Скачать книгу

begann mit dem deutschen Aufsatz. Sonst hatte ich bei unsern Klassenaufsätzen immer eine Stunde weniger gebraucht als uns zur Verfügung stand. Diesmal wurde ich mit der Reinschrift nicht fertig. Das war wahrhaftig kein Unglück, denn wir mußten unser Konzept mit abgeben, und das meine sah ganz wie eine Reinschrift aus. Trotzdem war ich am Nachmittag untröstlich. Auch Professor Olbrich war am nächsten Tag etwas besorgt. Er kam während der Lateinarbeit wiederholt zu mir und erkundigte sich, ob ich auch fertig würde. Aber diesmal war ich meiner Sache ganz sicher; ich war mir schon beim Diktieren des Textes klar über die Übersetzung und das Niederschreiben ging schnell. So ließ ich mich nicht aus der Ruhe bringen. Auch alles andere ging glatt. Bei uns gab es nun Befreiung vom Mündlichen. Die Lehrer durften uns nichts von dem Ergebnis der schriftlichen Arbeiten verraten, aber ihr Verhalten war ziemlich eindeutig. Die nächsten Wochen waren ja nur der Vorbereitung auf die mündliche Prüfung gewidmet, und wer nicht hinein mußte, kam überhaupt nicht mehr dran. Ich merkte wohl, daß ich in den Stunden so gut wie ausgeschaltet war, aber ich fühlte mich doch nicht ganz sicher. Immerhin: unnötig zu büffeln, das wäre doch verlorene Zeit gewesen. Im Notfall würde ich am Prüfungstage selbst noch genügend Zeit zum Wiederholen haben, wenn ich drankäme. Ich hatte während des Jahres allerhand für die mündliche Prüfung vorbereitet. So besaß ich ein Heft, in dem alle Horaz-Oden, die wir durchgenommen hatten, übersetzt und erläutert waren. Ich hatte eine Reihe von Themen für Geschichte ausgearbeitet, auch einige in französischer und englischer Sprache. Alle diese Schätze verteilte ich nun in der Klasse unter die Bedürftigen. Bittende Hände streckten sich danach aus, mit herzlichem Dank wurden die Gaben empfangen. Mir wurde die ehrenvolle Aufgabe zuteil, in dieser Zeit das »Bierdrama« zu verfassen. Ich habe es nicht aufbewahrt, erinnere mich aber noch an den Gang der Handlung. Die Heldin war eine Abiturientin nach der Prüfung. Ihr Geist ist durch das viele Lernen in Verwirrung geraten, die Mutter geht mit ihr zu einem Magier, der die bösen Geister austreiben soll. Er beschwört sie, und sie erscheinen einer nach dem andern: Cicero und Horaz, Frau von Stein mit Gretchen und Klärchen usw. Am Schluß erwacht die Patientin wie aus einem bösen Traum, fühlt sich sehr wohl, weiß aber nichts mehr. Da findet sie bei sich ein Papier, das ihr jede Sorge nimmt:

      Ist auch mein Kopf von Wissen leer,

       Ich fürchte nichts und niemand mehr:

       Hier steht's ja klar und deutlich drin,

       Daß ich jetzt reif zum Studium bin.

      Es wurde außerdem eine Kommission ernannt, um das Abschiedsfest vorzubereiten. Außer mir gehörten ihr meist die Mädchen aus sehr begüterten Häusern an, die wußten, wie man Abendgesellschaften arrangiert. Unsere Steuerkasse reichte natürlich bei weitem nicht für unsere kühnen Pläne. Aus Rücksicht auf unsere unbemittelten Mitschülerinnen wollten wir keine allgemeinen Beiträge mehr einziehen. Die Wohlhabenden übernahmen freiwillige Leistungen: Eine wollte für Blumenschmuck sorgen, eine für kalte Platten, wieder andere für Getränke, für Kuchen und Torten. So wurde alles sehr vornehm und schön; an den Stil eines Kommerses erinnerte nur das »Bier«-drama und die »Bier«-zeitung. Wir verschickten die Einladungen schon vor der mündlichen Prüfung. Das wurde uns von den Lehrern als sträflicher Leichtsinn schwer verübelt und trug uns lange Standreden ein. Sie kamen aber dann doch alle, selbst unser alter Direktor, der damals schon sehr leidend war.

      Der Prüfungsmorgen – der 3.März 1911 – kam heran. Wir mußten erst in einem der Sprechzimmer im Erdgeschoß warten, bis wir in den Prüfungsraum gerufen wurden. Als wir alle – auch ich – ganz in der vorschriftsmäßigen beklommenen Stimmung hinüberwanderten, sagte Professor Sumpf auf dem Gang mit gutmütigem Lächeln zu mir: »Na, haben Sie große Angst?« Das klang sehr beruhigend.

      Die Prüfungskommission – unsere Lehrer, ein Provinzialschulrat und der zweite Bürgermeister als Vertreter der Stadt – war versammelt. Erst eine feierliche Ansprache – dann wurden die Namen derer genannt, die vom Mündlichen befreit waren; es waren fünf. Wir durften gleich gehen. In unserm Wartezimmer umarmten wir uns gegenseitig – ganz gegen unsere Gewohnheit, denn sonst gab es in der Schule keine Zärtlichkeiten. Wir warteten noch auf die andern, denen der Prüfungsplan bekannt gegeben wurde. Wer erst später an die Reihe kam, durfte noch einmal nach Hause gehen. Julia Heimann hatte etwa 2 Stunden Zeit. Sie bat mich, sie mit zu mir zu nehmen, denn sie hatte eine Stunde Weg nach Hause, während ich (seit wir in das neugebaute Schulhaus in der Blücherstr. übergesiedelt waren) nur wenige Minuten zu gehen hatte. Daheim erwartete mich schon eine Torte, die in Chokoladenbuchstaben die Glückwünsche der Familie aussprach. Ich konnte mich gar nicht lange den freudigen Begrüßungen meiner Angehörigen überlassen, denn ich mußte mich meinem Gast widmen. Julia hatte verschiedene Wünsche. Ich sollte noch etwas mit ihr Geschichte arbeiten. Außerdem gestand sie mir, daß sie schon lange auf eine Gelegenheit wartete, um mich einmal nach ihrem Geschmack zu frisieren. Ich holte bereitwillig Kamm und Bürste, setzte mich vor den Spiegel, und während sie meinen Kopf bearbeitete, hielt ich ihr den bestellten Vortrag über den Dreißigjährigen Krieg. Julia hatte mich nie früher besucht. Sie sah sich sehr genau bei uns um, und ich hatte fast den Eindruck, als sei sie nicht nur der Zeitersparnis wegen gekommen, sondern auch, um endlich einmal meine häusliche Umgebung kennenzulernen. Sie äußerte offen ihre Überraschung, in dieser wenig vornehmen Gegend ein so schönes Haus zu finden. Besonders die breite interne Eichentreppe und der »Saal«, in dem ich sie aufnahm, imponierten ihr. Sie ließ es sich auch gut schmecken, als eine meiner Schwestern uns zwei Tassen Chokolade und etwas Gebäck zum zweiten Frühstück heraufbrachte. Während ich mit ihr beschäftigt war, gab meine Mutter die gute Nachricht telephonisch ihren Geschwistern bekannt. Auch der Onkel in Chemnitz hatte sich telephonischen Bericht erbeten. Ich wurde wiederholt gerufen, um persönlich Glückwünsche in Empfang zu nehmen. Als es schließlich für Julia Zeit wurde, begleitete ich sie zur Schule zurück; ich mußte doch auch nach den andern Prüflingen sehen. Der Besuch in unserm Hause hatte offenbar großen Eindruck auf sie gemacht; jedenfalls wußte ihre Freundin Toni Hamburger aus ihren Erzählungen noch nach Jahren alle Einzelheiten.

      5.

      Am Morgen nach dem Prüfungstage blieb ich etwas länger als sonst im Bett. Man brachte mir die Post herauf; es waren schon Glückwunschbriefe – auch einer von Onkel David mit der Einladung, nach Chemnitz zu kommen. Ich las, und dann lag ich still da und dachte nach. Von dem großen Glücksgefühl, wie ich es nach der Prüfung erwartet hatte, war gar nichts vorhanden, vielmehr eine große innere Leere. Eine liebe und vertraute Lebensweise war für immer vorbei. Was kam nun? Ich erwog die unausgesprochenen Einwände des guten Onkels gegen meine Berufswahl. Hatte ich wirklich die richtige Entscheidung getroffen? Wir sind auf der Welt, um der Menschheit zu dienen – das kann man am besten, wenn man das tut, wofür man die geeigneten Anlagen mitbringt. Also – – – Der Schluß schien mir einwandfrei. Ich schüttelte alle Zweifel ab und schrieb noch am selben Tage den früher erwähnten entschlossenen Brief nach Chemnitz.

      Das Abschiedsfest verlief gut bis auf einen kleinen Zwischenfall. Es wurde ein Tischlied gesungen, das eine der Schlechtesten aus der Klasse gedichtet hatte. Es stammte von unserm Sedanausflug und wurde jetzt noch einmal wiederholt. Ein Schultag vom ersten bis zum letzten Glockenschlag wurde darin geschildert; eine Strophe behandelte alle unsere Nebenbeschäftigungen in der englischen oder französischen Stunde. Nach der Tafel war der gute Professor Lengert verschwunden. Niemand hatte gemerkt, daß er ging. Als er vermißt wurde, waren alle sehr bestürzt. »Warum habt ihr mich nicht neben ihn gesetzt?«, sagte ich vorwurfsvoll. »Ich hätte ihn bestimmt nicht gehen lassen.« Mir hatte man unsern früheren Religionslehrer zum Tischnachbarn gegeben. Wir hatten längst keinen Unterricht mehr bei ihm, aber er erkundigte sich immer teilnehmend nach unserm Ergehen, wenn er uns im Schulhaus traf. So hatten wir ihn eingeladen, und er war gekommen. Wir hatten auch, wenn ich mich recht erinnere, aus einem rituellen Restaurant das Essen für ihn kommen lassen. Nach dem Fest machte uns Direktor Roehl Vorwürfe wegen des taktlosen Liedes. Die Klassenälteste Elisabeth Spohr (die schon Lehrerin war, ehe sie zu uns kam) und ich wurden beauftragt, den Gekränkten in seiner Wohnung aufzusuchen und zu versöhnen. Professor Lengert empfing uns mit der gewohnten Freundlichkeit. Er sagte ganz offenherzig, daß wir das Lied unter uns gesungen hätten, fände er nicht schlimm. Nur in Gegenwart des Herrn Direktors sei es ihm unangenehm gewesen. Der Arme! Solche Sorgen lagen uns noch fern. Als ich ihn noch einmal

Скачать книгу