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den Tatbeweis zu liefern. Durch Hans Biberstein war ich mit allem, was damals letzte Mode war, vertraut. Erich mußte sich als geschlagen erklären und versicherte mit aufrichtiger Bewunderung: »Ein Mädel, das Abitur gemacht hat, vom Mündlichen befreit, den ›Faust‹ gelesen hat und Walzer linksrum tanzen kann – das muß im Hansa-Theater (dem größten Varieté von Chemnitz) ausgestellt werden.« Er selbst hat sein Abitur auch recht gut bestanden, aber dann nicht studiert. Er ging als junger Kaufmann nach Amerika. Ich habe auch ihn seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Sein älterer Bruder Walter hatte den Eltern immer viel Kummer gemacht. Die etwas verschwenderische Art der Mutter war bei ihm zu einem fast krankhaften Leichtsinn gesteigert. Mit großer Mühe wurde er bis zum »Einjährigen« gebracht. Dann kam er als Kaufmannslehrling in ein solides Geschäft, möglichst weit entfernt von der Heimat und den alten Beziehungen. Aber weder dort noch in einer späteren Stellung konnte er lange bleiben, weil er immer bald tief in Schulden steckte und in allerhand böse Händel verwickelt war. Sein Vater schickte ihn nach Amerika – aber nach kürzester Zeit tauchte er wieder auf. Zu Beginn des Krieges kam er sofort ins Feld; er war ein tollkühner Soldat und kam sehr bald mit dem Eisernen Kreuz und einer schweren Kieferverletzung wieder zurück. Dann ging das alte Leben wieder an. Mein Onkel wußte sich schließlich nicht mehr anders zu helfen, als daß er alle Beziehungen zu ihm abbrach und ihn nicht mehr ins Elternhaus kommen ließ. Ich habe es selbst miterlebt, daß er in Berlin telephonisch anfragte, wie es den Eltern ginge und ob er nicht kommen dürfe, und daß er kurz abgewiesen wurde. Er heiratete schließlich ein christliches Mädchen aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Er lebte mit in der engen Proletarierwohnung des Schwiegervaters, eines braven Tischlermeisters. Seine Eltern waren wenig erbaut von der »Mißheirat« und kümmerten sich auch jetzt nicht um ihn und seine Familie. Die Ehe aber war gut und die junge Frau war untröstlich, als er nach kurzer Krankheit starb. Sie blieb mit zwei kleinen Kindern zurück. Zur Beerdigung kamen die Eltern, mein Onkel führte seine Schwiegertochter an seinem Arm zum Grabe. Als der Rabbiner die letzten Gebete gesprochen hatte und das Trauergefolge sich zum Gehen wenden wollte, kniete die junge Frau am Grabe nieder und betete in ihrem Schmerz laut das Vaterunser. Das war natürlich etwas ganz Unerhörtes auf dem jüdischen Friedhof, aber niemand nahm daran Anstoß; es waren alle gerührt.

      Während ich in Chemnitz war, unterhandelte mein Onkel über den Verkauf seiner Apotheke. Er war damals leidend und konnte die Luft der Fabrikstadt augenscheinlich nicht mehr vertragen. Außerdem spielte wohl der Einfluß seiner Frau mit, die gern nach Berlin übersiedeln wollte. Es war ein Bewerber da, der die vorzüglich gelegene Apotheke dicht am Markt und das große Haus sehr gern kaufen wollte; aber die hohe Kaufsumme schreckte ihn immer wieder ab. Mein Onkel blieb ganz ruhig. »Das Zögern kommt dem Mann teuer zu stehen«, sagte er. »Jedesmal, wenn er aufs neue anfragt, kostet es 10000M mehr.« Und dabei blieb er fest. Der Kollege mußte, als er sich endlich entschloß, 30000M über den ursprünglichen Preis hinaus zahlen. Mein Onkel meldete den glücklichen Abschluß telephonisch in Breslau. Dabei erkundigte ich mich, ob schon bald Vorlesungen anfingen, die für mich in Betracht kämen. Ich hatte Erna beauftragt, am »schwarzen Brett« nachzusehen. Ich erfuhr, daß schon für den nächsten Tag – den 27.April 1911 – einige Vorlesungen angekündigt seien. Obgleich dies der Geburtstag des guten Onkels war, rüstete ich unaufhaltsam zum Aufbruch. Die Tante konnte mich gar nicht begreifen, aber der Onkel ließ mich lächelnd gewähren.

      V. Von den Studienjahren in Breslau

       Inhaltsverzeichnis

      1.

      Am nächsten Tage stand ich vor dem berühmten »schwarzen Brett«. Es war eine ganze Reihe von Wandtafeln in einem schmalen Gang unserer lieben alten Breslauer Universität. Sie waren bedeckt mit kleinen weißen Zetteln, auf denen die Dozenten Thema, Zeit, Ort und Beginn ihrer Vorlesungen ankündigten. Man mußte das alles genau studieren, denn es kamen manche Abweichungen von dem gedruckten Vorlesungsverzeichnis vor. Hier stellte ich mir meinen Stundenplan zusammen. Es war gut, daß manche von den Kollegs, die ich in Betracht zog, zeitlich zusammenfielen, so daß ich eine Auswahl treffen mußte. Sonst wäre ich wohl auf 40–50 Wochenstunden gekommen. Es blieben auch so immer noch genug: Indogermanisch, Urgermanisch und Neuhochdeutsche Grammatik, Geschichte des deutschen Dramas, Preußische Geschichte im Zeitalter Friedrichs des Großen und Englische Verfassungsgeschichte, ein griechischer Anfängerkursus (ich war immer sehr unzufrieden, daß wir kein humanistisches Mädchengymnasium hatten, und wollte jetzt etwas von dem Versäumten nachholen; außerdem wurden für das Geschichtsstudium auch einige Kenntnisse im Griechischen durch die Prüfungsbestimmungen verlangt); dazu kam das, worauf ich am meisten gespannt war: eine vierstündige Einführung in die Psychologie bei William Stern und ein einstündiges Kolleg über Naturphilosophie bei Richard Hönigswald.

      Beide nahmen mich auch schon im ersten Semester in ihr Seminar auf. Das Psychologie-Kolleg war das erste, was ich überhaupt hörte. Das mochte ein Vorzeichen sein, denn ich habe mich in den vier Semestern, die ich in Breslau studierte, wohl am meisten mit Psychologie beschäftigt. Sterns Vorlesung war sehr einfach und leichtverständlich gehalten, ich saß darin wie in einer angenehmen Unterhaltungsstunde und war etwas enttäuscht. Um so mehr mußte man sich bei Hönigswald anstrengen. Sein bohrender Scharfsinn und seine strenge Gedankenführung entzückten mich. Er war ausgesprochener Kritizist und gehört ja heute zu den Wenigen, die dieser Richtung noch treu geblieben sind; man mußte sich den Begriffsapparat des Kantianismus zu eigen machen, um ihm folgen zu können. Es hatte für die jungen Leute in seinem Seminar etwas Verführerisches, sich mit diesen scharf geschliffenen Waffen in dialektischen Kämpfen zu üben. Wer etwas hereintragen wollte, was nicht auf diesem Boden gewachsen war, wurde von Hönigswald mit seiner überlegenen Dialektik und beißenden Ironie mundtot gemacht, aber schwerlich innerlich überwunden. Ein älterer, sehr selbständiger Student sagte mir einmal: »Es gibt Dinge, die man in Hönigswalds Seminar nicht zu denken wagt. Aber außerhalb kann ich mich ihnen doch nicht verschließen.« Immerhin war es eine ausgezeichnete Schulung im logischen Denken, und das genügte damals für mich, um mich glücklich zu machen. Außerdem waren seine philosophiegeschichtlichen Vorlesungen, die ich später hörte, ausgezeichnet in ihrer klaren und scharfen Herausarbeitung der Gedankensysteme. Im Vergleich dazu lehnte ich seinen damals weit berühmteren und vielumschwärmten Fachkollegen Eugen Kühnemann mit seinem pathetischen Schwung und seiner für alles bereitstehenden Begeisterung als »Schöngeist« ab. Übrigens war man außerhalb Breslaus immer erstaunt zu hören, daß er das Ordinariat für Philosophie innehabe. Er war bekannt durch seine Werke über Schiller und Herder, und Uneingeweihte hielten ihn darum für einen Literarhistoriker. Stern und Hönigswald stand in ihrer akademischen Laufbahn die jüdische Abstammung im Wege. Der Lehrstuhl für Psychologie war in Breslau Extraordinariat, und Hönigswald war noch Privatdocent und blieb es auch noch mehrere Jahre. Er erreichte es später, daß ihm die Psychologie übertragen wurde, als Stern einen Ruf nach Hamburg annahm. Die Berufung auf einen philosophischen Lehrstuhl (München) wurde ihm erst sehr spät zuteil. Er hat darunter augenscheinlich sehr gelitten.

      Die »akademische Freiheit«, in die ich eintrat, war ein zweischneidiges Schwert. Es gab für uns damals keinen vorgeschriebenen Studiengang wie z.B. für die Mediziner, die für jedes Semester einen festgelegten Plan haben. Das einzig Bindende für uns waren die staatlichen Bestimmungen über die Prüfung für das höhere Lehramt. Daraus konnten wir ersehen, was am Ende von uns verlangt würde. Ich kaufte mir diese Bestimmungen schon im ersten Semester, angeregt durch eine Studiengefährtin, die von Anfang an sehr zielbewußt auf das Staatsexamen hinarbeitete. Das lag mir an sich fern. Das Staatsexamen wollte ich ja nur »für meine Familie« machen, mir war es vorläufig nur um die Wissenschaft zu tun. Ich sah aber ein, daß es vernünftig sei, von vornherein bei der Aufstellung des Semesterplans das Notwendige mit zu berücksichtigen. Natürlich durften die Dinge, die mir am Herzen lagen, dadurch nicht zu kurz kommen. Eine für mich erfreuliche Tatsache entnahm ich den Prüfungsbestimmungen: daß »Philosophische Propädeutik« Prüfungsfach sei. Natürlich beschloß ich sofort, dieses Fach zu wählen. Damit hatte ich ja eine moralische Deckung für mein Lieblingsstudium. Ich behielt anfangs trotzdem die andern Fächer, die ich vorgesehen hatte, alle bei. Nach einigen Semestern sah

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