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vom Friedländerweg her ein und fuhr die Straße hinauf. Sie hielt vor Reinachs Haus – einige Augenblicke später wurde in seinem Arbeitszimmer Licht. Nun wußte ich genug. Ich machte auf dem Absatz kehrt und ging heim. Mit welcher Freude und Dankbarkeit, das vermag ich nicht zu sagen. Noch heute, nach mehr als zwanzig Jahren, spüre ich etwas von dem tiefen Aufatmen.

      Am nächsten Morgen war ich mit meinem Manuskript zur Stelle und schellte an der Tür. Reinach öffnete mir selbst. Er war ganz allein zu Hause; seine Frau war in Stuttgart, um seiner Schwester beizustehen, die dort ihr Abitur machte. Pauline war älter als er; sie hatte sich so spät noch zum Studium entschlossen, und das gedächtnismäßige Lernen war ihr sehr mühsam. Beim ersten Versuch war sie durchgefallen, der zweite war nun um so aufregender. Als ich kurze Zeit da war, schellte es nochmals, und Reinach mußte wieder an die Tür. Als er zurückkam, berichtete er im Ton eines Kindes, das einen eingelernten Auftrag hersagt: »Der Metzger! Nein, wir brauchen nichts.« So hatte es ihm Auguste eingeschärft, ehe sie zum Markt ging.

      Diesmal war ich nicht mehr ganz so ängstlich wie bei der ersten Prüfung. Reinach war sehr befriedigt. Ich fragte ihn, ob die Arbeit wohl fürs Staatsexamen ausreichen würde. O gewiß! Husserl werde sich sehr darüber freuen, er bekäme nicht oft solche Arbeiten. Ich könnte nun völlig unbesorgt in die Ferien fahren. Wir nahmen fröhlichen Abschied bis zum April.

      Nach diesen beiden Besuchen bei Reinach war ich wie neugeboren. Aller Lebensüberdruß war verschwunden. Der Retter aus der Not erschien mir wie ein guter Engel. Es war mir, als hätte er durch ein Zauberwort die ungeheuerliche Ausgeburt meines armen Kopfes in ein klares und wohlgeordnetes Ganzes verwandelt. An der Zuverlässigkeit seines Urteils zweifelte ich nicht. Ich legte die Arbeit beruhigt beiseite, um nun alle Anstrengungen auf die Vorbereitung zur mündlichen Prüfung zu verwenden. Wenn ich auch erst sechs Semester hinter mir hatte, so war ich doch insofern gut dran, als mir fast die ganze Zeit zur Verfügung stand, die man sonst für die beiden großen Arbeiten verwenden mußte. Daß ich diese Arbeiten schon fertig hatte, entsprach ja nicht den Prüfungsbestimmungen. Die offizielle Meldung zum Staatsexamen war beim Provinzialschulkollegium einzureichen; Lebenslauf, genaue Darlegung des Studiengangs, Nachweis der nötigen Vorlesungen und Übungen und die Exmatrikel waren beizufügen. Dann wurde die Prüfungskommission zusammengestellt, die ernannten Examinatoren hatten die Themen zu stellen, und man bekam für jedes drei Monate Zeit. Erst wenn sie abgeliefert waren, wurde der Termin für die mündliche Prüfung festgesetzt. Man durfte keine Wünsche für die Zusammensetzung der Kommission äußern. Das Kunststück war, den Studiengang und die speziellen Arbeitsgebiete so darzustellen, daß sachlich niemand anders als die eigenen Lehrer, die man wünschte, für die Abnahme der Prüfung in Frage kommen konnte. Dieses Kunststück brachte ich fertig: Husserl wurde für Philosophie, Lehmann für Geschichte, Weißenfels für Germanistik und deutsche Literatur bestimmt. Übrigens hatte ich den Termin für die Meldung verpaßt. Ich wußte nicht einmal, daß es einen Schlußtermin dafür gab und einen Anschlag in der Universität, der darauf aufmerksam machte. Der Sekretär der Prüfungskommission, ein Lehrer des Göttinger humanistischen Gymnasiums, wies mich in ungnädigen Worten darauf hin, ließ sich aber doch noch herbei, die Papiere anzunehmen. Ich weiß nicht mehr, wann ich den Bescheid aus Hannover erhielt. Wahrscheinlich erst nach den Ferien. Lehmann hatte das Thema genau so formuliert, wie ich es schon bei ihm im Seminar bearbeitet hatte; hier war nur noch etwas Literatur einzuarbeiten; das konnte ich ruhig bis kurz vor dem Ablieferungstermin – der war im November – verschieben. Husserl aber bereitete mir eine unangenehme Überraschung. Sein Gedächtnis hatte ihn wohl etwas im Stich gelassen, und er hatte das Thema so gestellt, daß nicht nur Theodor Lipps, sondern auch die übrige Einfühlungsliteratur zu berücksichtigen war, wenn auch Lipps in erster Linie. Ich konnte wohl die sachliche Einteilung und den ganzen Aufbau lassen, wie er war, mußte aber neue Massen von Literatur durchstudieren und hineinarbeiten.

      3.

      Von den Ferien habe ich in Erinnerung, daß gerade Ernas praktische Prüfung begonnen hatte, als ich heimkam. Die Mediziner müssen ja im Staatsexamen in sämtlichen Kliniken ihre Fertigkeit beweisen, und das zieht sich durch Monate hin. Erna war nicht zur Bahn, als ich abends anlangte; sie hatte sich zu Bett legen müssen, weil sie darauf gefaßt war, nachts zu einer Entbindung in die Frauenklinik gerufen zu werden. Ich wurde aber gleich zu ihr geführt. Die ganze Familie war ganz erfüllt von ihren Examensangelegenheiten; die meinen traten demgegenüber zurück, und ich war froh, daß sich bei mir alles weit von zu Hause entfernt in aller Stille abspielen würde.

      Ich weiß ferner noch, daß ich während dieser Ferien viel mit Metis zusammenarbeitete, da er auch in Examensvorbereitungen war. Und schließlich fiel in diese Zeit die früher geschilderte unvorhergesehene Reise nach Hamburg, um Else nach Breslau zu holen, und alle Aufregungen, die ihre Anwesenheit und die Spannung, wie alles sich weiter entwickeln würde, mit sich brachte.

      Kurz ehe ich nach Göttingen zurückkehrte, lud mich Rose Guttmann für einen Abend ein, um eine Dame kennenzulernen, die auch im Sommer nach Göttingen gehen wollte. Ihr selbst war Toni Meyer durch Moskiewicz zugeführt worden, und sie hatte schon im Winter mit ihr etwas Phänomenologie gearbeitet. Die Familien Meyer und Moskiewicz waren miteinander befreundet, Toni und Georg kannten sich schon sehr lange und waren etwa im gleichen Alter, damals im 36.Jahr. Ich bin später, nachdem wir uns in Göttingen nahegekommen waren, viel bei Meyers gewesen und in ihrer schönen Häuslichkeit stets mit warmer Herzlichkeit aufgenommen worden. Toni lebte allein mit ihrer Mutter, einer überaus klugen alten Dame. Sie hatte nach dem Tode ihres Mannes dessen blühendes Geschäft – Militäruniformen – mit großer Umsicht geführt. Jetzt war längst ihr einziger Sohn Inhaber und Leiter; sie war aber noch am Gewinn beteiligt. Heereslieferungen während des Siebziger Krieges hatten ihnen ein beträchtliches Vermögen eingetragen. Auch jetzt machte alles bei ihnen den Eindruck großer Wohlhabenheit, aber frei von allem Protzentum. Wenn ich zu einer Mahlzeit bei ihnen war, freute ich mich an dem schön gedeckten Tisch, dem feinen Porzellan und Leinen. Die alte Dame machte selbst noch die kunstvollsten Handarbeiten. Ihr Nähtischchen stand auf einem erhöhten Platz am großen Fenster des behaglichen Speise- und Wohnzimmers. Sie ging nicht sehr viel aus, weil sie einen lahmen Fuß hatte. Immerhin bewegte sie sich an ihrem Stock sehr sicher und lehnte fremde Hilfe ab. Sie liebte anregende Unterhaltung. Ihr Sohn, seine Frau und seine fünf Kinder besuchten sie häufig, ebenso eine Reihe von Freundinnen, die ihre bestimmten Tage hatten. Ihr Haushalt ging wie am Schnürchen, die beiden Dienstmädchen wurden aufs genaueste unterwiesen und angeleitet, dafür allerdings auch mit Güte und Freigebigkeit behandelt.

      Schrägüber von Frau Meyers Arbeitsplatz hing an der Wand ein Ölgemälde – ein Kinderbild von Toni. Es war ein ungewöhnlich schöner, zarter und durchgeistigter Kinderkopf. Aber von dieser Jugendschönheit war zur Zeit, als ich sie kennenlernte, kaum etwas übrig geblieben als das reiche, wellige, kastanienbraune Haar. Sie trug es schlicht gescheitelt, die langen Zöpfe waren so aufgesteckt, daß sie den Hinterkopf bedeckten. Die Lider lagen schwer über den Augen, der Gesichtsausdruck war manchmal sehr müde, mitunter wechselte er plötzlich und überraschend. Sie war gut mittelgroß, die Gestalt kräftig und ebenmäßig, aber der Gang so schwer und schleppend, als ob die Füße gefesselt wären. Ihre Kleidung war immer geschmackvoll und von vorzüglichem Material, aber einfach und unauffällig. Sie konnte sehr lebhaft und fröhlich, ja übermütig sein, aber wenn sie eine Stunde angestrengt gearbeitet oder angeregt gesprochen hatte, mußte sie sich für ein paar Minuten hinlegen; dann ging es wieder weiter. Sie hatte eine große Liebe zu Kindern und jungen Menschen. Vor Jahren hatte sie versucht, einen Kindergarten zu leiten, es war aber zu anstrengend für sie. Psychologische Studien führten sie zu Stern; bald war sie in seiner Familie zu Hause und stellte aus Frau Sterns Tagebüchern das Buch »Aus einer Kinderstube« zusammen. Nun war sie durch Moskiewicz auf die Phänomenologie hingewiesen worden und hatte den kühnen Entschluß gefaßt, sie an der Quelle zu studieren. Ein kühner Entschluß war es, weil sie kein Abitur hatte und nur mit persönlicher Erlaubnis der Dozenten Vorlesungen hören konnte. Diese Erlaubnis erhielt sie von Husserl und Reinach, und ich mußte ihr »Stunden« geben, um ihr über die Anfängerschwierigkeiten hinwegzuhelfen. Ich las mit ihr die »Logischen Untersuchungen«. Sie war sehr glücklich über diese Stunden. Ich mußte mich auch entschließen, ein Honorar dafür anzunehmen. Sie bestand darauf – Rose hätte es ja auch getan –

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