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Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften
Год выпуска 0
isbn 9788075830890
Автор произведения Edith Stein
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Über all diese Fragen sprachen wir in aller Aufrichtigkeit und Herzlichkeit miteinander. Wir nannten uns aber nicht »Du«, solange wir in Weißkirchen waren. Die plumpe Vertraulichkeit, mit der die andern Schwestern sich gegenseitig duzten, ohne innerlich etwas miteinander gemeinsam zu haben, ließ uns das »Sie« als Zeichen gegenseitiger Achtung beibehalten. Es geschah ganz selbstverständlich; wir haben kein Wort darüber gewechselt.
Als ich einige Zeit in Weißkirchen war, erkrankte Grete Bauer und mußte zur Behandlung nach Hause gehen. Die »kleine Gemeinde« bat mich, an ihre Stelle zu treten, damit man ihnen kein störendes Element ins Zimmer lege. Ich willigte mit großer Freude ein; ich hatte mich im Schwesternzimmer der Großen Reitschule ja immer höchst unbehaglich gefühlt. In dem täglichen Zusammenleben mit den neuen Zimmergefährtinnen freundete ich mich besonders mit Schwester Alwine an.
Auf der Typhusstation nahmen indessen die schweren Fälle ab. Zweimal noch mußten wir dem Tod ein Opfer überlassen. Das eine war ein kleiner Kellner, ein gebrechlicher, lungenkranker Mensch. Er starb bei Tag; Dr. Pick und alle Schwestern standen an seinem Bett. Da rief mich ein anderer Kranker zu sich. »Schwester, wenn jetzt ich das wäre!«, flüsterte er aufgeregt. Ich redete ihm gut zu, aber ich wußte, daß auch für ihn nicht mehr viel Hoffnung war. Es war ein 20jähriger Maurer mit einer schlimmen Rippenfellentzündung. Er hatte schon lange gar keinen Appetit mehr und nahm von seiner Krankenkost fast nichts mehr zu sich. Einmal fragte ich ihn, ob er denn auf gar nichts Lust habe. Da äußerte er den Wunsch nach einer Orange. Gott sei Dank – die waren in der Kantine zu haben. In jenen Tagen bekam ich auch ein Feldpostpaket mit Lindt-Chokolade. Ich bot ihm davon an, und es schmeckte ihm gut. Seitdem fütterte ich ihn mit Orangen und Chokolade. Das hatte ihn wohl zutraulich gemacht. Denn vorher war er meist mißmutig und schweigsam – kein Wunder bei seinem schlimmen Zustand. Ein paar Tage nach jenem Todesfall merkten wir, daß es auch mit ihm zu Ende gehe. Als ich hörte, daß es nachts im Hause unruhig wurde, wäre ich gern hinübergegangen, um dem Armen beizustehen. Aber das sollten wir ja nicht – es hatte jemand anders Nachtdienst. Er bat, daß man Dr. Pick zu ihm rufe. Der junge Arzt kam bereitwillig, obwohl er keinen Nachtdienst hatte. Er berichtete mir am nächsten Morgen noch ganz erschüttert: »O, Schwester Edith, wenn Sie das gesehen hätten!« Er machte mir vor, wie der junge Mensch den Kopf in beide Hände gelegt und gerufen hätte: »Nur nicht sterben, nur nicht sterben!« Die Leiche wurde geöffnet, um die Todesursache festzustellen. Wieder sagte Dr. Pick: »Wenn Sie das gesehen hätten!« In der Brusthöhle hatten sich dicke pleuritische Schwarten gebildet, die auf die Organe drückten. Kein Wunder, daß der Magen nichts mehr aufnehmen mochte!
Nach einiger Zeit wurde uns auch unser Arzt in ein anderes Lazarett weggeholt. Er nahm von uns allen herzlichen Abschied und schickte uns schöne Blumen für unsern Saal. Ehe er ging, übergab er sein kleines Reich seinem Freunde Dr. Flusser, der bisher schon den III.Saal hatte und nun den I. hinzunahm. »Ich mache dich besonders auf unser Stationstagebuch aufmerksam. Es ist tadellos in Ordnung, Schwester Edith hat es geführt.« Er hatte es selbst angefangen, aber die Eintragungen oft vergessen. Darum war es ihm sehr willkommen, als ich es übernahm, die Krankengeschichten einzutragen.
Dr. Flusser kannte ich bisher nur vom Sehen und vom Hörensagen; danach hatte ich keinen günstigen Eindruck. Aber in der gemeinsamen Arbeit fand ich keinen Grund zur Klage. Er war gut gegen die Patienten und ließ sich auch uns gegenüber nichts zuschulden kommen.
3.
Indessen leerte sich die Typhusstation mehr und mehr. Die alten Patienten wurden geheilt entlassen, und es kamen kaum noch neue hinzu. Das war ja an sich sehr erfreulich. Ich schrieb es der Wirkung der Schutzimpfung zu, die nun wohl auch in Österreich allgemein durchgeführt war, während es anfangs daran offenbar sehr gefehlt hatte. Wir entließen von der Station keinen Soldaten zum Abtransport, ohne ihn noch einmal gegen Typhus, Cholera und Pocken geimpft zu haben. Nachdem ich Dr. Flusser ein paarmal dabei geholfen hatte, ließ er es mich gern auch selbst machen.
Für mich aber hatte die Entvölkerung unseres Saales zur Folge, daß ich nicht mehr genügend Arbeit hatte und mich unbefriedigt fühlte. Drei Monate hatte ich auf der Typhusstation gearbeitet. Eigentlich hatte ich nun Anrecht auf 14 Tage Urlaub. Man redete mir auch zu, mir jetzt eine Ausspannung zu gönnen. Aber ich fand, daß ich dafür noch nicht genug geleistet hätte. Ich hatte mir allerdings auch die Entwürfe zu meiner Doktorarbeit nachschicken lassen. Wahrscheinlich war es mein Bruder Arno, der sie mir brachte. Er hatte mich nämlich zu Pfingsten besucht. Er kam in seiner Sanitäteruniform und brachte vom Breslauer Roten Kreuz eine ganze Menge Liebesgaben für unsere Leute. Schwester Oberin stellte mir am Pfingstsonntag Wagen und Pferde des Lazaretts für einen Ausflug nach dem Helfenstein zur Verfügung. Und auch den Montag bekam ich frei, um Arno bis Olmütz zu begleiten und mit ihm diese schöne Stadt anzusehen. So hatte ich einen dicken Stoß Manuskripte da und guckte auch manchmal hinein. Außerdem las ich öfters eine Stunde in meinem Homer. Aber dazu war ich ja nicht hergekommen. Ich beschloß, Schwester Oberin um Versetzung zu bitten. Wir luden sie für einen Abend in die kleine Gemeinde ein. Da konnte ich ihr ungestört meinen Wunsch vortragen. Sie war keinen Augenblick in Verlegenheit. »Gehen Sie zu Schwester Anni in den kleinen Operationssaal. Die barmt ja so über zuviel Arbeit!« Solche Weisungen wurden sofort ausgeführt. Schon am nächsten Tage nahm ich von der Typhusstation Abschied. Die Schwestern waren wohl ein bißchen verwundert, daß ich es nicht aushielt, ein paar gute Tage bei ihnen zu verbringen. Ich ging von einem Bett zum andern und reichte jedem meiner Schützlinge die Hand. Manche waren traurig. Ich kam zu einem baumlangen jungen Tschechen, der noch nicht lange da war. Er war mit hohem Fieber gekommen, wir hatten noch kaum ein Wort von ihm gehört oder ein Zeichen der Teilnahme wahrgenommen. Nur daß er hungrig war und sehr darauf aus, sich etwas Verbotenes zu verschaffen, hatten wir gemerkt. Ich erwartete kaum, daß er verstehen würde, was ich wollte, und war daher sehr erstaunt, als er sagte: »Systra briz – to nie dobre!« (Die Schwester geht weg? Das ist nicht gut.)
Der kleine Operationssaal befand sich in der Kavallerie-Kadettenanstalt. Man nannte uns daher die »Kavalleristen«. Schwester Anni war ein kleines, weißblondes Persönchen, flink und beweglich, gutherzig und redselig. Ihr kleines Reich war der Operationssaal mit drei Operationstischen, Instrumentenschrank und Instrumentiertisch, der danebenliegende Sterilisierraum und ein kleines dunkles Vorzimmer nach dem Gang hin. Dort hockte, wenn nichts zu tun war, in einer finsteren Ecke unser Landsturmmann Max und bewachte den Eingang wie ein bissiger Hund. Er unterschied sich von seinen Kameraden dadurch, daß er flink und geschickt und zu manchem zu gebrauchen war. Er drehte uns die schönsten Tupfer und fabrizierte aus kleinen Stäbchen und ein wenig Watte Jodpinsel. Wenn wir viel zu tun hatten und ihm während der Arbeit freundlich zuriefen: »Max, bitte, schnell dies oder das! Sie können das ja so gut«, dann flog er nur so hin und her und überbot sich selbst. Aber vor und nach solchen Glanzleistungen stärkte er sich gern durch reichlichen Alkohol, und wenn er in der Kantine nichts mehr kaufen konnte, dann ging er an unsere Vorräte. Wir mußten unsern 70%igen Spiritus