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Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften
Год выпуска 0
isbn 9788075830890
Автор произведения Edith Stein
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Wir setzten dann unsern Weg nach Reinerz fort und fuhren von dort im Wagen zu viert mit unserm Gepäck hinauf auf unsern Höhensitz {{Grun- wald}}. Diesmal kam Rosa für einige Zeit zu uns herauf. Es war ein verregneter Sommer, und fast jeder Tag brachte strömende Regengüsse. Aber sowie es ein wenig lichter wurde, waren wir draußen im Freien, Beeren und Pilze zu sammeln oder weiter hinaufzusteigen. Hans besuchte uns oft, und wir gingen auch häufig nach Reinerz hinunter. Da Frau Biberstein Heidelbeeren liebte, nahmen wir ihr immer einen ganzen Waschkrug voll mit hinunter, und es bereitete uns ein besonderes Vergnügen, so über die Kurpromenade mit den eleganten Badegästen zu gehen. Auch diesmal sollte eine mehrtägige Wanderung den Höhepunkt der Ferienzeit bilden. Hans arbeitete das Programm aus, und da er ein Freund von Rekordmärschen war, sah er etwa 40 km für einen Tag vor. Wir fuhren zunächst nach Wölfelsgrund, um von dort den Glatzer Schneeberg zu besteigen, dann sollte die Fahrt weitergehen ins Altvatergebirge, das uns allen noch unbekannt war.
Rose Guttmann konnte sich damals eine solche Tour nicht zumuten, weil ihr Herz etwas angegriffen war; sie fuhr für diese Tage nach Gräfenberg und sollte dann an der Grenzstation Mittelwalde wieder mit uns zusammentreffen. Unsere Schwester Rosa ergänzte an ihrer Stelle unsere Vierzahl. Leider gab es gleich zu Beginn eine empfindliche Störung. Ich verstauchte mir schon beim Aufstieg zum Schneeberg einen Fuß und konnte nur unter den größten Beschwerden die Wanderung fortsetzen. Bergan ging es etwas leichter; darum gab ich mir immer Mühe, beim Steigen den Zeitverlust wieder einzubringen, den ich bei jedem Weg bergab verursachte. Denn beim Hinuntergehen war jeder Schritt eine Qual, und während es sonst meine größte Freude war, in vollem Lauf die Berge hinunterzuspringen, mußte ich jetzt mühselig Fuß vor Fuß setzen. Hans war empört. Die schöne Tour, auf die er sich so lange gefreut hatte, war ihm nun ganz verdorben. Wenn ich strekkenweise rasch voranschritt, so sah er darin kein Zeichen guten Willens, sondern sagte: »Da sieht man es ja, daß sie kann, wenn sie will.« Er rannte in seinem gewöhnlichen Schritt voraus und Erna ging mit ihm, obgleich ihr dabei sehr wenig wohl war. Die Arme hatte das Schlimmste auszuhalten. Sie mußte die Ausbrüche der bösen Laune ihres verwöhnten Freundes anhören und obendrein die Vorwürfe meiner Begleiterinnen, die über das Verhalten der beiden angehenden Ärzte entrüstet waren und sich von mir nicht zurückhalten ließen, ihnen gründlich ihre Meinung zu sagen. Natürlich steigerte sich das Übel mit jedem Tage. Als wir am Schluß noch mehrere Stunden lang eine sehr steile und steinige Schlucht zur Bahnstation hinuntergehen mußten, legte Lilli fest den Arm um mich und trug mich mehr als daß ich ging.
Dabei kamen wir durch die herrlichsten Gebirgslandschaften, und wenn das vorauseilende Pärchen außer Sehweite war, dann vergaßen wir drei friedlich Hinterdreinmarschierenden allen Zwist und freuten uns miteinander. Dazu gab es noch einige komische Intermezzos, die in den folgenden Jahren noch viel Stoff für Tischlieder, Bierzeitungen u. dgl. gaben. Am ersten Abend kamen wir spät bei Nacht in Ramsau an. Von dort aus sollte am nächsten Morgen die Altvaterwanderung beginnen. Auf dem Bahnsteig war es stockdunkel. Mit Hilfe einer Taschenlampe tasteten wir uns nach dem Ausgang und zu dem nahegelegenen Gasthaus. Es war schon stark besetzt: Hans wurde in einem taubenschlagähnlichen Zellchen auf dem Hof untergebracht. Wir vier Mädchen bekamen alle zusammen ein Zimmer. Als wir nach dem späten Abendessen in der Gaststube dorthin gewiesen wurden, mußten wir durch ein anderes Zimmer hindurchgehen, in dem zwei Herren und eine Dame gerade im Begriff waren, sich auszukleiden. Wir bedauerten die Leidensgefährtin und priesen uns glücklich, daß man uns wenigstens nicht zugemutet hatte, unseren schmollenden Kavalier mit bei uns zu beherbergen. Es stand nämlich noch ein fünftes Bett in unserem Zimmer. Da die Verbindungstür zu den Nachbarn nicht verschließbar war, ergriffen wir dieses Bett und schoben es davor. Als wir nach allen Anstrengungen, Aufregungen und Abenteuern dieses heutigen Tages endlich auf ein wenig Schlaf hofften, machten sich bei Lilli Nachwirkungen der ungewohnten Reisekost bemerkbar. Mehr als Übelkeit und Schmerzen quälte sie der Umstand, daß auch unsere Nachtruhe dauernd gestört wurde. Wir atmeten alle auf, als der neue Tag uns aus unserm Gefängnis befreite. Wieder ging es bergauf und bergab, von morgens bis abends. Diesmal aber erreichten wir noch vor Anbruch der Nacht einen wirklichen Ruheort, das liebliche Karlsbad. Es wurden uns von der Kurverwaltung in einem reizenden Häuschen saubere und nette Zimmer angewiesen. Als wir hier nach gründlicher Reinigung richtig rasten konnten, fühlten wir uns wie im Himmel. Von der beschwerlichen Schlußwanderung am nächsten Tage erzählte ich schon. Sie endete an einer Bahnstation, wo wir feststellen mußten, daß der K.K. österreichische Bahndienst sich um Kursbücher wenig kümmerte. Der fahrplanmäßige Zug ging nicht, wir mußten stundenlang warten und konnten Rose nicht zur verabredeten Zeit in Mittelwalde erreichen. Ein Bahntelegramm sollte sie davon in Kenntnis setzen. Als wir wiederum spät am Abend endlich in Mittelwalde anlangten – mit dem letzten Zug, der überhaupt einlief –, war von Rose nichts zu sehen. Wir schlugen den Weg zum nächsten Hotel ein. Es war kein Zimmer mehr frei. Wohl wären in manchen Zimmern noch leere Betten, aber man könne die Gäste nicht wecken, um noch jemanden bei ihnen einzuquartieren. Wir mußten weiterziehen, obgleich mein Fuß schon fast den Dienst versagte. Das zweite Gasthaus war etwas weniger vornehm als das erste. Aber danach fragten wir nicht mehr viel. Der Bescheid lautete ebenso wie im ersten. Das dritte lag schon am äußersten Rand des Städtchens und sah wenig verlockend aus. Immerhin: Wir hatten keine Wahl mehr. Ich ging sofort in die Gaststube und erklärte, wir würden hier bis zum Morgen sitzenbleiben, wenn man keine Betten für uns hätte. Daraufhin gestand man, daß noch ein Zimmer frei sei und stellte es uns zur Verfügung, diesmal nun wirklich uns allen zusammen. Es standen zwei Betten und ein Sofa darin. Wir blieben in unsern Kleidern, ja wir hüllten uns noch fest in unsere Mäntel, da wir gegen die Reinlichkeit der Bettwäsche begründete Bedenken hatten. Je zwei Damen richteten sich, so gut es ging, auf einem Bett ein. Hans war mit dem Sofa vielleicht noch am besten dran, fand aber offenbar keinen Schlaf; in kurzen Abständen knipste er seine Taschenlampe an, um nach der Uhr zu sehen. Zwischendurch hörte man die Turmuhr schlagen. Am Morgen machten wir nacheinander an dem einzigen Waschtisch Toilette.
Dann gingen wir den Weg zurück, den wir am Abend in der Dunkelheit gekommen waren. Als wir zu dem vornehmen Hotel gelangten, kam Rose gerade gut ausgeschlafen zum Tor heraus. Sie hatte allein ein Zimmer mit vier Betten zur Verfügung gehabt und es erst kurz, ehe wir vergeblich an diese Tür klopften, bezogen. Bis dahin hatte sie am Bahnhof gewartet, gelesen und ein belegtes Butterbrot nach dem andern verspeist; schließlich sagten ihr die Bahnbeamten, es käme nun kein Zug mehr, und zeigten ihr den Weg ins Hotel. Wir besaßen noch Humor genug, um über diese Tücke des Geschicks zu lachen. Überhaupt trug das Wiedersehen mit Rose und der Austausch der Erlebnisse dazu bei, die Atmosphäre zu entspannen. Allerdings, als unsere Schwester Rosa sich von uns trennen mußte, um nach Breslau zurückzufahren, fiel der Abschied von Hans noch recht frostig aus. Es kostete ihn sichtlich Überwindung, ihr die Hand zu reichen. Mir gegenüber war er schon etwas versöhnlicher gestimmt. Er hatte sich wohl indessen überzeugt, wenn er es auch nicht aussprach, daß das Übel nicht fingiert war; außerdem hatte ich in die Vorwürfe der andern nicht eingestimmt; es bedrückte mich viel zu sehr, daß ich an der gestörten Freude unschuldig-schuldig war. Wir mußten nun wieder über Reinerz zurück; es gab keinen andern Weg nach Grunwald. Frau Biberstein empfing uns im Hausflur. Ein Blick in das Gesicht ihres Lieblings zeigte ihr, wie verärgert er war. Damit waren wir für sie erledigt. Nur Erna