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in unserer Stadt eine Frau ein Attentat auf ihn versucht, das mochte ihm die Besuche verleidet haben). Als er das Festgelände besichtigte, stand der Erbauer Stadtbaurat Berg bereit, um sich vorstellen zu lassen und ein freundliches Wort zu hören. Aber er wurde nicht beachtet und mußte die schroffen Worte hören: Der Magistrat hätte besser getan, die große Summe, die für diesen Bau verwendet wurde, der Universität zu überweisen. Der gekränkte Baurat wurde Sozialdemokrat. Der Kaiser hatte auch keine Zeit für ein Konzert in der Jahrhunderthalle, bei dem 10000 Volksschulkinder Volkslieder sangen. Der König von Sachsen hatte es sich kurz zuvor angehört und den kleinen Künstlern einige freundliche Worte gesagt. Ich fand das Verhalten des Kaisers unbegreiflich töricht. Ich dachte, mit ein paar Worten hätte er so viele tausend Kinderherzen gewinnen und für ihr Leben zu treuen Untertanen machen können. Aber es war ihm nicht gegeben, solche Gelegenheiten zu erfassen.

      Ich habe außer diesen Liederchören in der Festhalle noch manches andere Schöne gehört, z.B. ein großes Bachkonzert auf der eingebauten Riesenorgel. Natürlich sah ich auch die Jahrhundertausstellung. Die ebenfalls neuerbauten Ausstellungshallen, die historischen Gärten und die andern schönen Anlagen um die Festhalle wurden als dauernder Schmuck der Stadt erhalten.

      Zu Hause wurde ich mit herzlicher Liebe aufgenommen. Meine Zukunftspläne stießen auf gar keinen Widerstand. Ich hatte auch nicht mehr den Eindruck, daß meine Mutter das auswärtige Studium schmerzlich empfand. Als ich von meinen beiden Arbeiten berichtete, war Erna voll Bewunderung für diese selbständigen Leistungen. Ihre eigene Doktorarbeit kam ihr daneben wie ein Kinderspiel vor, da ihr die ganze Fragestellung fertig vorgelegt wurde und nur die Ausführung der Versuche ihr überlassen wurde. In dem alten Freundeskreis erregte meine wissenschaftliche Entwicklung einiges Aufsehen, ich wurde aber genau so wie früher »dazugerechnet«. Stern lud mich immer noch mit dem engsten Schülerkreis zusammen ein und zog mich heran, um eine große pädagogische Tagung und eine damit verbundene psychologische Ausstellung vorzubereiten. Im Mittelpunkt stand eine Auseinandersetzung zwischen Wyneken, der sein Ideal der Erziehung in Freien Schulgemeinden mit radikaler Entschiedenheit vertrat, und Stern, der sich in milderen Formen, aber nicht minder fest für die Familienerziehung einsetzte. Diesmal stand ich ganz auf seiner Seite. Wynekens düsteres Äußere, sein fanatischer Blick stießen mich ebenso ab wie seine Theorien, und die Wickersdorfer Zöglinge, die er mitgebracht hatte, schienen mir in ihrer blinden Gefolgschaft kein vertrauenerweckendes Ergebnis der Erziehungskunst ihres Führers.

      In der zweiten Oktoberhälfte, einige Tage vor Beginn der Vorlesungen, war ich wieder in Göttingen. Ich mietete ein Zimmer in der Schillerstraße 32, nur um einen Häuserblock von Courants entfernt. Die ganze Straße war neu gebaut, das Zimmer modern und geschmackvoll mit weißer Decke, lichtgrauer Tapete und schmaler Goldleiste. Die Wirtsleute gehörten zum guten Mittelstand; Frau Mußmann war weder jung noch hübsch, aber sehr freundlich. Sie versorgte mich, wie ich es bisher gewohnt war, mit Milch zum Frühstück und Tee zum Abendessen. Nach einigen Monaten übernahm sie es auch, mir mittags eine Portion von ihrem Essen zu bringen; damit war ich für wenig Geld sehr viel besser versorgt als in den Gasthäusern. Mein Zimmer lag außerhalb der Wohnung, hatte einen eigenen Eingang vom Treppenhaus; es war im Erdgeschoß, so daß man mir von der Straße mit einem Stock ans Fenster klopfen konnte. Richard machte sich manchmal so bemerkbar, wenn er abends aus einem Konzert heimkam und bei mir noch Licht sah. Ich war in diesem Winter sehr einsam. Solange Rose mit mir zusammenlebte, hatten wir beide nichts von Heimweh gespürt. Ich vermißte sie jetzt sehr. Ich vermied es, durch die Lange Geismarstraße zu gehen, weil der Anblick unseres alten Wohnhauses mir zu weh tat. Darum habe ich es auch niemals über mich gebracht, unsere guten früheren Wirtsleute zu besuchen. Der treue Danziger holte mich weiter zu Sonntagsspaziergängen ab. Ich konnte mir nur jetzt nicht mehr so viel Zeit dafür nehmen wie früher, weil ich ganz im Bann meines großen Arbeitsprogramms stand. Außerdem muß ich gestehen, daß der gute Junge mich etwas langweilte. Moskiewicz war auch wiedergekommen, und ich zog seine Gesellschaft bei weitem vor, obgleich der Verkehr mit ihm immer aufreibender wurde. Gewöhnlich bat er mich, den Sonntagnachmittag für ihn freizuhalten; aber ich mußte damit rechnen, daß am Vormittag ein Roter Radler einen Absagebrief brachte. Manchmal kam ein zweiter hinterher, der die Absage wieder zurücknahm. Ich nahm ihm das nicht übel, weil ich durchschaute, was dahinterstand. Die Phänomenologie war seine unglückliche Liebe. Sie hatte ihm die psychologische Arbeit verleidet, und er konnte dorthin nicht mehr zurückfinden; in der Phänomenologie aber kam er nie über die Anfangsschwierigkeiten hinaus und vermochte nichts Selbständiges darin zu leisten. Er glaubte, daß ich jetzt weiter sei als er und daß er jedes Zusammensein ausnützen müsse, um sich von mir vorwärtsbringen zu lassen. Andererseits fürchtete er diese Gespräche, weil sie ihn aufs neue entmutigten. Wenn wir von andern Dingen sprachen, war ihm wohl, aber das gönnte er sich selten. Er war hauptsächlich wieder nach Göttingen gekommen, weil Reinach ihm zugesagt hatte, daß er jede Woche einmal allein zu ihm kommen dürfe. Auf diese Nachmittage legte er den größten Wert, sie sollten ihm die Lösung aller Zweifel bringen. Ich erschrak darum heftig, als mir gegen Ende des Semesters Reinach einmal gestand, daß ihm diese Gespräche eine unerträgliche Last seien. Er wußte ja, daß ich Moskiewicz gut kannte, und wollte von mir ein Urteil hören. Er selbst hielt ihn für einen hoffnungslosen Fall. »Er soll doch bei seiner Psychologie bleiben, als Phänomenologe wird er nie etwas erreichen. Könnte man ihm das nicht einmal sagen?« Ich bat ihn dringend, das ja nicht zu tun. So wie ich Moskiewicz' nervöse Verfassung kannte, fürchtete ich, daß er einen solchen Schlag nicht überstehen würde. Reinach versprach auch gleich, nichts zu sagen und weiter geduldig immer wieder dieselben Zweifel und Bedenken anzuhören. Dagegen übernahm ich es, unauffällig dahin zu wirken, daß Mos seinen Aufenthalt in Göttingen nicht noch länger als diesen Winter ausdehne. Tatsächlich verbrachte er den folgenden Sommer in Frankfurt a.M., um sich dort durch die Anregungen bedeutender Psychologen (Wertheimer, Gelb, Köhler) weiterhelfen zu lassen.

      Für mich brachte der Winter noch mehr philosophische Förderung als der Sommer. Husserl las sein großes Kant-Kolleg. Vor allem aber erlaubte es mein Stundenplan, diesmal Reinachs Vorlesung (Einführung in die Philosophie) und seine Übungen für Fortgeschrittene mitzunehmen. Im Sommer hatte ich sein Kolleg nur manchmal gastweise gehört, wenn ich gerade die Stunde freihatte. Es war eine reine Freude, ihm zuzuhören. Er hatte wohl ein Manuskript vor sich, schien aber kaum hineinzusehen. Er sprach in lebhaftem und fröhlichem Ton, leicht, frei und elegant, und alles war durchsichtig-klar und zwingend. Man hatte den Eindruck, daß es ihn gar keine Mühe kostete. Als ich später diese Manuskripte ansehen durfte, bemerkte ich zu meinem größten Erstaunen, daß sie vom Anfang bis zum Ende wörtlich ausgearbeitet waren, und unter die letzte Vorlesung des Semesters pflegte er zu schreiben: »Fertig, Gott sei Dank!« Alle diese Glanzleistungen waren das Ergebnis unsäglicher Mühen und Qualen.

      Die Übungen hielt Reinach in seiner Wohnung. Da wir unmittelbar vorher Husserl-Kolleg hatten, gab es dann einen Dauerlauf von 20 Minuten hinauf zum Steinsgraben {{28}}. Die Stunden in dem schönen Arbeitszimmer waren die glücklichsten in meiner ganzen Göttinger Zeit. Wir waren uns wohl alle darüber einig, daß wir hier methodisch am meisten lernten. Reinach besprach mit uns die Fragen, die ihn selbst in seiner eigenen Forscherarbeit gerade beschäftigten, in jenem Winter und dem folgenden Sommer das Problem der Bewegung. Das war kein Dozieren und Lernen, sondern ein gemeinsames Suchen, ähnlich wie in der Philosophischen Gesellschaft, aber an der Hand eines sicheren Führers. Alle hatten vor unserem jungen Lehrer eine tiefe Ehrfurcht; hier wagte nicht leicht jemand ein vorschnelles Wort, ich hätte kaum gewagt, ungefragt den Mund aufzumachen. Einmal warf Reinach eine Frage auf und wollte wissen, wie ich darüber dächte. Ich hatte angestrengt mitüberlegt und sagte sehr schüchtern in wenigen Worten meine Ansicht. Er sah mich überaus freundlich an und sagte: »So habe ich es mir auch gedacht.« Eine höhere Auszeichnung hätte ich mir nicht vorstellen können. Aber auch diese Abende waren für ihn eine Qual. Wenn die zwei Stunden herum waren, wollte er das Wort »Bewegung« gar nicht mehr hören. Es wurden ihm aus unserem Kreis damals gewisse Einwendungen gemacht, die ihn schließlich nötigten, den ursprünglichen Ansatz ganz aufzugeben. Er fing nach Ostern noch einmal ganz von vorn an. Auch diesen Bruch konnte ich später in seinen schriftlichen Entwürfen feststellen.

      Abgesehen von der Philosophie beschränkte ich meine Vorlesungen jetzt auf ein Mindestmaß, um möglichst viel zu Hause arbeiten zu können. Ich begann mit der systematischen

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