Скачать книгу

war, hatten mich körperlich so gekräftigt, daß ich nun allen Anstrengungen mühelos gewachsen war.

      Mit allen nötigen Büchern und Auskünften und mit guten Wünschen versehen ging ich von Grünbergs fort. Ich begann nun auch Französisch, Englisch und Geschichte zu wiederholen. Dafür bekam ich bald eine Gefährtin. Eine Klassengefährtin erzählte Erna, daß bei ihren Eltern ein junges Mädchen aus Oberschlesien in Pension sei und sich auch für die Obersekunda vorbereite; sie würde gern etwas mit mir zusammenarbeiten. So kam nun Trudi Mervius öfters zu mir. Sie war ein reizendes Persönchen, sehr nett anzusehen, munter und liebenswürdig. Aber ihre Kenntnisse waren so minimal, daß ich wenig Hoffnung für sie hatte. Ich war auch für mich besorgt, als die Prüfung näherkam. Ich hatte noch nie eine Prüfung machen müssen und stellte mir vor, daß man alles wissen müsse, was im Lehrstoff der drei unteren Klassen enthalten war. Daß ein Examinator froh ist, wenn er nur etwas aus seinem Opfer herauslocken kann, erfuhr ich erst, als ich selbst zu prüfen hatte. Wenn meine Geschwister so sprachen, als könnte ich unmöglich durchfallen, so wurde ich ganz aufgebracht. Frieda berichtete mir einmal: »Dein Bruder hat eine sehr gute Meinung von dir. Er hat gesagt, die Lehrer müßten nicht recht gescheit sein, wenn sie dich durchfallen ließen. Es könnte doch niemand mehr wissen.« Ich fuhr ganz empört auf: »Er hat keine Ahnung, was dazu gehört.« Ein andermal fragte sie, was ich denn zu tun gedächte, wenn ich wirklich durchfiele. Sie glaubte durchaus nicht daran. Aber gesetzt den Fall… Frieda führte bei uns die Kasse. Die stattliche Anzahl von Goldstücken, die ich ihr für meine Stunden schon entführt hatte, war gegen ihren haushälterischen Sinn, und sie war keineswegs dafür, diesen kostspieligen Privatunterricht noch länger fortzusetzen. Am liebsten hätte sie mich schon aufhören lassen, als Richard Courant fortging. (Der Vetter hätte umsonst unterrichtet.) Nun meinte sie, wenn ich Ostern nicht aufgenommen würde, dann sollte ich das ganze Unternehmen aufgeben. Was ich gelernt hätte, würde mir auf alle Fälle nützen. Ich könnte z.B. eine Nachmittagsstellung bei Kindern zur Beaufsichtigung der Schularbeiten annehmen, wie es Leni Pick getan hatte. Ich war innerlich ganz fassungslos über das Ansinnen, mich in einen so engen Kreis einsperren zu lassen. Aber das sprach ich nicht aus. Ich lehnte die ganze Fragestellung ab. Dazu war Zeit nach der Prüfung.

      Anfang März, bei Semesterschluß, verabschiedete sich Dr. Marek von mir. Er wollte die Ferien in seiner oberschlesischen Heimat verbringen. Mit dem Pensum waren wir fertig; ich sollte mich während der nächsten Wochen noch allein weiter üben. »Kommen Sie wirklich vor der Prüfung nicht mehr wieder?«, fragte ich ganz erschreckt. Nein, er hatte nicht die Absicht. Es sei ja auch nicht nötig. Ob ich mich denn fürchte? Ja, freilich fürchtete ich mich. Er war höchst erstaunt. »Wovor denn? Die Grammatik beherrschen Sie so sicher wie kaum irgendein Mensch, übersetzen können Sie und Verse lesen auch.« Herr Marek hatte mir nie eine Schmeichelei gesagt. So war mir diese Versicherung wirklich beruhigend.

      Ende April kam endlich der gefürchtete Tag. Außer Trudi Mervius und mir war noch eine dritte Kandidatin für die Obersekunda zur Stelle. Wir machten uns miteinander bekannt, während wir in einer leeren Klasse auf den Beginn warteten. Die Fremde versicherte uns, sie wüßte sehr viel, aber man würde ihr wohl zu einfache Fragen stellen, und dann könnte es ihr schlechtgehen. Wir wurden in Latein, Mathematik, Französisch und Englisch schriftlich geprüft. Es dauerte mehrere Stunden. Erna erwartete die Examinatoren, wenn sie aus dem Prüfungsraum kamen und erkundigte sich nach dem Verlauf. Sie durften ja nicht viel sagen, ließen aber doch merken, daß es gut ging. Gegen Mittag kam auch meine Mutter und wartete mit uns in der Aula auf die Verkündigung des Prüfungsergebnisses. Der Direktor verlas, wer für die einzelnen Klassen – von unten angefangen – aufgenommen war. Für Obersekunda hatte ich als Einzige bestanden. Trude Mervius wurde der Vorschlag gemacht, nach Obertertia zu gehen. Sie versuchte es auch; in den ersten Wochen schlüpfte sie noch in den Pausen aus ihrer Klasse zu mir und hängte sich an meinen Arm. Aber sie konnte sich doch nicht eingewöhnen und kehrte zu ihren Eltern zurück. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist.

      4.

      So begann nun das Schulleben von neuem. Als ich am Tage nach der Prüfung zum Schulbeginn antrat, begegnete ich dem alten Direktor im Treppenhaus. Er begrüßte mich so freundlich wie vor 10 Jahren, als ich zum erstenmal hier eingezogen war; ich fragte ihn, wo der Klassenraum der Obersekunda sei, und er zeigte mir selbst den Weg.

      Ich war, wenn ich mich recht erinnere, die Erste im Zimmer. Allmählich fanden sich die andern ein. Ein großes Mädchen mit rötlichen Haaren kam herein, warf ihren Ranzen auf einen Tisch und sagte seufzend: »Das Leben ist mühsam und zeitraubend.« Da hatte ich gleich den richtigen Schülerjargon. Einige meiner neuen Mitschülerinnen kannte ich, weil sie auch früher die Viktoriaschule besucht hatten. So meine Banknachbarin Julia Heimann. Sie galt als das reichste Mädchen der Stadt und wurde wohl von den Eltern aufs Gymnasium geschickt, weil dies die beste Ausbildungsmöglichkeit war. Auch sonst wurde viel für ihre Bildung getan; sie hatte eine »Miss«, die sie immer mit einem schönen schwarzen Hund von der Schule abholte; außerdem bekam sie auch Privatunterricht in französischer und italienischer Konversation. Sie war nicht sehr begabt, arbeitete aber fleißig und hielt sich dadurch immer unter den Besseren in der Klasse. Von Natur aus war sie zu mancherlei Streichen aufgelegt und wäre wohl ohne die sorgfältige Erziehung kein braves Kind gewesen. Ihre Kleidung war immer sehr gut und geschmackvoll, aber ganz einfach. Schmuck trug sie fast gar nicht, und sie erzählte uns einmal, ihre Eltern hätten allen Verwandten untersagt, ihr welchen zu schenken. Die Großmutter mußte wohl eine Ausnahme machen, denn ich erinnere mich an eine Halskette aus Gold und Türkisen, die sie Julia aus Ägypten mitgebracht hatte. Besonderen Eindruck machte mir, daß sie nachts ihren Wecker unter dem Kopfkissen hatte, um die Miss nicht zu stören, die im selben Zimmer schlief.

      Außer Julia und mir waren noch sieben jüdische Schülerinnen in der Klasse, aber keine war strenggläubig erzogen. Von der Obersekunda an hatten wir auch in der Schule keinen Religionsunterricht mehr, weil Religion für uns auch nicht Prüfungsfach war. (Das wurde später geändert.) Ich habe allerdings auch bei den andern Mädchen kaum etwas von tieferer Frömmigkeit bemerkt. Den protestantischen Religionsunterricht gab in den Oberklassen ein Herr, der sichtlich darauf Wert legte, von seinen Schülerinnen angeschwärmt zu werden und für manche wohl eine wirkliche Gefahr bedeutete.

      Nur eine einzige Klassengefährtin war katholisch, und diese eine mußte wegen Schwierigkeiten im Latein die Obersekunda wiederholen, so daß wir nach einem Jahr voneinander getrennt wurden. Solange die Schule noch am Ritterplatz war, hatten wir den Schulweg gemeinsam und gingen jeden Mittag zusammen nach Hause. Wenn ich einmal die Schule versäumen mußte, holte ich mir bei ihr die Aufgaben. Es war ein ruhiges, verständiges und gleichmäßig-freundliches Mädchen, und ich mochte sie gern. Über religiöse Dinge haben wir nie gesprochen. Nach meinem Abitur verloren wir uns zunächst aus den Augen. Später hörten wir durch eine gemeinsame Bekannte voneinander; so erfuhr ich auch, daß sie – ziemlich spät – als Benediktinerin in St. Gabriel (Steiermark) eingetreten war. Von da aus hat sie im letzten Jahr brieflich die Verbindung wieder angeknüpft.

      Die erste Stunde in meiner neuen Schulperiode war lateinische Lektüre bei Professor Olbrich. Er war ein gründlich gebildeter, kenntnisreicher Lehrer, und wir schätzten seinen Unterricht sehr. Aber die meisten Mädchen fürchteten ihn, denn er stellte hohe Anforderungen und hatte eine schroffe, verletzende Art zu tadeln. Es fiel uns auch auf, daß er uns nie richtig ansah und daß es ihm offenbar unbehaglich war, wenn wir uns einmal nach der Stunde, wie bei andern Lehrern, um das Katheder drängten, um noch etwas mit ihm zu besprechen oder etwas anzusehen, was er uns zum Zeigen mitgebracht hatte. Darum nannten wir ihn einen Misogyn und hatten den Eindruck, daß er sich eigentlich zu gut für eine Mädchenschule vorkam.

      Die Klasse übernahm er neu; er unterrichtete nur auf der Oberstufe. Er hatte mich auch nicht geprüft und mochte dem Urteil seines Kollegen wohl nicht ganz trauen. Jedenfalls nahm er mich gleich als Erste dran, um einige Verse zu lesen. Es war der Anfang von Ovids Autobiographie: »Ille ego qui fuerim, tenerorum lusor amorum…« Die Stelle war mir schon bekannt, das Versmaß vertraut; so las ich ein längeres Stück mit scharf betontem Rhythmus glatt herunter. »Sie können lesen«, sagte der Gestrenge.

      Anfangs wußte ich nicht Bescheid, ob in puncto Vorsagen und Abschreibenlassen im

Скачать книгу