Скачать книгу

Kräften jedoch gelang es nicht, das widerspenstige Haar zu bändigen. Da legte sie ihren Kopf auf die Arme und begann fassungslos zu schluchzen. Wie immer tat ihr das Erbarmen mit sich selbst so streichelnd wohl, daß sie dann die Haare überhaupt vergaß und offen herabhängen ließ. Ein neuer scharfer Schreck. Franzosen, Franzosen! Was soll ich anziehn? Sie begann ihre Sachen zu suchen, den Schrankkoffer, das andre Gepäck. Nichts! Der Raum war leer. Juliette jagte gehetzt die wenigen Schritte durch das Geviert um und um. Es war wiederum jene Traumangst, barfuß und im Nachtgewand in einer glänzenden Gesellschaft erscheinen zu müssen. Nach langem vergeblichem Suchen wagte sich Juliette endlich vors Zelt. Der goldklare Septembertag warf sie beinahe zurück. Im nächsten Augenblick aber kniete sie vor dem Schrankkoffer. Wer hatte ihr diese Gemeinheit angetan? Iskuhi? Alles herausgerissen, durcheinandergeknüllt, zerfetzt. Kein einziges Kleid in Ordnung, von diesen verschollenen vorjährigen Lumpen. Sie hatte nichts, gar nichts zum Anziehn, und sie mußte doch schön sein, denn die Franzosen waren da. Mairik Antaram fand Juliette auf der Erde sitzen, mitten unter den Häuflein von Hemden, Strümpfen, Kleidern und Schuhen, welche die Räuber verschon hatten. Sie konnte sich vor Erschöpfung nicht mehr rühren, jammerte aber hartnäckig:

      »Die Franzosen sind da, die Franzosen sind da ... Was soll ich anziehn ...«

      Mairik Antaram starrte die Kranke an, als traue sie ihren Ohren nicht. War es möglich, daß diese Frau, die nach ihrer Wiederkehr ins Leben noch kaum ein Wort gesprochen hatte und sich mit allen Kräften gegen das furchtbare Wissen wehrte, jetzt an Kleider denken konnte? Langsam aber begriff Antaram, was in Juliette vorging. Keine Eitelkeit. Ihre Brüder kamen ja. Sie schämte sich, sie wollte ihrer Brüder würdig sein. Frau Altouni kniete neben Juliette nieder und begann nun auch, in dem bunten Haufen zu wühlen. Was immer sie aber hervorzog, erregte den Zorn Juliettens. Nach langer Zeit, innerhalb welcher die Kranke auf diese sonderbare Art mit ihrem Schicksal getrotzt und Mairik Antaram himmlische Geduld bewiesen hatte, fand doch irgendein Gewand Gnade. Ein steifes und festliches freilich mit einem spitzenbesetzten Halsausschnitt. Während die alte Frau, die in solchen Künsten wahrlich kein Geschick besaß, der fast Bewegungslosen mit größter Mühe dieses Kleid anlegen half, stöhnte Juliette:

      »Es ist nicht passend ...«

      Welches Kleid aber wäre passend gewesen, die brüderlichen Retter zu empfangen, die ein zerbrochenes Leben doch nicht erretten konnten?

      Gabriel war dem Konteradmiral vorausgeeilt, um seine Frau auf den Besuch vorzubereiten. Bei seinem Eintritt saß Juliette auf dem Bettrand. Mairik Antaram hielt eine Tasse in der Hand und versuchte der Widerspenstigen den Tee aufzuzwingen wie einem ungezogenen Kind:

      »Willst du für die Franzosen schön sein, so mußt du dich stärken, sonst nützen dir all deine Kleider nichts ...«

      Juliette erhob sich förmlich, als sei ein Unbekannter eingetreten, dem sie folgen müsse. Mit einem Blick auf die beiden Menschen verließ Mairik Antaram das Zelt. Eines der Brote nahm sie mit, denn sie selbst war ja dem Hungertode nah. Gabriel sah mit grellem Bewußtsein sein altes Leben und die Unüberbrückbarkeit zwischen sich und ihm. Dieses alte Leben trug ein schweres Taftkleid, das bei jeder Bewegung die Vergangenheit rauschen ließ. Die Wangen aber und die Glieder des alten Lebens hatten Farbe und Fülle verloren, die Gestalt konnte kaum frei stehn und weckte Erbarmen. Gabriels Kehle verengte sich. Wie nahe noch war ihm Juliette während ihrer Krankheit gewesen. Jetzt erst, da er sie in der feierlichen Seide vor sich sah, ermaß er ganz den Abgrund der vierzig Tage. Er mußte sich bei seinen Worten sehr zusammennehmen:

      »Jetzt bist du wieder wie früher, chérie, gottlob ...«

      Er fragte sie, ob sie schon Kraft genug habe, dem Konteradmiral des französischen Geschwaders ein paar Schritte entgegenzugehn. Hier in dem dunklen Krankenzelt wolle sie ihn gewiß nicht empfangen. Juliette blickte sich in dem Gehäuse um, das sie noch vor einigen Stunden zu ihrem Grabe bestimmt hatte. Dann machte sie eine leichte und doch sehnsüchtige Bewegung gegen ihr kleines Kopfkissen hin. Gabriel nahm ihren Arm:

      »Am Abend wirst du all deine Sachen bei dir haben, Juliette. Nichts wird vergessen werden ...«

      Trotz dieser Beruhigung aber drehte sich Juliette im Zelteingang noch einmal nach der Dunkelheit um, wie Eurydike nach dem Hades.

      Der Konteradmiral kam, nur von seinem Adjutanten und einem jungen Offizier begleitet. Man hatte ihn davor gewarnt, sich der Rekonvaleszentin allzusehr zu nähern. Die Fieberkrankheit auf dem Musa Dagh schien von höchst verdächtiger Art zu sein. Der Flottenchef aber war ein mutiger Mann, bei dem Warnungen zumeist das Gegenteil bewirkten. Er ging mit seinem straffen Schritt, der Jugendlichkeit übertrieb, auf Juliette zu und küßte ihr die Hand:

      »Auch Sie, Madame, haben als Französin, als Fremde, einen hohen Anteil an den Leiden und Taten auf diesem Berg. Erlauben Sie mir, daß ich Sie zu dem guten Ausgang beglückwünsche.«

      Über Juliettens verfallenes Gesicht zog ein schmachtender Schatten:

      »Und Frankreich, mein Herr ...«

      »Frankreich geht durch eine fürchterliche Zeit und muß auf die göttliche Gnade hoffen ...«

      Juliettens Zustand schien den alten Herrn sehr zu bewegen. Er nahm ihre verschrumpfte Hand zwischen seine Hände:

      »Wissen Sie, mein Kind, daß ich Sie hier wahrscheinlich nicht zum erstenmal im Leben sehe ... Damals müssen Sie freilich noch ein sehr kleines Geschöpf gewesen sein, als ich einen ganzen Tag bei Ihren jungverheirateten Eltern verbrachte ... Wenn ich mit Ihrem Herrn Vater auch nicht gerade eng befreundet war, so gehörten wir in unsrer Jugend doch ungefähr demselben Kreise an ...«

      Juliette schluchzte kurz auf, doch es kam nicht zum Weinen, sondern nur zu einem seltsam abgerissenen Geplapper:

      »... Natürlich ... Das Haus wurde nach Papas Tod verkauft ... Aber Mama ... Mama wohnt jetzt ... Ach, ich habe die Straße vergessen ... Sie wissen nichts von ihr, mein Herr ... Aber meinen Schwager werden Sie wohl kennen ... Ich meine den aus dem Marineministerium ... Ein hoher Beamter ... Wie heißt er nur ... Mein Kopf ... Coulomb, selbstverständlich, Jacques Coulomb ... Sie kennen ihn ... Ich sehe meine Schwestern nur selten ... Aber wenn ich wieder in Paris bin, da werde ich alle meine Freunde und Freundinnen sehn, nicht wahr? ... Sie bringen mich doch nach Paris ...«

      Juliette taumelte. Der Admiral hielt sie fest. Gabriel lief ins Zelt und brachte einen Stuhl. Nun saß die Kranke. Trotz ihrer Schwäche aber ließ die Geschwätzigkeit nicht von ihr ab. Wahrscheinlich fühlte sie die Verpflichtung, Konversation zu machen. Ihr Geplapper wurde immer steifer, papageienhafter. Sie nannte immer wieder neue Namen, gemeinsame Bekannte, wie sie wähnte. Ihre Rede sprang zusammenhanglos und flüchtig von einem zum andern. Der Konteradmiral fühlte sich sichtbar unbehaglich. Endlich rief er den jungen Offizier herbei:

      »Sie werden für alles sorgen, mein Freund, und Madame begleiten ... Die ›Jeanne d'Arc‹ ist ein Kriegsschiff, und Bequemlichkeiten findet man auf einem Kriegsschiff nicht. Wir wollen aber alles versuchen, um Ihnen die Reise angenehm zu machen, liebes Kind ...«

      Auch nachdem der Konteradmiral, von Gabriel ein Stück geleitet, schon gegangen war, hielt Juliettens papageienhafte Geschwätzigkeit unvermindert an. Der junge Offizier, den der Chef gleichsam als Schutz- und Ehrenkavalier zurückgelassen hatte, sah beklommen auf die farblosen Lippen der armen Frau, die unablässig Fragen hervorsprudelten, die er nicht beantworten konnte. Dabei schien im Innern dieser Kranken etwas Schreckliches vorzugehn, denn sie atmete kurz, und die Schlagader an ihrem Halse jagte sichtbar. Auch wurden die Schatten unter ihren Augen immer tiefer. Der Offizier war froh, als Bagradian zurückkehrte und ein wenig später die Sanitätsmatrosen mit der Tragbahre kamen. Juliette sträubte sich zuerst:

      »Da lege ich mich nicht hin ... Das ist ja eine Schande ... Ich werde lieber gehen ...«

      Gabriel streichelte ihre Hand: »Das kannst du nicht, Juliette. Sei vernünftig und streck dich aus! Glaub mir, auch ich würde mich am liebsten hinuntertragen lassen.«

      Die beiden Milchgesichter lachten fröhlich aufmunternd.

      »Unbesorgt, Madame, wir tragen Sie vorsichtig wie Glas. Sie werden gar nichts spüren.«

      Juliette

Скачать книгу