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Kissen unter den Kopf und übergab ihr Handtäschchen dem Offizier. Dann fuhr er seiner Frau noch einmal übers Haar: »Sei ruhig ... Es wird nichts Wichtiges zurückbleiben ...«

      Jäh unterbrach er sich. Der Offizier warf ihm einen fragenden Blick zu. Gabriel nickte. Die Träger nahmen die Bahre auf und gingen die ersten Schritte. Sato wartete erregt abseits, um die Führerin dieses Transports zu machen.

      »Ich werde euch schnell eingeholt haben«, rief Bagradian seiner Frau nach. Juliette aber machte eine so heftige Bewegung, daß die Träger innehielten und die Bahre auf die Erde stellten. Ein zerfetztes Wahnsinnsgesicht wandte sich Gabriel zu, und eine Stimme, die er noch niemals gehört hatte, gellte:

      »Hörst du? ... Stephan ... Kümmre dich um Stephan!!«

      Auch in der Erlösung war das Maß des Leidens noch nicht voll. Aus dem Tomasianszelte rief es:

      »Gabriel Bagradian, so kommen Sie doch!«

      Gabriel hatte Iskuhi bei ihrem verwundeten Bruder vermutet. Sie ließ sich nicht blicken. Er trat in Arams Zelt. Alles Gewesene war ja widersinnig gleichgültig geworden. Er fand den Pastor in fiebernder Erregung:

      »Wo ist Iskuhi, Gabriel Bagradian, um Jesu willen, wo haben Sie Iskuhi gelassen?«

      »Iskuhi? Sie war nach Mitternacht eine Weile bei mir auf der Geschützkuppe. Dann habe ich sie gebeten, zu meiner Frau zu gehn ...«

      »Das ist es ja«, schrie der Pastor. »Noch am Morgen war ich fest überzeugt, daß sie bei Ihnen in der Linie ist ... Sie ist nicht zurückgekommen, sie ist verschwunden ... Ich habe Leute ausgesandt ... Seit Stunden sucht man sie schon ... Die französischen Sanitätsmatrosen wollten mich längst hinunterschaffen ... Aber ich verlasse den Berg nicht ohne Iskuhi ... Wenn ihr etwas geschehn ist ... Ich verlasse den Berg nicht ...«

      Er klammerte sich an Gabriels Arm fest und stemmte sich trotz seiner Wunde empor:

      »Ich bin der Schuldige, Bagradian ... Das kann ich Ihnen jetzt erklären ... Aber ich bin der Schuldige ... Wenn mich Gott in meinem Kind und in meiner Schwester persönlich straft, nachdem er uns allen die Gnade gesandt hat, so ist das nur gerecht ... Auch meine Frau war nur ein Werkzeug der Prüfung ...«

      »Und wo ist Ihre Frau?« fragte Gabriel sehr ruhig.

      »Sie ist hinuntergelaufen. Mit dem Kind. Man hat ihr gesagt, daß es unten Milch gibt. Da war sie nicht zu halten ...«

      Die Erregung übermannte den Verwundeten. Er versuchte aufzustehn, fiel aber gleich wieder zurück.

      »Verflucht, ich kann nichts tun, ich kann mich nicht rühren ... Tun Sie etwas, Bagradian. Auch Sie haben Schuld an Iskuhi ... Auch Sie ...«

      »Warten Sie, Pastor ... Ich gehe ...«

      Gabriel sagte das mit schleppendem Ton. Dann bewegte er sich fort, über den Dreizeltplatz und noch ein Stück hinaus. Er kam aber nicht weit, sondern setzte sich irgendwo nieder und starrte ins Blaue. Durch seinen matten Sinn zog immer derselbe Gedanke: Dies also ist die Rettung! Er versuchte, das Nachtgespräch mit Iskuhi sich ins Gedächtnis zu rufen. Er hatte aber keine Einzelheit, sondern nur einen gespenstischen Hauch von Resignation in sich zurückbehalten. Sie war gekommen, um ihn an das Versprechen zu erinnern, um bei ihm zu sein in der letzten Entscheidung. Er aber hatte sie von sich gewiesen, fortgeschickt, zu Juliette. Das war doch selbstverständlich; wenn er sich jetzt prüfte, hatte er selbst nach dem gestrigen Unglück noch den Glauben an die Rettung nicht verloren gehabt. Iskuhi sollte in Sicherheit sein. War das nicht sein Gedanke gewesen? Iskuhi aber wollte etwas, was er ihr nicht geben konnte, einen entschlossenen seligen Glauben an den Untergang. In diesem Glaubensmut hatte er sie enttäuschen müssen. Wo war Iskuhi nun? Gabriel hätte nicht sagen können warum, aber seine Seele war von der Überzeugung erfüllt, daß Iskuhi nicht mehr lebte, daß Iskuhi in der Nacht noch den Tod gesucht hatte, daß Iskuhi vom Damlajik verschwunden war und alle Nachforschungen keinen Erfolg haben würden. Dennoch erhob er sich jetzt aus seiner erstarrten Hoffnungslosigkeit, um alle notwendigen Anordnungen zu treffen.

      Gabriel Bagradian war im Irrtum. Iskuhi lebte. Während er seine Pfeife an die Lippen setzte, um irgendwelche Helfer herbeizurufen, hatte sie Kework, der Tänzer, schon gefunden. Spät genug! Dies war nur damit zu erklären, daß Iskuhi in der Nacht den ausgetretenen Pfad verloren hatte und in eine kleine Schlucht, oder besser in eine leichte, wildbewachsene Grube gestürzt war. Diese Grube lag freilich abseits von den gewohnten Wegen, in dem zerklüfteten Gelände, das zur Schüsselterrasse führt. Was sie zwischen Mitternacht und Morgen in dieser unseligen Gegend gesucht hatte, darauf erhielt niemand eine Antwort. Bis auf ein paar Kratzer an Armen und Beinen war dem Mädchen nichts geschehen. Keine Wunde, kein Knochenbruch, keine Erschütterung, ja nicht einmal eine Sehnenzerrung. Und doch, der Sturz in der Finsternis hatte den tödlichen Schwächezustand Iskuhis, gegen den sie sich so viele Tage schon wehrte und den sie doch selbst förderte, endlich zum Durchbruch gebracht. Als sie Kework auf seinen, ganz andre Lasten gewohnten, Armen herbeitrug, war sie bei voller Besinnung, hatte riesige, fast heitere Augen, konnte aber nicht sprechen. Zum Glück befand sich bei den Sanitätssoldaten, die noch die letzten Kranken zu transportieren hatten, ein junger Hilfsarzt vom »Guichen«. Er verabreichte Iskuhi ein starkes Herzmittel, bestand aber darauf, daß die Entkräftete so schnell wie möglich an Bord gebracht werde, um das Schlimmste abzuwenden. Ohne Verzug und ohne viel Worte wurden Pastor Tomasian und Iskuhi auf die Tragbahren geschnallt. Gabriel hatte kaum Zeit, Kristaphor den Auftrag zu geben, alle drei Zelte, sobald das Gepäck fortgeschafft sei, mit ihrem ganzen Inhalt sofort niederzubrennen.

      Gabriel hielt sich dicht an Iskuhi, sooft dies nur möglich war. Der enge Steig freilich bot kaum Platz für einen Mann, und an jenen Stellen, wo die nackten Felswände sich rechter Hand öffneten, hatten die Träger alle Mühe, mit ihren Lasten heil vorüberzukommen. Voran schwankte die Bahre mit dem verwundeten Pastor. Dann folgte Iskuhi, in deren Nähe auch der Hilfsarzt ging. Damit aber war der Zug nicht abgeschlossen, da hinten noch drei Beinverletzte der Schlacht vom dreiundzwanzigsten August und eine Wöchnerin getragen wurden, überdies lief ein Schwärm von Nachzüglern mit, Krieger aus den Zehnerschaften, die im Brandschutt ihrer Familienhütten nach verschonten Habseligkeiten gescharrt hatten. Die Träger hielten drei- oder viermal auf breiten Bergstufen Rast. Dann neigte sich Gabriel zu Iskuhi hinab. Doch auch er konnte kaum sprechen. Denn zwei Schritte voraus lag Aram Tomasian. Und der Arzt kam jeden Augenblick, um dem Mädchen einen Schluck Milch einzuflößen und den Puls zu fühlen. Gabriel sprach mit leiser Stimme halbe Sätze: »Wohin wolltest du, Iskuhi ... Was hast du vorgehabt ... Dort ...«

      Ihre Augen antworteten:

      »Warum fragst du mich, was ich nicht weiß ... Es war ein Schweben ... Wir haben nur wenig Zeit mehr, weniger als in der Nacht ...«

      Er kniete neben sie hin und schob die Hand unter ihren Kopf, als wollte er sie damit zum Sprechen bringen. Dabei waren seine eigenen Worte kaum vernehmbar:

      »Hast du Schmerzen?«

      Ihre Augen verstanden sofort und erwiderten:

      »Nein! Ich spüre meinen Körper gar nicht. Aber ich leide sehr, daß es so gekommen ist, wie es kam. Wäre es ohne diese Schiffe nicht besser gewesen? Nun ist irgendein Ende da, aber nicht unsres, Gabriel ...«

      Gabriels Augen verstanden weder so gut zu sprechen noch auch so gut zu lesen wie die Iskuhis. Darum sagte er auch etwas ganz Falsches:

      »Es ist nur ein kleiner Kollaps, Iskuhi ... Der Hunger ...« Und zum Hilfsarzt gewandt, fuhr er französisch fort:

      »Der Doktor meint dasselbe. In drei Tagen, wenn wir in Port Said ankommen, wirst du völlig erholt sein ... Du bist ja noch so jung, so jung, Iskuhi ...«

      Ihre Augen verfinsterten sich und entgegneten streng:

      »Solche banalen Worte solltest du in dieser Minute gar nicht sprechen, Gabriel. Ob ich leben oder sterben werde, ist mir ganz gleichgültig. Du irrst dich, wenn du meinst, daß ich mich nach dem Tode sehne. Vielleicht werde ich leben. Aber weißt du nicht, daß alles anders sein wird, wenn uns die Schiffe aufgenommen haben, auch du und ich. Nur solange wir noch die Erde des Musa Dagh unter uns haben, gehören wir einander, du als meine Liebe und ich

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