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Gabriel Bagradian und mit ihm die Kriegerschar durch eine Ansprache auszuzeichnen. Er tat dies mit gallischer Beredsamkeit, doch auch mit der herben Zurückhaltung seines Berufes und seines Glaubens:

      »Kommandant«, begann er, »in unseren Tagen werden Heldentaten in allen Ländern und auf allen Meeren der Welt vollbracht. Doch es sind kampfgeübte Soldaten, die einander gegenüberstehn. Hier auf dem Musa Dagh trifft das nicht zu. Sie haben keine kampfgeübten Soldaten zur Verfügung gehabt, sondern nur einfache friedliche Bauern und Handwerker. Und dennoch hat unter Ihrer Führung dieses Häuflein schlechtbewaffneter Dorfbewohner sich nicht nur gegen einen tausendfach übermächtigen Feind tapfer geschlagen, sondern im verzweifelten Kampf um das nackte Leben siegreich behauptet. Diese Tat verdient, nicht vergessen zu werden. Sie war nur durch Gottes Hilfe möglich. Gott hat Ihnen geholfen, weil Sie nicht nur für sich selbst gekämpft haben, sondern für sein heiliges Kreuz. So haben Sie den höchsten Heroismus bewiesen, den es gibt, den christlichen Heroismus, der etwas Erhabeneres verteidigt als Haus und Herd. Die französische Nation dankt Ihnen durch meinen Mund und ist stolz darauf, Ihnen helfen zu können. Ich freue mich, Sie alle bis zum letzten Mann in Sicherheit bringen zu dürfen, und teile Ihnen mit, daß mein Geschwader Sie in einen ägyptischen Hafen führen wird, nach Port Said oder Alexandria ...«

      Während Gabriel sich auf diese aufrichtig gefühlte Rede hin mit der gebotenen Dankbarkeit tief verbeugte und die kleine Hand der Exzellenz warm umfaßt hielt, ging es ihm durch den Kopf: Port Said, Alexandria, ich? Was habe ich dort zu schaffen? In einem Sammellager vielleicht? Warum ich? – In die frischen und harten Augen des alten Admirals aber trat jetzt ein sympathieerfüllter, fast väterlicher Zug:

      »Monsieur Bagradian, ich lade Sie ein, während der Überfahrt auf der Jeanne d'Arc' mein Gast zu sein ...«

      Er wartete den Dank nicht ab, sondern zog aus einem Ledersäckchen eine dicke spießbürgerliche Golduhr hervor, auf deren Zifferblatt er einen beunruhigten Blick warf:

      »Und nun bitte ich um die Ehre, die Bekanntschaft von Madame Bagradian machen zu dürfen. Ich war seinerzeit mit ihrem Vater gut bekannt ...«

      In der Nacht hatte Juliette den Eingang ihres Zeltes mit allen Riemen und Schnüren, die sich fanden, fest verschlossen. Für ihre kraftlosen Hände war das eine harte Arbeit gewesen, und sie konnte sich nachher kaum bis zu ihrem Bett schleppen. Nicht aus Angst vor einem neuen Raubüberfall hatte sie ihr Zelt so sorgfältig verschlossen. Seltsamerweise war der Einbruch, das Fratzengesicht des Langhaarigen, Satos Griff nach ihrer Decke an Juliettes Geist spurloser vorübergegangen als ein gleichgültiger Wachtraum. Sie sperrte sich ab, damit es nie wieder Licht werde, damit nie wieder ein Tag beginne, damit sie allein bleiben dürfe auf ihrem Lager, das geliebte kleine Spitzenkissen unterm Kopf, von dem sie sich nimmermehr erheben wollte. Sie hatte mit sich eine Art Einmauerung bei lebendigem Leibe vor. Und als es um ihr verpupptes Ich ganz schwarz und traulich ward, da fühlte sie sich fröstelnd wohl, da lebte sie nicht auf dem Musa Dagh, da hatte sie kein Kind verloren, und keine Türken drangen näher, um sie zu töten. Der Innenraum des Zeltes war in zauberhafter Weise der Innenraum von Juliettens Selbst, jenseits dessen es nur das unbestimmte Gerücht einer gefährlichen Außenwelt gab. Ihre Vernunft war noch lange nicht bei sich, während ihr Wesen in einem unvorstellbaren Maße bei sich war.

      Gegen Morgen begann der kleine Gong am Zeltvorhang wild zu mahnen. Juliette rührte sich nicht. Auch als sie Awakians bittende, fordernde Stimme erkannte, gab sie keine Antwort. Dann dröhnten die Haubitzen, und der Schreckschuß des »Guichen« donnerte auf. Bei ihr aber war es noch immer Nacht, und sie kroch noch tiefer unter die Decke, damit sie nichts in ihrem Grabe störe. Die Angst um ihre dunkle Einmauerung war stärker als jeder Furchtinstinkt. Ihr krankes Gedächtnis vergaß sofort die drohenden Donnerschläge. Sie spann sich immer tiefer ein, damit sie die Stimmen nicht höre. Diese aber drängten unablässig. Und nun wogten auch die Zeltwände, an denen wild gerüttelt wurde. Waren die Türken da? Zu Awakians gesellte sich Kristaphors Stimme:

      »Madame, bitte aufmachen! Sofort aufmachen, Madame!«

      Immer erregter wallten die Zeltblätter. Juliette hob nicht einmal den Kopf. Nun erkannte sie auch Mairik Antaram: »Gib doch Antwort, Seelchen, um Christi willen! Ein großes, großes Glück ist gekommen ...«

      Juliette drehte sich zur Seite. Was nennen diese Armenier Glück? Mag sich Gabriel selbst herbemühn, ich bleibe bei mir, ich lasse mich nicht weglocken. Wer ist übrigens Gabriel Bagradian? Heiße ich etwa auch Bagradian? Juliette Bagradian? Endlich zerschnitt draußen jemand die Schnüre und öffnete hastig ihre schwanke Gruft. Sie aber drehte den Eintretenden den Rücken zu, um zu beweisen, daß sie allein in ihrer eignen Welt war, wenn sie es nur wollte. Awakian und Antaram Altouni berichteten mit fremden, hochgeschraubten Stimmen irgend etwas von einem französischen Kriegsschiff namens »Guichen«. Juliette spielte die Benommene, hörte dabei aber scharf hin und stellte sofort mit dem Mißtrauen aller Verstörten fest: eine Falle! Hatte sie Doktor Altouni nicht schon gestern abend zwingen wollen, dieses geliebte Zelt, ihren allereigensten Raum, zu verlassen, um bei den anderen zu wohnen, diesen schmutzigen Tieren, vor denen sie erschauderte und die sie haßten? Gewiß, diese plumpe List war von Gabriel und Iskuhi gemeinsam ausgeheckt worden. Das Französische sollte sie verlocken, damit sie ihnen dann völlig und ohne Zuflucht ausgeliefert sei. Aber so leicht ließ sich Juliette nicht übervorteilen. Und aus diesem engelsguten Futteral, in dem sie keine Wahrheit wissen mußte, nein, aus diesem süßen Futteral würden sie ihre Feinde nicht herausreißen. Juliette ließ Awakian, Antaram und Kristaphor bitten und betteln und war wieder einmal nicht bei Besinnung. Als sich alle Versuche als vergeblich erwiesen, winkte die alte Frau:

      »Laßt sie! Wir haben noch Zeit genug.« Awakian und Kristaphor aber schleppten die mißhandelten Gepäckstücke treulich vors Zelt und begannen, alles, was nicht geraubt, zerfetzt und zerschlagen war, eilig einzuräumen. Mitten in der Arbeit aber wurden sie von Gabriel berufen.

      Und es geschah noch im Laufe des frühen Vormittags, daß der Zeltvorhang wiederum zurückgeschlagen wurde und daß, von Mairik Antaram geführt, zwei Männer eintraten. Dies aber waren zwei junge Burschen in blauen Uniformen mit blanken Knöpfen und Rote-Kreuz-Binden um den linken Arm. Juliette, die starr auf dem Rücken lag, sah zwei milchhelle Gesichter mit frischen, lustigen Augen. Ein süßer Schreck vor dem Unsagbar-Verwandten durchfuhr sie. Der kleinere dieser jungen Männer salutierte stramm, und seine Bruderstimme ertönte in den Lauten der verlorenen Welt:

      »Bitte die Störung zu entschuldigen, Madame! Wir sind die Sanitätsgehilfen vom ›Guichen‹. Der Herr Chefarzt hat befohlen, auch Madame hinunterzutragen. Wir kommen später wieder. Madame wird dann die Güte haben und fertig sein.«

      Der Kleine straffte sich hoch und fuhr mit der Hand an die Matrosenmütze, während der andre mit schwerem, verlegnem Schritt tiefer ins Zelt trat und eine Thermosflasche, ein Gefäß mit Butter auf den Spiegeltisch stellte und dazu zwei Wecken feinen Weißbrotes legte:

      »Auf Befehl des Herrn Chefarztes, Tee, Brot und Butter für Madame, vorläufig ...«

      Er verkündete dies im Tone einer militärischen Meldung, indem er die Hacken zusammenschlug und sein stupsnäsiges Kinderprofil dem Bette zuwandte, ohne die Frau anzusehn. Eine rührende Haltung täppischer Verlegenheit. Juliette aber ließ einen wimmernden Seufzer vernehmen, worauf die beiden Sanitäter in dem Gefühl, der Kranken zur Last zu fallen, auf behutsam ungeschlachten Zehenspitzen das Zelt verließen. Sie folgten Mairik Antaram zum Lazarettschuppen, den das Feuer verschont hatte. Dort war schon das gesamte Sanitätspersonal des Panzerkreuzers versammelt, um die Verwundeten und Kranken an die Küste zu schaffen. Juliette streckte den beiden Landsleuten sehnsüchtig die Arme nach, dann aber warf sie die Decke ab und setzte sich auf den Bettrand. Die Verpuppung war endgültig durchbrochen. Mit beiden Händen das Gesicht bedeckend, fühlte sie ihr wirr zerzaustes Haar. Entsetzt flüsterte sie vor sich hin:

      »Franzosen, Franzosen! Wie sehe ich aus! Franzosen!«

      Plötzlich aber war's, als schieße in dem ausgetrockneten Körper eine Feuersäule der alten Energie auf. Sie setzte sich ans Spiegeltischchen. Ihre steifgewordenen, unsicheren Finger warfen alles durcheinander, was sich noch an Schönheitsmitteln fand. Sie kleckste Rouge auf ihre Wangen, ohne die Schminke zu verwischen, wodurch ihr Gesicht noch krankhafter

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