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Dahinter kleidete er sich an und kam dann hervor. Es war Dr. Andermann, ein junger Pole von der chirurgischen Station. Er sah mich an und sagte mitleidig: »Schwester, setzen Sie sich doch, Sie sehen ja ganz bleich und erschöpft aus.« Er stellte den Totenschein gleich nach meinen Angaben aus und ging dann erst mit mir, um den Tod festzustellen. Dann blieb ich wieder allein und erledigte die weiteren Geschäfte. Ganz unheimlich wirkte es, als die Träger den Toten so bei Nacht abholten. Ich wünschte nur, daß keiner von den Kranken es bemerken möchte; es mußte doch einen schrecklichen Eindruck auf sie machen. Am Morgen konnte ich feststellen, daß tatsächlich niemand etwas gesehen hatte. Selbst die Nachbarn waren erstaunt über das leere Bett.

      Wenn ich abends in den Saal kam, machte ich zuerst einen Rundgang. In der Teeküche fand ich gewöhnlich die Ungarn, denen es schon gutging, zusammen. Sie begrüßten mich freudig und lachten, wenn ich sagte: »Da ist wohl der ungarische Klub wieder versammelt?« Der Anziehungspunkt, der sie dorthin lockte, war der große Topf mit der Rotweinlimonade. Der »deutsche Klub« tagte am Bett jenes jungen Deutschböhmen, der damals noch nicht aufstehen konnte. Man erzählte sich Stückchen aus dem Felde und schimpfte über die politischen Zustände. »Nach dem Krieg laß ich mich in Deutschland einschreiben«, sagte der junge Bursche. Er war nicht weit von der bayrischen Grenze daheim.

      Ich ging durch die Reihen und überzeugte mich, wie es um die Schwerkranken stand. Wenn die Schlafenszeit für die Leute kam und nichts Besonderes zu tun war, setzte ich mich an das kleine Verschreibtischchen, schrieb Briefe oder las. Ich hatte nur zwei Bücher nach Weißkirchen mitgebracht: Husserls »Ideen«und den Homer.

      Dicht hinter mir in der ersten Reihe lag ein Tscheche, ein Mann in mittleren Jahren, klein und schwächlich. Seine Füße waren so erfroren, daß einige Zehen wie verkohlt aussahen und abgenommen werden mußten. Er schlief fast nie und hatte fast die ganze Nacht seine Pfeife im Munde. Ich ließ es ruhig zu, obgleich es den Leuten verboten war, im Bett zu rauchen. Ich mochte ihm diesen Trost nicht nehmen.

      Auch Mario lag meist schlaflos, mit großen glänzenden Augen da. Einmal winkte er mir und gab mir durch Zeichen zu verstehen, daß er mir gern einen Brief diktieren würde. Wahrscheinlich hatte er beobachtet, daß ich manchmal schrieb. Ich holte Papier und Feder und kniete neben dem Bett nieder. Nun formte er die Worte mit den Lippen – er konnte nicht einmal flüstern –, ich sah ihm mit gespannter Aufmerksamkeit auf den Mund, las jedes Wort ab, schrieb es auf und zeigte ihm jeden Satz, den ich fertig hatte, zur Nachprüfung. So brachten wir einen ganz guten italienischen Brief an seine Schwestern zustande. Es war sicher die erste Nachricht, die man seit seiner Krankheit daheim bekam. Nicht lange danach berichtete ihm Dr. Pick bei der Visite, daß seine Schwestern geschrieben hätten. Die viele Mühe, die wir uns mit Mario gegeben hatten, wurde reichlich belohnt. Nach einer Reihe von Wochen wich die hartnäckige Krankheit, er bekam seine Stimme wieder – sogar eine recht kräftige Stimme – und konnte mit Appetit essen, schließlich auch aufstehen. Als er so weit war, wurde er in eine Baracke verlegt, zusammen mit seinem Freund, einem andern jungen Kaufmann aus Triest. Bei diesem war die Krankheit von Anfang an nur leicht aufgetreten. Er war Sanitäter, ein sehr freundlicher und gutmütiger Mensch; hatte sich gern nützlich gemacht, indem er gewaschene Mullbinden kunstgerecht wikkelte und andere kleine Dienste für uns verrichtete. Die beiden jungen Burschen besuchten uns öfters von ihrer Baracke, sie wurden zusehends kräftiger, und der romantische Mario entpuppte sich schließlich als ein rechter Lausbub.

      Einige Nächte lang machte mir ein schwer delirierender Patient viel zu schaffen. Er war auch schon ohne klares Bewußtsein eingeliefert worden, schien sehr gutherzig zu sein, aber von Angstbildern geplagt. Wenn ich zu ihm kam, klammerte es sich an meinem weißen Mantel und rief: »Schwester, helfen Sie mir, helfen Sie mir!« In einer Nacht wollte er beständig davonlaufen. Es blieb mir nichts übrig, als ihn festzubinden. Ich spannte ein Leintuch über das ganze Bett und knüpfte die Zipfel an den Bettpfosten fest. Der unruhige Kranke guckte nur noch mit dem Kopf heraus, war aber sonst gefangen. Allerdings, wenn er eine Zeit lang gearbeitet hatte – er war ein starker Mann –, dann lockerten sich die Knoten, und ich mußte die Arbeit von neuem beginnen. Dabei überraschte mich einmal der Arzt, der in dieser Nacht Dienst hatte und nachsehen wollte, was auf der Station los sei. Es war ein friedlicher Landarzt, der wohl noch nie einen Typhusfall gesehen hatte. Er entsetzte sich, daß ich allein im Saal und bei diesem schwer zu bändigenden Kranken sei. Als er sah, daß ich das Bett saubermachte, rief er erschrokken: »Schwester, Sie werden sich anstecken!« Ich wies ihn lächelnd auf unsere Sublimatschüssel hin. Um dem Kranken und mir Ruhe zu schaffen, gab er ihm schließlich eine Morphiumspritze. Die Wirkung war aber nicht ganz die erwünschte. Der Mann lag allerdings jetzt friedlich da, aber er fing an, laut zu singen, und weckte mir dadurch die andern auf. Sie sagten am nächsten Morgen, es sei so gemütlich gewesen, wie die Schwester am Bett saß und Wiegenlieder gesungen wurden.

      Anfangs widerstand es mir sehr, auf der Station zu essen. Ich gewöhnte mich aber daran, denn man blieb ja doch frischer, wenn man etwas in der Nacht zu sich nahm.

      Gegen Morgen gab es noch eine Arbeit, die mir sehr schwer wurde: Die Nachtschwester mußte bei allen die Temperatur messen und den Puls zählen (das geschah dreimal täglich, bei Gefährdeten noch öfter), und das mußte vor dem Frühstück erledigt sein. Etwa um 7 brachten die Küchenmädchen den Kaffee für die Leute, und auch damit sollten sie fertig sein, wenn die Tagesschwestern kamen. Denn dann ging es sofort ans Bettenmachen, damit zur Visite der Saal in schönster Ordnung sei. Es tat mir so leid, die armen Burschen aus dem Morgenschlaf zu wecken. Ich faßte sie so behutsam wie möglich an; aber wenn der kalte Fiebermesser in die Achselhöhle kam, wachten doch die meisten auf. Freilich duselten viele wieder ein und ließen den Fiebermesser herausgleiten; dann mußte man wiederholt einlegen, und häufig fand man auch einen zerdrückt vor.

      Der Nachtdienst war mir besonders lieb, weil man dabei nur mit den Kranken zu tun hatte, nicht mit andern Schwestern und sonstigem Personal. Auf einer chirurgischen Station, auf der ich später arbeitete, war als Helferin eine Wiener Bildhauerin, die nur Nachtdienst tat, um sich ungehindert durch unliebsame Zusammenstöße den Verwundeten widmen zu können. Ich hielt mich an die gewöhnliche Ordnung und begnügte mich mit meinen zwei Wochen.

      Natürlich atmete man auf, wenn man morgens den Saal mit der verbrauchten Luft von 60 Kranken verlassen durfte. Mein erster Weg war dann immer ins Badezimmer der Station. Nach diesem Morgenbad fühlte ich mich einigermaßen von Bazillen gereinigt. Dann verließ ich die Reitschule, nahm schnell im großen Speisesaal mein Frühstück und eilte ins Freie. Gewöhnlich fand sich eine Gefährtin zu einem kleineren oder größeren Spaziergang.

      Einmal, als ich im Nachtwachenzimmer von meinem Tagesschlaf erwachte, fand ich auf meinem Bett Briefe und Päckchen von daheim. Suse Mugdan war angekommen und hatte mir diese Grüße leise hingelegt, ohne mich zu wecken. Wie froh war ich, als ich sie dann begrüßen konnte! Wir hatten uns nur ein einzigesmal in Breslau gesprochen und waren beide zurückhaltend, so daß wir uns anderswo sicherlich nicht sehr schnell nahegekommen wären. Aber hier waren wir bald miteinander vertraut. O, was war es für eine Wohltat zu wissen, daß ein Mensch von solcher Herzensreinheit, von so lauterer Gesinnung, so zartem und tiefem Gefühl im Hause war! Auch für sie bedeutete es eine große Stütze, daß sie mich vorfand. Sie hätte sich allein wohl noch schwerer zurechtgefunden als ich. Suse war ein Pechvogel. Richard Courant, der sie sehr gut kannte und gernhatte, sagte, es sei ausgeschlossen, daß bei Suse Mugdan etwas ohne alle nur erdenklichen Schwierigkeiten vor sich ginge. Das zeigte sich auch jetzt. Es war ein großes Opfer, daß sie ihr spät begonnenes Studium nach wenigen Semestern wieder unterbrach; ihre Angehörigen waren keineswegs damit einverstanden. Sie tat es rein aus vaterländischem Pflichtgefühl und erwartete natürlich, jetzt ihre Kraft voll einsetzen zu können. Statt dessen kam sie auf eine damals wenig belegte Station in der Oberrealschule – zu Schwester Susi; die Helferin wurde zum Unterschied »Schwester Susanne« genannt – und mußte das zunächst völlig leere Offizierszimmer betreuen. Als es endlich einen Bewohner erhielt, war es ein gonorrhoekranker Apotheker. Suse besorgte mit der größten Gewissenhaftigkeit erst die Möbel und Blumen des Offizierszimmers und später den jungen Mann mit der peinlichen Krankheit (er brauchte keine eigentliche Pflege von Seiten der Schwestern; man mußte ihm nur das Essen bringen und ihn etwas unterhalten und aufmuntern); aber es war ihr doch recht bedrückend, daß sie nicht vor größere Aufgaben

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