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wir jede Stunde eine Spritze geben. Weil die Überanstrengung oft dauernde Herzschäden zurückließ, mußten wir auf Entfieberte sehr aufpassen, damit sie nicht vorzeitig aufstanden und herumgingen. Noch sorgfältiger mußte man darüber wachen, daß die Kranken nicht dem Nachbarn ein Stück hartes Brot stahlen. Solange das Fieber anhielt, durften sie ja gar keine feste Nahrung zu sich nehmen, weil ein harter Bissen die entzündete Darmschleimhaut durchstoßen, in die Bauchhöhle geraten und Bauchfellentzündung hervorrufen konnte. Wochenlang kam für sie aus der Küche »II.Form«, d.h. hauptsächlich Schleimsuppe. Das war natürlich wenig verlockend. Mehr Glück hatte das Getränk, das wir ihnen geben durften: Rotwein, mit Zuckerwasser verdünnt. Jeden Morgen brachten die Küchenmädchen einen großen Kessel voll auf die Station. In sehr schweren Fällen, wo alles andere verweigert wurde, halfen wir über die schlimmsten Tage hinweg, indem wir löffelweise Ei mit Cognac einflößten. Und wo auch das nicht mehr genommen wurde, da mußte die künstliche Ernährung einsetzen. Auf die völlige Appetitlosigkeit folgte nach der Entfieberung bei Menschen, die von Natur aus gesund und kräftig waren, ein wütender Heißhunger. Die »III.Form« war auch noch ziemlich reizlos: Kartoffelbrei oder »Kukuruz« (Maisgries). Am beliebtesten war die »IV.Form«, ein normales, nicht zu derbes Mittagessen mit einem guten Stück Kalbfleisch. Das Aufrücken zur »V.Form« war den meisten wenig willkommen; denn das war die derbe Mannschaftskost der Gesunden: reichlich und kräftig, aber etwas eintönig. Die deutschen Soldaten entbehrten besonders Kartoffeln und Gemüse. Die süßen Mehlspeisen hatten sie bald über. Wenn die Leute so weit waren, daß man ihnen unbedenklich geben konnte, soviel sie verlangten, dann war es eine Freude, wie sie aufblühten. Allerdings mußten wir sie dann bald abgeben: entweder an eine der Baracken oder gleich auf die Abtransportstation. Von da ging es nach wenigen Tagen zum »Kader« (=cadre, Ersatzbataillon).

      Mit den Schwestern kam ich gut aus. Sie waren tüchtig und eifrig in ihrem Dienst, wenn es auch den Eindruck machte, daß sie dabei mehr von Ehrgeiz als von Menschenliebe bestimmt waren. Es schien, daß sie mich gern mochten. Ich war ja froh über jede Arbeit, die man mir anvertraute, sprang auch gern für die andern ein, wenn sie etwas vorhatten. Es war feste Einrichtung, daß wir vier abwechselnd zwischen Mittagessen und Kaffee – eine Zeit, in der gewöhnlich nicht viel zu tun war – Freizeit hatten. Ich legte keinen Wert darauf, denn ich war ja gekommen, um zu arbeiten, nicht um spazierenzugehen oder zu schlafen. Aber im allgemeinen hielt Schwester Loni darauf, daß auch ich meine Erholungszeit bekam. Allmählich merkte ich auch, daß man sie brauchte: um Briefe zu schreiben, seine Sachen in Ordnung zu halten, kleine Besorgungen in der Stadt zu machen usw. Wenn ich aber gewahr wurde, daß Steffi Kopfweh hatte – das kam häufig vor –, dann erbat ich mir Erlaubnis, sie zu Bett zu schicken und an ihrer Stelle Dienst zu tun. Sie machte nicht viele Worte, aber sie war dankbar, daß sich jemand freundlich um sie annahm. Sie war ja eine heimatlose Vertriebene. Als ich während des großen deutschen Vormarschs in Galizien öfters freudestrahlend mit einer Siegesbotschaft in den Krankensaal kam, sagte sie in ihrem etwas hart klingenden Deutsch: »O Schwester Edith, Sie bringen immer so gute Nachrichten.« Einmal konnte ich auch melden, daß ihre Heimatstadt Tarnow von den Russen befreit sei. Weniger Widerhall fanden meine Freudenbotschaften bei den Soldaten. Sie schüttelten ungläubig den Kopf. Sie hatten die Niederlagen und das dauernde Zurückweichen miterlebt und konnten an den Umschwung nicht glauben. Ich war ganz empört darüber.

      Auch mit Dr. Pick war gut zu arbeiten. Er kam von der Prager Universitätsklinik, war Internist von Fach und wünschte in unserem Saal ebenso tadellose Ordnung wie in seiner Klinik. Er freute sich über mein medizinisches Interesse und hielt mir gern am Krankenbett belehrende Vorträge, wie es sein Chef bei der großen Visite tun mochte. Auch praktisch habe ich manches von ihm gelernt. Eine sehr angenehme Entdeckung war ihm, daß er sich mit mir, wie mit den Kollegen, auf Lateinisch verständigen konnte. Freilich war es ein recht barbarisches Latein, das die Mediziner radebrechten.

      Mit Schwester Loni verkehrte Dr. Pick in einem gutmütigen Neckton, schätzte sie aber wegen ihrer Sorgfalt. Zwischen Schwester Emma und ihm herrschte meist etwas Gewitterstimmung. Sie hatte eine heftige Zuneigung zu ihm gefaßt, die sich in Empfindlichkeit und Eifersucht äußerte. Die beiden Schwestern vertrugen sich leidlich. Dagegen bestand zu den andern Stationen ein törichtes Konkurrenzverhältnis. Es war manchmal nötig, sich ein Instrument oder Medikament von einer andern Station zu leihen. Wenn das bei uns vorkam, pflegte Dr. Pick zu mir zu sagen: »Schwester Edith, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie selbst darum gehen würden.« (Er sprach nie im Befehlston, sondern immer höflich bittend.) Das lag daran, daß ich selten mit leeren Händen zurückkam. Die Schwestern wunderten sich darüber und gewöhnten sich auch daran, mich zu schicken. Ich merkte sehr bald, warum sie bei solchen Gelegenheiten weniger Erfolg hatten als ich. Sie verlangten das, was sie brauchten, in herausforderndem Ton oder nahmen es heimlich weg und behielten es dann als eine für ihre Station eroberte Beute. Wenn man sich so benahm, wurde man natürlich überall als lästiger Eindringling betrachtet und abgewiesen. Da ich selbstverständlich bescheiden, wie es sich gehörte, um das Fehlende bat und versprach, das Geliehene nach der Benützung zurückzubringen, wurde mir kaum je etwas abgeschlagen.

      Bei weitem am liebsten war mir der Verkehr mit den Patienten, wenn er auch manche Schwierigkeiten bot. Es waren ja in unserm Lazarett alle Nationen der österreichisch-ungarischen Monarchie vertreten: Deutsche, Tschechen, Slowaken, Slowenen, Polen, Ruthenen, Ungarn, Rumänen, Italiener. Auch Zigeuner waren nicht selten. Dazu kam noch manchmal ein Russe oder Türke. Zur Verständigung des Arztes mit den Kranken gab es ein Büchlein, das die notwendigsten täglichen Fragen und Antworten in neun Sprachen enthielt. Damit machte auch ich mich vertraut. Als ich einmal gerade auf dem Weg zu unserer kleinen Teeküche war, hörte ich Dr. Pick in ziemlicher Entfernung an einem Krankenbett zu Schwester Emma sagen: »Passen Sie auf, sie weiß es bestimmt!« Dann rief er mir über den ganzen Saal hinweg zu: »Schwester Edith, was heißt ›schwitzen‹ auf Ungarisch?« Ich rief ihm die fehlende Vokabel zurück, ohne mich aufzuhalten. Mit diesen paar Brocken und mit Zeichensprache half man sich durch. Es hätte wohl noch mehr Schwierigkeiten gemacht, wenn die Leute Bedürfnis nach Unterhaltung gehabt hätten. Aber die meisten waren ja in einem Zustand, in dem das gar nicht in Betracht kam. Ihre völlige Hilflosigkeit und Pflegebedürftigkeit machte mir die Arbeit besonders lieb. Sehr bald lernte man die Unterschiede der Nationen kennen. Wir hatten keinen einzigen Reichsdeutschen auf der Station. Später habe ich einige als Patienten gehabt. Wir deutschen Schwestern jubelten, wenn wir einen Landsmann bei einem Transport entdeckten. Hatten wir ihn aber ein paar Tage in unserm Krankenzimmer, dann wurden wir meist recht kleinlaut. Sie waren anspruchsvoll und kritisch, unsere Landsleute, und konnten einen ganzen Saal in Aufruhr bringen, wenn ihnen etwas nicht paßte. Die »wilden Völkerschaften« waren demütig und dankbar. Sie taten mir so leid, die armen Slowaken und Ruthenen, die man aus ihren friedlichen Dörfern herausgerissen und ins Feld geschickt hatte. Was wußten sie von den Geschicken des Deutschen Reiches und der Habsburger Monarchie? Nun lagen sie da und litten, ohne zu wissen wofür.

      Die Ungarn, wegen ihrer Tapferkeit im Felde vielgerühmt und uns gegenüber ritterlich-liebenswürdig, waren die wehleidigsten Patienten. Wenn ein Neuangekommener beim ersten Verbandswechsel im Operationssaal laut jammerte, rief man ihm zu: »Nem sabot, Magyar!« (Es ist nicht erlaubt, Magyar.) Dann verstummte das Wehgeschrei für einige Augenblicke. Man hatte sich in der Nationalität nicht getäuscht. Die Tschechen, die wegen ihres »Verrates« an der deutschen Sache so verhaßt waren, lernten wir als die geduldigsten Kranken und auch als die hilfsbereitesten kennen. Einmal mußte ich einen besinnungslosen Patienten von großem Körpergewicht auf ein anderes Bett hinüberlegen, um das seine sauberzumachen. Leute, die bei klarer Besinnung und nicht zu schwer waren, trug ich gewöhnlich allein auf das Nachbarbett. Das ging ganz gut, wenn man richtig anfaßte. Aber in diesem Fall war es nicht möglich. Da keine Schwester in der Nähe war, bat ich einen jungen Deutschböhmen, mir zu helfen. Es ging ihm schon gut, und er spazierte müßig im Saal herum. Er war immer freundlich wie ein Kind und mir sehr ergeben. »Schwester«, sagte er jetzt verlegen, »ich tät's gern Ihnen zulieb. Aber ich kann nicht, ich ekle mich zuviel.« Da kam ein Tscheche freiwillig herbei. Er stand noch lange nicht so fest auf den Füßen wie der andere. »Es ist mir auch nicht leicht«, sagte er, »aber einem kranken Menschen muß man helfen.«

      Ein Slowak, daheim ein wohlhabender Bauer, hatte einen großen Abszeß am Bein, weigerte sich aber trotz heftiger Schmerzen,

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