Скачать книгу

auch die große Mehrzahl der Studenten ziemlich stumpf dahinlebte (ich nannte sie in zorniger Verachtung »die Idioten« und hatte in den Hörsälen keinen Blick für sie), so stand ich doch mit meinen Idealen nicht allein und fand bald Gesinnungsgenossen. Von unserm engsten Freundeskreis – meiner Schwester Erna, Hans Biberstein, Rose Guttmann und Lilli Platau – ist ja schon ausführlich die Rede gewesen. Mit Rose traf ich in den philosophischen und psychologischen Vorlesungen zusammen, und durch sie wurde ich einem Kreis von jungen Menschen zugeführt, dem ich wohl das Wertvollste in meiner Breslauer Studienzeit verdankte. Er nannte sich »Pädagogische Gruppe« und war hauptsächlich aus Schülern und Schülerinnen des Sternschen Seminars hervorgegangen. Diese künftigen Lehrer und Lehrerinnen empfanden es als unerträglichen Mangel, daß an der Universität eigentlich nichts zur Vorbereitung auf den späteren Lehrberuf geschah. Es gab wohl theoretische Vorlesungen über Pädagogik, und man mußte im Staatsexamen einige Kenntnisse daraus nachweisen. Aber in lebendige Verbindung mit den großen Erziehungsfragen und mit der Schulpraxis kam man dadurch nicht. Es war der Mangel, der später zur Reform der Lehrerbildung und zur Begründung der Pädagogischen Akademien geführt hat. So hatten diese jungen Menschen zur Selbsthilfe gegriffen.

      Stern stellte in seiner gütigen Weise das Psychologische Seminar als Versammlungslokal zur Verfügung. Es war damals im II.Stock des ehemaligen Konviktgebäudes Schmiedebrücke 35 untergebracht. (Wir erlebten es noch, daß es mit dem Philosophischen Seminar zusammen in die schöneren und würdigeren Räume des I.Stocks verlegt wurde, und durften mit dorthin übersiedeln.) Dort kamen wir jede Woche einmal abends von 8–10 zusammen. Um 10 wurde das Haus geschlossen. Wenn die Diskussion dann noch nicht zu Ende war, ging man noch in ein Café, im Sommer auch manchmal in den Scheitniger Park (einen schönen, alten, englischen Park im Osten der Stadt), um die Nachtigallen schlagen zu hören. An diesen Abenden gab es Vorträge und Aussprachen über pädagogische Fragen. Am liebsten hatten wir Rektoren oder Lehrer der verschiedenen Schulgattungen, die uns aus ihren Erfahrungen berichten konnten. Öfters kamen auch Dozenten der Universität; Stern durften wir jedes Semester einmal zu uns bitten. Wenn niemand anderes zu haben war, referierte jemand von uns über ein Buch oder eine Frage, die ihn gerade beschäftigte. Fr.W. Förster, Kerschensteiner, Gaudig und Wyneken beschäftigten uns oft und lebhaft.

      Wir waren auch alle Mitglieder des »Bundes für Schulreform« und besuchten gemeinsam seine Versammlungen. Ich empfand aber schon damals, daß dort noch sehr viel Unklarheit herrschte und oft weit übers Ziel hinausgeschossen wurde. In jedem Semester wurden mehrere Besichtigungen gemacht: Wir besuchten unter sachkundiger Leitung Hilfsschulen, Taubstummen- und Blindenanstalten, Fürsorgeerziehungsanstalten, Heime für Schwachbefähigte und für verwahrloste Kinder. Den tiefsten Eindruck machte uns ein Kinderheim auf dem Warteberg, das wir mehrmals besuchten. Es war ein ehemaliges Schloß in landschaftlich schöner Lage in der Nähe von Obernigk mit ausgedehntem Garten. In den hellen, freundlichen Räumen waren Kinder aus verwahrlosten Familien untergebracht. Die Jüngsten waren damals Zwillinge von zwei Jahren. Sie lagen im Garten in einem Zwillingswagen, sauber und wohlgenährt und vergnügt. Die Ältesten konnten schon zur Pflege und Beaufsichtigung der Kleinen herangezogen werden. Diakonissen aus dem Mutterhaus der »Mutter Eva« (Gräfin Thiele-Winkler) in Miechowitz/Oberschlesien verwalteten das Haus. Die Leiterin, die kleine, bescheidene und freundliche Schwester Frieda, führte uns durch alle Räume und gab uns die nötigen Erklärungen. Die Kinder waren in »Familien« eingeteilt: Große und Kleine, Jungen und Mädchen gehörten zusammen, wie es in der natürlichen Familie ist. Die Familien hatten Blumennamen, ihre Zimmer waren entsprechend ausgemalt: mit Heckenrosen, Kornblumen usw., und die Mädchen hatten Schleifchen von der passenden Farbe in den Haaren.

      In einem Arbeitsraum zeigte uns Schwester Frieda eine Nähmaschine. »Wir brauchten so nötig eine Maschine«, erzählte sie ganz einfach und natürlich, »da haben wir darum gebetet, und bald bekamen wir eine.« Es waren wohl alles Freigeister, zu denen sie das sagte. Aber niemand lächelte. Wir beugten alle den Kopf vor diesem kindlichen Vertrauen. Schwester Frieda ist während des Krieges ohne alle Mittel nach Warschau gegangen und hat dort ein Kinderheim gegründet, um der schrecklichen Kindernot zu wehren. Nach dem Rundgang durch Haus und Garten wurden wir im kühlen Speisesaal mit Kaffee und Butterbrot und großen Schüsseln voll Erdbeeren aus dem eigenen Garten bewirtet. Zum Abschied sangen uns die Schwestern einen Choral.

      Begründer und Seele unserer Pädagogischen Gruppe war Hugo Hermsen, ein Niederdeutscher, aus einer kleinen Stadt in Braunschweig gebürtig. Er war etwa 27 Jahre alt, als ich anfing zu studieren, und stand vor dem Abschluß seiner Studien. Klein, aber kräftig, gesund und sportlich geschult. Ein Kopf, den man nicht leicht wieder vergaß, wenn man ihn einmal gesehen hatte: sonnengebräunt, mit schönen, edlen Zügen; aus den grauen, etwas tiefliegenden Augen leuchtete ein heiliges Feuer. Der weichen, etwas verschleierten Stimme hörte man es an, daß alles, was er sagte, aus dem tiefsten Herzen kam. Einmal nahm er Rose und mich mit zu einem Nestabend bei den Wandervögeln. Er las den Jungen plattdeutsche Märchen vor – die Sprache seiner Heimat. Ich habe besonders das Märchen vom »Machandelboom« in Erinnerung und glaube noch jetzt – nach mehr als 20 Jahren – die leise und verhaltene Stimme zu hören, mit der er das eingestreute Verschen sang:

      Mîn Suster, dat Marleneken

       Sammelt mîne Beneken

       In een sîden Dôk,

       Legts unner den Machandelboom.

       Kiwitt, Kiwitt,

       Wat förn schoen Vogel bün ik.

      Die moderne Massenerziehung war ihm zuwider. Sein Ideal war die Hofmeistererziehung des 18.Jhs. Er suchte es auch praktisch zu verwirklichen. Damals war ihm ein junger Graf Rothkirch, Jurist im ersten Semester, anvertraut. Sie hatten eine gemeinsame Wohnung, und Hermsen hatte ihn überall bei sich; er kam auch mit zu unsern Gruppenveranstaltungen. Später ging er auf das Gut des Grafen Yorck von Wartenburg; er sollte dort die Erziehung eines kranken Knaben übernehmen, aber bald hing die ganze zahlreiche Kinderschar an ihm. Nachdem er in Breslau Doktor- und Staatsexamen gemacht hatte, wurde er als Erzieher des Prinzen von Wied berufen. Von dort aus ging er in den Krieg und kehrte nicht wieder.

      Hermsen hatte die Leitung der Gruppe schon an einen andern abgegeben, als ich eingeführt wurde. Aber er beherrschte sie immer noch. Unwillkürlich sahen alle nach ihm und warteten auf sein Urteil, wenn er anwesend war. Und wenn er nicht kommen konnte, dann fehlte das Beste. Ich glaube, daß seit meiner Kinderzeit kein Mensch mehr einen so starken Einfluß auf mich ausgeübt hatte. Wir sahen uns nur bei den Gruppenveranstaltungen und sprachen ganz selten einmal persönlich miteinander. Diese wenigen Male sind mir deutlich in Erinnerung. Das erstemal war es in einem Café nach einem Vortrag, den Professor Stern uns gehalten hatte. Wir saßen in größerem Kreis zusammen, Hermsen und ich nebeneinander, Stern uns gegenüber. Am vorausgehenden Gruppenabend hatte ich zum erstenmal in unserm Kreis gesprochen: über Koedukation. (In meinem jugendlichen Idealismus und in meiner Unerfahrenheit, die von den wirklichen Schwierigkeiten noch nichts wußte, hatte ich die Frage positiv beantwortet.) Stern interessierte sich für das Thema, war aber an jenem Abend verhindert. So wollte er sich jetzt erzählen lassen, was ich gesagt hatte. Hermsen und ich antworteten abwechselnd auf seine Fragen. Nach einer Weile mußte der Professor abbrechen, um sich den andern zu widmen, die natürlich auch auf ein paar Worte von ihm warteten. Und nun begann mein Nachbar leise ein vertrauliches Gespräch mit mir. Es handelte sich um ein Mißverständnis zwischen ihm und einem gemeinsamen Bekannten; er hoffte, daß ich Gelegenheit bekäme, zur Aussöhnung zu helfen. Wir waren bald so vertieft, daß wir unsere Umgebung völlig vergaßen und wie aus einem Traum aufwachten, als alles um uns herum aufbrach. Ein andermal saßen wir auf der Rückfahrt vom Warteberg nebeneinander. Das Rattern des Zuges verbot eine allgemeine Unterhaltung; Hermsen erzählte mir leise von seinen Erfahrungen im Hause Yorck und von seinen Zukunftsplänen.

      Kurz ehe wir beide Breslau verließen – ich, um nach Göttingen, er, um nach Neuwied zu gehen –, lud eine studierende Lehrerin, mit der er viel zusammengearbeitet hatte und die ihn sehr gern hatte, uns beide und Rose Guttmann zu einem Abschiedsabend ein. Hermsen begleitete mich nach Hause. Nach den Gruppenabenden hatte er das immer andern überlassen, weil er weit entfernt von mir wohnte. Als wir vor unserm Haus angekommen waren, sagte er: »Nun wünsche ich Ihnen, daß Sie in Göttingen Menschen treffen möchten, die Ihnen recht

Скачать книгу