopold zu Ende des 17.Jhs. eingerichtet. Ihr verdankten wir das schöne alte Gebäude mit den dicken Mauern und tiefen Fensternischen, dem üppigen Barockschmuck der »Aula Leopoldina« und des Musiksaals. Wie festlich waren offizielle Feiern – Kaisers Geburtstag, Rektoratsübergabe u. dgl. – in diesen Räumen, wenn zu der Farbenpracht der Wand- und Deckengemälde und der reichen Stuckverzierung das bunte Bild der Studenten »in Wichs« kam, der Chargierten, die mit ihren Fahnen die Fensternischen füllten, und wenn schließlich der ganze Lehrkörper einzog, voraus der Pedell mit seinem dicken Stabe, hinterdrein der Rektor, die Dekane und Dozenten mit Talaren und Baretts in der Farbe ihrer Fakultät, manche noch mit einer breiten bunten Schärpe über der Brust, dem Abzeichen des Ehrendoktorats (meist von amerikanischen Universitäten)!

      Das alte graue Gebäude an der Oder (vor einigen Jahren hat man es »im Stil der Zeit« gelb angestrichen) war mir schnell eine liebe Heimat geworden. In freien Stunden setzte ich mich gern in einem leeren Hörsaal auf eins der breiten Fensterbretter, die die tiefen Mauernischen ausfüllten, und arbeitete dort. Von diesem Hochsitz konnte ich auf den Fluß und die belebte Universitätsbrücke hinaussehen und kam mir vor wie ein Burgfräulein. Ebenso heimisch fühlte ich mich in dem nahegelegenen, ebenso ehrwürdigen Konviktgebäude, wo wir das psychologische und philosophische Seminar hatten, und in der Universitätsbibliothek, einem ehemaligen Augustinerchorherrenstift in der Sandstraße. Daneben liegt die Sandkirche, ein schwerer frühgotischer Bau. Es ist die Dompfarrkirche, und gleich dahinter führt die kleine Dombrücke auf die Dominsel. Das ist eine stille, in sich abgeschlossene Welt. Die breite, gerade Domstraße führt von der Dombrükke an der Kreuzkirche mit ihrem schlanken, nadelspitzen gotischen Turm vorbei zum Hauptportal des Domes. Zu beiden Seiten liegen die niedrigen vornehm-schlichten Häuser der Domherren, zunächst dem Dom das Palais des Fürsterzbischofs. Ich wählte gern den Weg über die Dominsel. Ich fühlte mich dort wie in einer Welt der Stille und des Friedens und wie in längst vergangene Jahrhunderte zurückversetzt. In die schönen Kirchen aber ging ich nicht hinein, vor allem nicht, wenn Gottesdienst darin war. Ich hatte ja dort nichts zu suchen und hätte es taktlos gefunden, andere in ihrer Andacht zu stören. Ein einzigesmal war ich mit Julia Heimann während einer Freistunde in der Matthiaskirche, die an die Universität anstößt und früher zu ihr gehörte; ein vermauertes Türchen verrät noch heute die ehemalige Verbindung.

      Ich sah in der Universität wirklich meine »alma mater«, und so war es mir eine große Freude, an ihrem Jubelfest teilzunehmen. Natürlich waren wir bei dem großen Festakt in der Aula zugegen. Einige Bedenken gab es wegen der Teilnahme an dem Festkommers. Dafür war ein Riesenzelt auf dem Exerzierplatz vor dem königlichen Schloß aufgeschlagen, weil kein Saal groß genug war, um die Menge der »Alten Herren« zu fassen, die zum Fest herbeiströmten. Im Studentinnenverein gab es große Beratungen; wir hatten Nachrichten aus Berlin, daß dort im vorausgegangenen Jahr beim Jubiläum der Berliner Universität der Kommers wenig schön verlaufen sei. Wir sagten darum zunächst ab. Nun kam eine zweite Einladung »Seiner Magnifizenz«, des Herrn Rektors: Er würde doch sehr ungern die Studentinnen vermissen und wolle einige Professorendamen mit an unsern Tisch setzen, um uns gegen alle Unannehmlichkeiten zu schützen. Nun versprachen wir unser Erscheinen, die »Bemutterung« aber lehnten wir als lächerlich ab. Wir wollten so lange bleiben, bis die eigentliche »Fidelitas« anfinge, und uns dann still zurückziehen. Das ging sehr gut. Der Tisch mit den weißgekleideten Mädchen zog natürlich die Aufmerksamkeit aller Alten Herren auf sich, die in dem großen Zelt umhergingen und sich nach alten Bekannten umsahen: So etwas hatte es ja »zu ihrer Zeit« nicht gegeben. Es wurde ein reizendes Festspiel aufgeführt, das zwei Alte Herren gedichtet hatten: Redakteur Dr. Hermann Hamburger und Rechtsanwalt Dr. Tarnowski, beide in Breslau als geistvolle und witzige Menschen bekannt (beide Juden). Als die Aufführungen und Ansprachen vorbei waren, verschwanden wir, ohne daß ein Mißton unsere Freude getrübt hätte.

      Zu den vielen allgemein-studentischen Angelegenheiten kamen noch als weitere Nebenbeschäftigungen einige Privatstunden. Ich hätte eigentlich lieber meine ganze Zeit dem Studium gewidmet, obwohl die Mehrzahl der Studenten und Studentinnen sich auf diese Weise etwas verdiente. Meine Mutter sorgte ja für Unterhalt und Kolleggelder, und unsere wirtschaftlichen Verhältnisse waren jetzt so, daß niemandem damit ein Opfer auferlegt wurde. Darum schien es mir besser, die Zeit nicht unnötig zu zersplittern. Ich wurde aber immer wieder um Nachhilfestunden oder Vorbereitungsunterricht für eine höhere Gymnasialklasse angesprochen und konnte nicht alle Bittenden abweisen; so hatte ich fast immer einige Schülerinnen. Es fing schon an, als ich selbst noch aufs Gymnasium ging. Eines Tages kam der Schuldiener in unsere Zeichenstunde hinein und meldete, Fräulein Stein solle zum Herrn Direktor kommen. Das war etwas ganz Ungewöhnliches und setzte die ganze Klasse in Aufregung. Während ich die drei Treppen hinunterstieg, ging ich in Gedanken die letzten Wochen durch: Es fiel mir nichts ein, wofür ich einen Vorwurf verdient hätte. So betrat ich ganz ruhig das Amtszimmer. Es war ein fremder Herr beim Herrn Direktor, der besorgte Vater einer Untertertianerin. Sie stand sehr schlecht und hatte kaum noch Aussicht auf Versetzung. Der Direktor schlug als letzten Versuch Beaufsichtigung der Schularbeiten vor und bat mich, dieses Amt zu übernehmen. Es lockte mich wenig, aber beide Herren drängten so sehr, daß ich schließlich zusagte. Ich bemerkte bald, daß nichts zu machen sei; das Kind hatte weder Begabung noch Neigung zum Studium und quälte sich ganz nutzlos. Ich erklärte dem Direktor, es sei mir peinlich, für eine so aussichtslose Sache Bezahlung anzunehmen. Er redete mir aber zu, bis Ostern auszuhalten. Der Vater wisse, daß keine Aussicht sei und wolle sich nur die Beruhigung verschaffen, alles Erdenkliche getan zu haben. Ostern wurde ich also von dieser ersten Schülerin frei.

      Aber nicht lange danach kam eine andere. In der Untertertia war ein reizendes Polenkind, 15 Jahre alt, blondlockig und blauäugig und überaus temperamentvoll. In der Pause sah man sie meist in einem Kreis von älteren Mädchen, die sie bewunderten und sich über ihr komisches Deutsch amüsierten. Ich beteiligte mich nie daran. Eines Tages hängte sie sich auf dem Schulhof plötzlich an meinen Arm und zog mich von meinen Klassengefährtinnen weg. Sie stünde schlecht in der Schule und sollte Pfingsten in Breslau bleiben, um während der Ferien tüchtig zu wiederholen. Ihre Pensionsmutter – eine alte Dame, die mit der Familie des Direktors befreundet war – würde an mich schreiben, aber sie hätte gern schon vorher mit mir sprechen und mich bitten wollen, mit ihr zu arbeiten. Ich ging während der kurzen Pfingstferien jeden Morgen zu ihr. Ich konnte sie nicht zu mir kommen lassen, weil sie nicht allein ausgehen durfte. Lena war gut begabt und lernte jetzt bei mir eifrig. Sie bewunderte mein Wissen sehr und faßte auch in diesen einsamen Ferientagen eine lebhafte Zuneigung zu mir. Eines Tages bat sie mich schmeichelnd, mit ihr in die Oper zu gehen. Ohne Begleitung dürfte sie es nicht und sie wünschte es sich so sehr. Es würde »Carmen« gegeben. »Ich möchte Carmen sein«, sagte sie mit blitzenden Augen, »daß alle Männer mich lieben müßten!« Ich sah mir das kleine Persönchen ganz betroffen an. Sie war für ihr Alter sehr gut entwickelt und konnte für 18 Jahre gelten. Und ich kam mir neben diesem Kinde auf einmal vor wie ein unerfahrenes Mädchen neben einer wissenden Frau. Als ich am Morgen des Theaterabends in ihre Pension kam, empfing sie mich mit einer Trauerbotschaft: ihr Vater sei schwer erkrankt und sie müsse sofort heimfahren. Sie bat mich, die Theaterkarten mit meiner Schwester zu benützen. Als sie sah, daß ich in meiner Teilnahme selbst wenig Lust zum Theaterbesuch hatte, redete sie mir zu, doch ja hinzugehen. Dann umarmte und küßte sie mich weinend. Erna und ich gingen in die Oper, aber ich dachte an das arme Kind, das nun allein die traurige Reise machte. Lena kam in Trauerkleidern zurück.

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