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Martha und Heidel blieben zusammen, obgleich sie einander wegen der großen Verschiedenheit ihrer Naturen schwer ertragen konnten. Die schwesterliche Treue und Anhänglichkeit war aber größer als alle Mißstimmungen.

      Ich habe diese Erinnerungen hier nachgetragen, weil sie mit meinen letzten Schuleindrücken verwoben sind. Im allgemeinen sind die Bilder aus den letzten Jahren in der Mädchenschule stark verblaßt und in den Hintergrund gedrängt durch die späteren aus der Gymnasial- und Studienzeit. Der Abschied von der Schule fiel mir nicht schwer. Das Lernen hatte ich zunächst einmal satt. Ich hing an keinem von meinen Lehrern oder Lehrerinnen. Backfischmäßiges Schwärmen war mir immer ein Greuel; ich hatte es niemals mitgemacht und bei andern darüber gespottet. Drei Jahre lang hatten wir einen Lehrer, den ich sehr gern mochte. Er war ganz jung, als er zu uns kam; es war seine erste feste Anstellung. Er hatte ein frisches, offenes Wesen und verstand mit Kindern umzugehen; das war damals eine Seltenheit. Darum wurde er uns auch bald weggeholt – als Direktor nach Königsberg. Ich war damals 13 Jahre alt. Unsere Klasse schenkte ihm auf meine Anregung Böcklins »Toteninsel« zum Abschied; auf die Rückseite des Bildes ließ er einen Zettel kleben, darauf mußten wir alle eigenhändig unsern Namen schreiben. Als Gegengabe erhielt jede sein Bild mit eigenhändiger Unterschrift. Nach einer Reihe von Jahren kam er als Provinzialschulrat nach Breslau zurück. Beim Eintritt in den Schuldienst mußte ich mich ihm vorstellen. Er erkannte mich sofort wieder und sagte: »Sie waren ja bei mir in der 4.Klasse.«

      Auch keine von den Mitschülerinnen stand mir sehr nahe. In den unteren Klassen war ich fast täglich mit einem Kinde zusammen, das nur wenige Häuser von uns entfernt wohnte. Wir lernten uns aber erst in der Schule kennen; sie trat ein halbes Jahr nach mir ein, vorher hatte sie Privatunterricht erhalten. Ihre Mutter führte sie zur Schule und holte sie ab; da sie bemerkte, daß ich denselben Weg hatte, sprach sie mich gleich in den ersten Tagen auf der Straße an und lud mich dringend ein, Mariechen zu besuchen. Auch später waren es hauptsächlich die Eltern, die mich immer wieder ins Haus zogen, weil sie sich von mir einen günstigen Einfluß auf ihr Kind versprachen. Denn die Klasse war groß und die Kinder aus verschiedenen Schichten gemischt, und Mariechen war nicht wählerisch im Verkehr. Der Vater, Dr. Grünberg, war ein vielbeschäftigter praktischer Arzt, der später auch manchmal zu uns gerufen wurde, wenn unser guter alter Hausarzt Dr. Kamm, ein Vetter meiner Mutter, krank oder verreist war; er war frisch und freundlich, ehemaliger Verbindungsstudent mit ein paar kleinen Schmissen in dem runden, hübschen Gesicht. Die Mutter war eine lebhafte Polin, deren harter Aussprache man noch die Herkunft anmerkte. Auch die Großmutter lebte im Hause; außerdem gab es noch ein kleines Schwesterchen, dessen ersten Geburtstag ich mitfeierte – später hatte ich sie als Schülerin im Gymnasium –, eine Köchin und ein Stubenmädchen, die eng mit der Familie verbunden waren. Die Wohnung war weit ausgedehnt, das Kinderzimmer angefüllt mit schönen Spielsachen und Büchern, die für mich der größte Magnet waren. Mariechen und ich kamen gut miteinander aus, ohne uns näherzukommen. In unserer Familie war sie gern gesehen, weil sie munter und zutraulich war. Aber in der Schule traten manche Charakterzüge hervor, die mich sehr abstießen. Sie sagte nicht immer die Wahrheit, und sie brachte es fertig, falsch vorzusagen – nach Schülermaßstäben so ziemlich das Verwerflichste, was man tun kann. Als unsere Klasse wegen Überfüllung geteilt wurde, kamen wir in verschiedene Abteilungen, und ein Jahr später ging sie aufs Gymnasium über. Seitdem lockerte sich unser Verkehr, und nachdem wir in eine entferntere Wohnung gezogen waren, hörte er schließlich ganz auf.

      Mit einigen andern stand ich so, daß wir uns gegenseitig zum Geburtstag einluden, aber sonst wenig außerhalb der Schule zusammenkamen. In den höheren Klassen war eine Kindheitsgespielin bei uns, die früher eine andere Schule besucht hatte. Ihre Mutter stammte wie die meine aus Lublinitz; dadurch hatten wir uns schon früh kennengelernt. Kaethe war in Ernas Alter, ihre ältere Schwester Emma war mit Frieda nah befreundet, ihr Bruder Emil verkehrte mit unserm Bruder Arno. Frau Kleemann war eine große, stattliche Frau von imponierender Haltung. Meine Mutter vergaß aber nie, daß sie aus einer wenig angesehenen Lublinitzer Familie stammte und im Hause unserer Großeltern als Schneiderin gearbeitet hatte. Ihr Mann hatte sich mit Fleiß und Energie vom Schlossergesellen zum vermögenden Fabrikbesitzer emporgearbeitet. Er arbeitete auch jetzt noch unermüdlich; wir bekamen ihn selten zu sehen, und wenn er da war, hörte man kaum ein Wort von ihm. Kaethe war mehrere Jahre meine Banknachbarin, und wir verstanden uns gut. In den Pausen und auf den Schulwegen hatten wir oft Gespräche über jene Fragen, die in der Schule zu kurz kamen; es war bei ihr wie bei mir das ernste Suchen nach Wahrheit erwacht. Trotzdem hörte auch zwischen uns der Verkehr auf, als wir die Schule verließen. Es lag wohl daran, daß der Verkehr zwischen den Familien schon früher sich gelöst hatte. Kleemanns waren in den Süden der Stadt gezogen, wo sich – ähnlich wie in BerlinW. – die reich gewordenen Juden sammelten: für meine Mutter ein neuer Beweis des »Parvenü« -Charakters.

      Wir waren durch unser Geschäft an den wenig vornehmen Norden gebunden. Dazu kam, daß Emma einen Rabbiner in Hamburg geheiratet hatte (später gingen sie nach Amerika), Emil als Apotheker nach Berlin gegangen war. Nach dem Verlassen der Schule dauerte es mehrere Jahre, bis Kaethe und ich uns nur einmal wiederbegegneten. Es war 1909 bei einer SchillerGedenkfeier. Sie hatte sich kurz zuvor verlobt. Wir begrüßten uns mit aufrichtiger Freude, und sie bat mich herzlich, sie doch einmal wieder zu besuchen, möglichst auch Erna mitzubringen. Wir gingen auch bald einmal hin und verbrachten einen angeregten Abend zusammen. Der Bräutigam, ein junger Arzt, war nicht zugegen. Frau Kleemann freute sich besonders, als Arno uns abholen kam, weil er noch mehr als wir »Kleinen« an die alten Zeiten erinnerte. Er mußte sich noch mit an den Teetisch setzen und einige Zeit bleiben. Es wurde uns ein Gegenbesuch versprochen, Frau Kleemann wollte auch mitkommen, um unsere Mutter wiederzusehen. Aber es kam nicht dazu. Es sollte über 20 Jahre dauern, bis wir uns wieder begegneten.

      Es fiel mir auch nicht schwer, von zu Hause fortzugehen. Freilich war der Besuch in Hamburg zunächst nur für einige Wochen gedacht. Mein Vetter Franz sagte vor meiner Abreise, es sei so schlimm, daß ich keine Rückfahrkarte hätte. Sonst wüßte man, daß es sechs Wochen dauerte, und das wäre erträglich. Aber nun sei es ganz unabsehbar. Darüber lachte ich nur, und niemand von den Anwesenden wußte, wie berechtigt seine Befürchtung war. Er schrieb mir anfangs ziemlich häufig. Da ich aber nur ein- oder zweimal antwortete, unterließ er es schließlich. Es kam mir gar nicht in den Sinn, daß er die ausbleibenden Antworten als Zeichen von Gleichgültigkeit auffassen könnte. Als ich nach zehnmonatlicher Abwesenheit spät abends in Breslau ankam und beim Aussteigen ihm zuerst auf dem Bahnsteig begegnete, war mir das nur selbstverständlich. Die Zeit in Hamburg kommt mir, wenn ich jetzt darauf zurückblicke, wie eine Art Puppenstadium vor. Ich war auf einen sehr engen Kreis eingeschränkt und lebte noch viel ausschließlicher in meiner inneren Welt als zu Hause. So viel die häusliche Arbeit es erlaubte, las ich. Ich hörte und las auch manches, was mir nicht guttat. Durch das Spezialfach meines Schwagers kamen manche Bücher ins Haus, die nicht gerade für ein Mädchen von 15 Jahren berechnet waren. Außerdem waren Max und Else völlig ungläubig, Religion gab es in diesem Hause überhaupt nicht. Hier habe ich mir auch das Beten ganz bewußt und aus freiem Entschluß abgewöhnt.

      Über meine Zukunft dachte ich nicht nach, aber ich lebte weiter in der Überzeugung, daß mir etwas Großes bestimmt sei. Meine Cousine Leni, die mit mir zugleich die Schule verließ, begann damals, sich durch Privatstunden für eine höhere Gymnasialklasse vorzubereiten. Der Familienrat hatte beschlossen, daß sie Apothekerin werden solle. Ich erfuhr es – noch in Breslau – durch unsern gemeinsamen Vetter Richard Courant. Lenis Mutter hatte ihn gebeten, die Mathematikstunden zu übernehmen. Er wollte der Tante ungern etwas abschlagen, wollte aber seine Zeit auch nicht für ein aussichtsloses Unternehmen opfern. »Wie dumm ist sie denn?«, fragte er mich. Ich sagte, sie sei keineswegs dumm, sondern guter Durchschnitt. Ich bezweifelte aber, ob sie die Ausdauer haben würde, längere Zeit so angespannt zu arbeiten, besonders da der Plan ja nicht von ihr stamme, sondern ihr von außen aufgenötigt sei. »Wenn du es wolltest« (n.b. mich aufs Gymnasium vorbereiten), »täte ich es natürlich sofort«, meinte er. Nein, ich wollte es nicht. Wenn ich mich recht erinnere, hat er die Aufgabe nicht übernommen; an seiner Stelle wurde Hans Horowitz damit betraut; er war Jurist und kein so erprobter Lehrer wie Richard, aber er hatte ein gutes Abitur gemacht und mußte doch so viel Mathematik und Latein können, wie für die Sekundareife nötig war. Man wandte sich nicht an Fremde, solange in der

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