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Lehrer. Der Mathematiker Professor Sumpf, in Unterprima unser Klassenlehrer, war ein Original und hatte einen etwas merkwürdigen Verkehrston: Wenn jemand an der Tafel einen Beweis führen oder eine Aufgabe lösen sollte und dabei in Verwirrung geriet, sagte er: »Sie sind wohl heute mit dem Dummbeutel geklopft?« oder »Haben Sie heute wollene Strümpfe an?« Er nannte uns auch nicht, wie es für die beiden Primen vorgeschrieben war, »FräuleinX.«, sondern nur mit dem Nachnamen, oder – wenn er besonders gnädig gestimmt war – rief er uns alle »Lotte«. Da dies alles mit einem trockenen, gutmütigen Humor herauskam, nahmen wir es auch mit Humor auf; außerdem schätzten wir seinen ausgezeichneten Unterricht. Als wir in der Literatur erklärt bekamen, was ein Akrostichon sei, machte ich gleich eins auf ihn:

      »Seht den kleinen Mann,

       Unsern Liebling an:

       Mit vergnügtem Sinn

       Pilgert er dahin,

       Fest die Mütze über beiden Ohren.«

      Ich hatte immer »Gut« in Mathematik, aber ich wußte jetzt noch besser als früher, daß ich nicht die spezifische mathematische Begabung besaß, wie einige meiner Mitschülerinnen sie hatten. Es schien mir auch, daß meine Leistungen in den andern Fächern das Urteil des Professors etwas beeinflußten.

      Nur einmal hat er mir, sicher ohne es zu wollen, sehr weh getan. Es war auf der Rückfahrt von einem Ausflug beim Pfänderspiel. Ich wurde ins Nebenabteil geschickt, und die andern besprachen sich über mich; jedes mußte eine gute oder schlechte Eigenschaft sagen; eine trug mir dann die gesammelten Urteile vor; ich mußte gestehen, was mich am meisten gefreut und was mich am meisten geärgert habe und raten, von wem die betreffende Aussage stamme. Ich fand nur einen Vorwurf kränkend: Jemand hatte gesagt, ich sei schadenfroh, und dieser Jemand war unser Klassenlehrer. Ich konnte mir kaum etwas Häßlicheres denken, und daß mir so etwas zugetraut wurde, das ging mir so zu Herzen, daß mir die Tränen kamen. Man war nicht gewöhnt, mich weinen zu sehen. Die Mitschülerinnen gaben sich alle Mühe, mich zu beruhigen. Sie versicherten mir, es sei wohl nicht so ernstgemeint gewesen; ich könnte vielleicht den Eindruck erweckt haben, weil ich oft über dumme Antworten im Unterricht lachte; die Lehrer wüßten ja nicht viel von uns und könnten uns nicht beurteilen. Hedi Hopf hatte anfangs zu der Äußerung des Professors zustimmend genickt; das war mir noch besonders schmerzlich. Als sie dann sah, wie ich mir den Vorwurf zu Herzen nahm, guckte sie ganz scheu von der Seite nach mir hin. Der gute Ordinarius sagte gar nichts. Er hatte die ganze Sache wohl als einen harmlosen Scherz aufgefaßt und war verblüfft über die Wirkung.

      Unser Neuphilologe Professor Lengert hatte sich mit unermüdlichem Fleiß ein gründliches Wissen erworben. Er hatte eine unverhohlene Bewunderung für Menschen, denen es sehr viel leichter wurde als ihm. Man konnte bei ihm etwas lernen, und ich bin ihm mein ganzes Leben hindurch dankbar gewesen für die Sprachkenntnisse, die ich aus seinem Unterricht mitnahm. Aber die Stunden waren sehr langweilig. Die meisten Schülerinnen dösten oder beschäftigten sich mit andern Dingen. Ich hatte zwei Methoden, mich wach zu erhalten. Die eine bestand darin, daß ich sehr lebhaft am Unterricht teilnahm. Wenn ich den Lehrer scharf ansah, so hatte dies meist die suggestive Wirkung, daß er mich zum Lesen oder Übersetzen drannahm. Aber das ging nicht oft in einer Stunde zu wiederholen, weil ja auch die andern drankommen mußten. Wenn etwas erzählt wurde, was mich interessierte, so streute ich Fragen und ergänzende Bemerkungen ein. Der Professor wandte sich auch manchmal mit Fragen an mich, so daß der Unterricht zum Dialog wurde. Er hatte z.B. herausgefunden, daß ich regelmäßig Zeitung las und zog mich heran, wenn Tagesereignisse zur Sprache kamen. Wenn alles das nichts nützte und die Langeweile kommen wollte, nahm auch ich unter der Bank eine andere Arbeit vor. Herr Lengert merkte das wohl und bemühte sich oft, mich auf einer Unaufmerksamkeit zu ertappen; aber wenn er mich plötzlich anrief, wußte ich immer, wo man stand, und konnte die angemessene Antwort geben. Dann schüttelte er lachend den Kopf, und ich behielt stets meine »Eins« in Aufmerksamkeit. Eine boshafte Mitschülerin behauptete, er schaue beständig nach mir und lese die Urteile über die Leistungen der andern mir vom Gesicht ab. Eine andere rief mir einmal während des Unterrichts zu, als ich wieder unaufgefordert eine Bemerkung einschob: »Sei nicht so vorlaut!« Der Professor nickte zustimmend, wenn auch mit gutmütigem Lächeln. Dies erschien mir nun geradezu als Undankbarkeit. Ich fühlte mich als seine einzig zuverlässige Stütze. »Warte«, dachte ich, »du sollst es einmal spüren, wie es ist, wenn ich nicht ›vorlaut‹ bin.« In der nächsten Stunde saß ich still auf meinem Platz, ohne aufzusehen. So oft ich gefragt wurde, gab ich ruhig Antwort, rührte mich aber von selbst nicht. Als es zur Pause läutete, trat der gute Lengert (wir nannten ihn »Lämmchen«) an mich heran und fragte, was mir fehle: ob ich eine schlechte Arbeit zurückbekommen hätte oder ob mir sonst etwas geschehen sei. Ich antwortete kurz, es fehle mir nichts, und die andern lachten. Er ging nachdenklich zur Klasse hinaus. Ich blieb innerlich beschämt zurück. Von da an war ich wieder wie immer, und beide Teile waren zufrieden.

      Geschichte gab uns in der Prima Direktor Roehl. Wir fürchteten uns nicht mehr vor ihm wie als Kinder. Er selbst war mit den Jahren milder geworden. Vor allem aber waren wir jetzt schlau genug, um ihn zu behandeln. Wenn wir kein zu großes Pensum aufbekommen wollten, unterbrachen wir seinen Vortrag mit einer Frage über die Sozialdemokratie. Wir wußten, daß der stockkonservative Mann dann kein Ende fand, bis es läutete. Und so behielten wir den Nachmittag frei für andere Arbeiten. Der Geschichtsunterricht war durchaus preußisch-konservativ. Brandenburg – Preußen – das neue Deutsche Reich: Das war die glanzvolle Entwicklung, die uns vorgeführt wurde. Der Große Kurfürst, Friedrich der Große, WilhelmI. waren die großen Männer. Nur könne man nicht wissen, ob WilhelmII. nicht schließlich noch alle in den Schatten stellen werde! Ich war gegen diese Beleuchtung schon sehr kritisch. Mein Bruder Arno war eifriger liberaler Politiker; zu Hause wurden nur liberale Zeitungen gelesen. Das war ein Gegengewicht gegen den offiziellen Hurra-Patriotismus.

      Meine Anfechtung waren die »Sedanfeiern« an jedem 2.September. Wenn das Wetter schön war, fuhr die ganze Schule mit Ausnahme der Kleinsten auf einem großen Dampfer die Oder aufwärts nach Schaffgotschgarten. Dort wurde im Freien eine zündende patriotische Rede gehalten (dazu wurden die Lehrer abwechselnd verurteilt), wir sangen vaterländische Lieder, und einige mußten Gedichte deklamieren. Dazu wurde ich zu meiner Freude niemals ausgewählt, denn jegliches Pathos lag mir fern; es war für mich schon immer peinlich, Deklamationen anzuhören. Die Tatsache, daß man den Sieg über die Franzosen immer noch feierte, war mir an sich schon sehr unsympathisch. Ich war keine Pazifistin, aber ein solches Verhalten einem überwundenen Gegner gegenüber erschien mir unritterlich. Als ich in meinem vorletzten Schuljahr wieder einmal dieser Feier in der Aula beiwohnte, wurde wie gewöhnlich das Gedicht vorgetragen: »Nun lasset die Glocken von Turm zu Turm…«. Bei der Stelle: »Er warf den Drachen vom goldenen Stuhl mit Donnerkrachen hinab zum Pfuhl« kam mir der Gedanke: »Das soll doch hier offenbar auf NapoleonIII. bezogen werden. Was für ein Blödsinn!« Und es packte mich plötzlich ein solcher Abscheu vor diesem ganzen Treiben, daß ich mir feierlich gelobte, so etwas nicht mehr mitzumachen. Als im nächsten Jahr der 2.September wieder herankam, war ich in einiger Verlegenheit. Man durfte einer Schulfeier ebenso wenig wie dem Unterricht ohne Entschuldigung fernbleiben. Den wahren Grund anzugeben – das war offenbar so unmöglich, daß mir der Gedanke gar nicht kam. Einen falschen vorschieben wollte ich nicht, und dazu hätte sich auch meine Mutter nicht überreden lassen. Es kam mir eine rettende Idee. Meine Schwester hatte einmal mit ihrer Klasse einen zweitägigen Ausflug gemacht. Das war damals etwas ganz Ungewöhnliches, und ich hatte immer schon vor, für uns auch so etwas zu erreichen. Jetzt stellte ich meinen Klassengefährtinnen vor, daß nun für uns die letzte Gelegenheit vor dem Abitur sei. Wenn der Direktor uns den Sedantag und den darauffolgenden freigäbe, dann könnten wir bis auf die Schneekoppe gelangen. Natürlich waren alle gleich Feuer und Flamme. Die Lehrer wiesen uns an den Direktor und hatten wenig Hoffnung, daß wir Gehör fänden.

      Ich ging mit noch einigen andern Beherzten zu ihm ins Amtszimmer und trug ihm mit eindringlichen Worten unser Anliegen vor. Er sagte schließlich, wenn sich jemand aus dem Lehrerkollegium bereitfände, mit uns zu gehen, und wenn unterwegs des Sedantages gedacht würde, dann wolle er seine Einwilligung geben. Eine Begleiterin hatten wir schon in Bereitschaft: Unsere freundliche, noch junge Turnlehrerin ließ sich leicht von uns überreden. Die Sedanrede freilich übernahm sie nicht; dafür

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