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interessant vor, wenn er sonnengebräunt und mit einer blauen Mütze wieder auftauchte. Dann ließ er sich in einem kleinen Städtchen in Thüringen nieder; es wurde uns erzählt, es sei dort nach seiner Ankunft ein Ausrufer mit einem Glöckchen durch die Straßen gegangen und hätte ausgeschellt, daß ein neuer Arzt eingetroffen sei. Später lebte er in Berlin und kam einigemal im Jahr für ein paar Tage zu seinen Angehörigen. Dann sahen wir uns flüchtig und wechselten ein paar Worte. Er behielt alles, was er in meinen Kinderjahren an mir beobachtet hatte, treu im Gedächtnis, und ich hatte immer das Gefühl, daß etwas von der Zuneigung in ihm weiterlebte, die seine Mutter für mich hatte.

      Denn ich war ihr erklärter Liebling. Das äußerte sich zwar auch in etwas rauher Weise, war aber unverkennbar. Wenn sie früh ihre Morgeneinkäufe für den Haushalt machte, begegneten wir ihr manchmal, und dann bekam ich fast immer etwas geschenkt. Das war gewöhnlich ein Trost auf meinem Weg zu dem verhaßten Kindergarten. Als ich einmal wieder zwangsweise dahin abgeführt wurde, kaufte sie mir eine ganze große Düte voll gelber Pflaumen. Ich war fast bestürzt über diesen Reichtum. Aber bestechen ließ ich mich durch solche materiellen Dinge doch nicht. Meine Abneigung gegen diesen Ort der Erniedrigung blieb immer gleich groß. Tante Cilla unterstützte mich auch kräftig, als ich so energisch nach der »großen Schule« verlangte; sie hielt mir später immer vor, daß ich das gewonnene Jahr ihr verdanke, und war sehr stolz auf meine Schulleistungen. Sie brachte auch das in einer mir sehr unangenehmen Form zum Ausdruck: Sie nannte mich nämlich mit Vorliebe »Streberin«. Ich fühlte wohl, daß dies eine liebevolle Neckerei war. Aber es enthielt doch für mich einen Stachel.

      Von früher Kindheit an wurde ich in der ganzen großen Verwandtschaft hauptsächlich durch zwei Eigenschaften charakterisiert: Man warf mir Ehrgeiz vor (sehr mit Recht), und man nannte mich mit Nachdruck die »kluge« Edith. Beides schmerzte mich sehr. Das Zweite, weil ich herauszuhören glaubte, daß ich mir auf meine Klugheit etwas einbildete; außerdem schien mir darin zu liegen, daß ich nur klug sei; und ich wußte doch von den ersten Lebensjahren an, daß es viel wichtiger sei, gut zu sein als klug. Als meine Cousine Leni Pick zu mir in die Klasse kam, setzte ihr Tante Cilla einen Preis von 1 M{{ark}} aus, wenn sie mich einmal überflügeln würde, d.h. in einem Zeugnis einen besseren Klassenplatz bekäme als ich. Die beiden waren aber von vornherein überzeugt, daß diese Prämie unerreichbar sei.

      Bei Burchards war von der Begründung des Haushalts an immer offenes Haus gewesen. In der älteren Zeit trafen sich dort jeden Sonntag alle Brüder und Vettern unserer Mutter, die in Breslau auf der Schule oder Universität oder in kaufmännischen Stellungen waren. Dort waren später auch unsere unzertrennlichen Gefährten, die Zwillinge Hans und Franz Horowitz, in Pension. Sie wurden von der Tante vorzüglich gepflegt, jeder mit seinen besonderen Lieblingsspeisen, wurden aber gelegentlich auch kräftig angefaßt. Wenn sie in den Flegeljahren einmal nicht gehörig gewaschen waren, wurden sie unter die Wasserleitung gehalten und gründlich abgeseift.

      Auch die Geburtstagskaffees waren hier besonders anziehend. Nirgends wurden wir im Kinderzimmer so reichlich mit Kuchen und Schlagsahne versehen; nirgends konnten wir ungestörter spielen. Nur eine unliebsame Unterbrechung gab es: wenn man an der Tafel der Großen erscheinen, ringsherum die Hand geben und sich von allen älteren Tanten und Cousinen beaugenscheinigen lassen mußte. Mein größter Schrecken war ein Studienfreund meines Vetters, der nie an dieser Kaffeetafel fehlte: ein Arzt von vortrefflichem Charakter und vielseitiger Bildung, aber etwas überspannt und verstiegen in seinen Gedankengängen und Reden. Ich verkündete schon vorher in der Kindergesellschaft, was er sagen würde, wenn er mich erblickte, denn es war jedesmal dasselbe: ich hätte einen Christuskopf und Madonnenaugen; und ob sich noch immer kein Bildhauer gefunden hätte, den meine Alabasterfarbe gelockt hätte, mich als Modell zu wählen. Ich konnte mich kaum beherrschen, wenn ich diese Reden über mich ergehen lassen mußte. Sobald wir draußen waren, schüttelte ich mich ab vor Widerwillen, und machte meinem Ärger in boshaften Bemerkungen Luft, z.B. sagte ich, der Alabaster hätte ja seine Farbe sowieso und brauchte mich nicht dazu. Als ich erwachsen war, regte mein Erscheinen diesen Stammgast zu andern Gesprächen an, die mir nicht minder peinlich waren: Er legte mir dann seine philosophischen Probleme vor, und ich fand, daß dazu die Kaffeetafel und der Kreis meiner Verwandten ein sehr ungeeigneter Ort sei.

      In ihrer verschlossenen Art hielt meine Tante die Anzeichen ihres Leidens so lange wie möglich geheim. Als die Schmerzen unerträglich wurden, war es schon so weit fortgeschritten, daß keine Rettung mehr möglich war. Ich erinnere mich an meinen letzten Besuch bei ihr. Sie lag im Bett und war so schwach, daß sie sich nicht mehr aufrichten, auch nur mit leiser Stimme sprechen konnte. Ich hatte gar nicht erwartet, daß ich zu ihr ins Zimmer durfte. Heidel schickte mich aber gleich hinein und gab mir sogar noch ein Tellerchen mit einer kleinen Stärkung mit, die ich der Kranken löffelweise reichen sollte. Mir war sehr beklommen dabei, denn ich dachte, wie schwer es für diesen stolzen und selbständigen Menschen sein müsse, sich von einem Kinde füttern zu lassen. Sie war das aber schon gewöhnt und ließ es ruhig geschehen. Dann erkundigte sie sich nach meinen Schulangelegenheiten, besonders nach einem peinlichen Ereignis, von dem man ihr erzählt hatte: Ich hatte meinen ersten und einzigen Tadel während der ganzen Schulzeit bekommen.

      Wir hatten damals Geographieunterricht bei dem strengen und sehr gefürchteten Direktor Roehl. Es war das Fach, das ich am wenigsten gern mochte. Trotzdem hatte es sich als feste Einrichtung eingebürgert, daß ich vor diesen Stunden früh am Morgen für die ganze Klasse an der Landkarte das aufgegebene Pensum vortrug. Der Direktor war allmählich dahintergekommen, hatte aber offenbar nichts dagegen; jedenfalls erkundigte er sich einmal, als eine andere etwas falsch sagte, ganz friedlich bei mir, ob ich denn nicht richtig vorgetragen hätte. Eines Morgens nun kamen meine Cousine Leni und ihre Freundin Johanna sehr spät zur Schule; mein Vortrag war vorbei, und es hatte schon zur Morgenandacht geläutet. In ihrer Angst vor dem »Drankommen« baten mich die beiden, ich solle mit ihnen in der Aula ganz hinten an der Tür bleiben und sie während der Andacht vorbereiten. Es war mir sehr unangenehm, aber nach echter Schülermoral geht Kameradschaft über alles. Also steckten wir die Köpfe zusammen und ich dozierte im Flüsterton. Leider war eine Lehrerin noch nach uns hereingekommen und hatte uns beobachtet. Was wir sprachen, hatte sie nicht hören können. Aber daß man sprach und sich um die Andacht nicht kümmerte, war ja ein haarsträubendes Verbrechen. Sie stürzte sich auf uns, sobald wir am Schluß zur Tür herauskamen, und hielt uns eine gehörige Standpauke. Da sie in unserer Klasse keinen Unterricht gab, hielt sie es für angemessen, die Sache dem Direktor zu melden. Er hielt uns die zweite Strafpredigt und trug mir einen Tadel ins Klassenbuch ein. Ich weiß nicht mehr, ob die beiden andern Missetäterinnen auch einen Tadel bekamen oder nur ich als die Hauptrednerin. Jedenfalls meldeten sie sich zu Wort und boten ihre ganze Beredsamkeit auf, um zu beweisen, daß sie allein schuldig seien und daß mir die Strafe erlassen werden müsse. Es half nichts. Der Tadel blieb stehen. Das Lehrerkollegium muß aber doch das Verbrechen nicht für gar so schwer angesehen haben, denn im nächsten Zeugnis stand als Betragensnote »Sehr gut, bis auf einen Fall«. (»Sehr gut« war bei uns NoteI.) Von diesem Vorfall mußte ich der sterbenskranken Tante erzählen. Sie lächelte geringschätzig über das Verhalten des Direktors und sagte: »Dummer Kerl!«

      Danach habe ich sie nicht mehr gesehen, auch nach ihrem Tode nicht. Ich hatte noch nie eine Leiche gesehen, und meine Mutter wollte es mir ersparen. Aber ich war bei der Beerdigung und nachher im Trauerhause, als alle Verwandten noch einmal dort zusammenkamen. Es war uns immer befremdlich und abstoßend, daß man sich bei solchen Gelegenheiten wie bei Festlichkeiten an einer großen Kaffeetafel zusammenfand und sprach, wenn auch die Stimmung ernst und gedrückt blieb.

      Als alles vorbei war, wurde die Wohnung geschlossen. Die Zwillinge hatte man bei andern Verwandten untergebracht; dort blieben sie nun in Pension, bis später ihre Eltern aus Oberschlesien nach Breslau zogen. Martha und Heidel kamen zu uns, bis sie in eine neue Wohnung einziehen konnten. Für den Onkel wurde ein Zimmer in einem Hause uns gegenüber gemietet. Verpflegt wurde auch er bei uns. Martha war ganz starr in ihrem Schmerz. Sie konnte weder weinen noch sprechen. Wir bemühten uns alle um die Wette, es ihr bei uns angenehm zu machen. Besonders Frieda konnte sich damals nicht genugtun an Liebesdiensten, bis sich die Erstarrung gelöst hatte. Später führten die beiden Schwestern einen gemeinsamen Haushalt in derselben Gastfreiheit, wie es zu Lebzeiten ihrer Mutter gewesen war. Auch der Vater lebte bei ihnen bis zu

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