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Sie lassen sich sofort in meinem Namen melden und entschuldigen mich mit irgendeinem einleuchtenden Grund. Sagen Sie, das Transportschiff sei mit unseren unsichersten Leuten besetzt, die keine Aufsicht haben. In der kurzen Zeit hätte man die Geschichte nicht organisieren können. Jemand aber müsse doch die Ordnung gerade unter diesen Leuten garantieren. Da habe ich es übernommen ...«

      Awakian sah recht wenig überzeugt drein. Aber Gabriel blieb fest:

      »Dieser Grund ist wirklich glaubwürdig. Sie können ruhig sein. Ein alter Soldat und Seemann hat für solche Skrupel jedes Verständnis. Es wird ihm weiter nicht auffallen, glauben Sie mir ... Nun also, machen Sie es gut, Awakian ...«

      Der Student zögerte noch:

      »Dann werden wir uns jetzt ein paar Tage nicht sehn ...«

      Diese Worte klangen ängstlich. Gabriel aber blickte zum Landungsponton hin:

      »Höchste Zeit, Awakian! Die Motorbarkasse der ›Jeanne d'Arc‹ dürfte keine neue Fahrt machen. Behalten Sie die Papiere vorläufig bei sich!«

      Das Boot mahnte mit ungeduldigen Abfahrtssignalen, Awakian hatte kaum mehr Zeit, Gabriel die Hand zu drücken. Dieser blickte ihm versunken nach. Dann erkundigte er sich bei einem der Offiziere, wann die Boote zum Transportschiff abgehn würden. Da die meisten Kranken schon an Bord seien, erhielt er zur Antwort, komme die Einschiffung der Ausgesonderten zuletzt. Das kann ja noch stundenlang dauern, meinte Bagradian angesichts der dichten Menge, die sich um die Kommission und auf der Landungsstelle drängte. Er war aber damit gar nicht unzufrieden und freute sich, dem Konteradmiral und dem Leben auf der »Jeanne d'Arc« entgangen zu sein. Langsamen Schrittes schlenderte er auf den Bergpfad zu. Er hatte so viel Zeit noch, und es war gut, dem Weibergeschrei dort unten und der brennenden Septembersonne in Stille und Schatten zu entkommen. Gabriel mußte am Sammelplatz vorbei, wohin man die Ausgesonderten schickte, damit sie dem begünstigten Volksteil nicht im Wege stünden. Viele von ihnen freilich, die Friedhofsbewohner voran, hatten sich hier eingefunden, ohne sich erst der Mühsal jener Ungeziefermusterung auszusetzen. Bagradian sah seine künftigen Reisegenossen. Sato grinste, lief ein Stück an seiner Seite und streckte ihm bettelnd die Hand entgegen. Das hatte sie in Yoghonoluk niemals getan. Ein paar Deserteure erhoben sich aufdringlich und zerknirscht. Nunik und die anderen Klageweiber saßen auf ihren Säcken, deren Moderschätze sie jetzt von der Heimat fort auf einen fremden Erdteil zu entführen gedachten. In der linken Hand hielten sie ihre langen Hirtenstäbe, mit der Rechten berührten sie Brust, Mund und Stirn, um den Herrn zu grüßen, Gabriel Bagradian, den Letzten, Sohn des Mesrop, Enkel des Awetis Bagradian, des großen Wohltäters und Kirchenstifters. Nunik aber, die Zeitlose, grüßte in ihm das Kind, bei dessen Geburt sie heimlich mitgewirkt hatte, vor Bedros Hekim wohlverborgen, mit dem Sis Kreuze an Tür und Wände malend, um den Dämon zu vertreiben. Die blinden Greise mit den Prophetenhäuptern hockten leise singend auf der Erde. Dicke Fliegen saßen auf ihren Augenhöhlen. Sie verscheuchten sie nicht. Ungerührt durch das Gewesene, unbekümmert um das Künftige, sangen die Prophetenhäupter vor sich hin. Sie fragten kaum nach dem, was geschehen war, sie verloren keine Heimatstätte, sie horchten nur dem inneren Rauschen und ließen sich von Nunik, Wartuk, Manuschak, den Blindenführerinnen, leiten, wohin es diesen beliebte. Zufrieden klagend tönte ihr dünnes Summen und das entzückte Zittern im Diskant.

      Gerade dieses Summen aber machte Gabriel das Herz schwer. Es lockte Stephan herbei. Er ging den Bergpfad immer weiter, um den Gesang der Blinden nicht mehr hören zu müssen. Doch bald hatte er dafür Juliettens sonderbares Papageiengeplapper im Ohr und dann ihren Aufschrei: Kümmre dich um Stephan! Immer schneller schritt er aus, in tiefen Gedanken, die ihrer nicht bewußt waren. Endlich blieb er verwundert stehn, so weit war er schon den Berg emporgeraten. Dies aber schien ein guter Ort zu sein. Ein natürlicher Felssitz, von Arbutus und Myrten überdacht, mit einer moosigen Lehne. An diesem guten Ort ließ er sich nieder. Er konnte von hier alles genau betrachten, das Gewimmel bei den Klippen unten und die fünf blaugrauen Schiffe, regungslos erstarrt in der dicken Schmelzflut. Der Transportdampfer lag am weitesten draußen. Der »Guichen« mit Iskuhi am nächsten. Das Fischereifloß des Pastors war mit festen Schiffstauen an den Klippen befestigt worden. Die Matrosen hatten einen schmalen Laufsteg drüberhin gelegt. Die Geretteten balancierten einer hinter dem andern über dieses lange Brett, um zu den Booten zu gelangen. Manchmal geriet die ganze Vorrichtung ins Schwanken, das Wasser spritzte auf, und die Frauen kreischten. Dieses Bild verscheuchte alles andre. Das Gewimmel nahm noch immer nicht ab. Ich habe sehr, sehr viel Zeit, dachte Gabriel. Dies aber hätte er nicht denken dürfen, ja er hätte sich an diesem guten Orte ebensowenig niederlassen dürfen wie ein Halberfrorener im Schnee. Das Bild der Einschiffung schwankte einförmig. Und Gott sandte einen mächtigen Schlaf über Gabriel Bagradian. Dieser Schlaf war bereitet aus allen Strapazen, aus allen durchwachten Nächten der vierzig Tage. Gegen ihn gab es keinen Willen und keine Kraft mehr.

      Eine Mutter sagt am Abend von ihrem Kindchen, das kaum die Augen offenhalten kann: Es hat Schlaf. Gabriel Bagradian hatte Schlaf, nein, er hatte Tod.

      Siebentes Kapitel

       Dem Unerklärlichen in uns und über uns

       Inhaltsverzeichnis

      Fünf Schiffssirenen heulen auf. In verschiedenen Tonlagen durcheinander, kurz, drohend, hohl. Gabriel Bagradian öffnet ruhig die Augen. Sein Blick sucht das schwankende Bild, das er soeben verlassen zu haben glaubt. Die belebtere Brandung umhüpft die menschenleeren Klippen. Das Floß schwimmt auseinander. Der »Guichen« hat schon beigedreht. Sein Bug, nach Südwest gerichtet, schneidet tief ins Meer. Die andern Schiffe des Geschwaders ziehen ihm voraus. Wie schwerfällige und doch anmutig zielbewußte Tänzer suchen sie eine formvollendete Figur zu bilden. Die »Jeanne d'Arc« manövriert sich langsam in den Kern dieser Figur. Gabriel beobachtet dies mit aufmerksamen Augen. Dann erst denkt er: Und Ter Haigasun? Hat er nichts bemerkt? Nein! Er glaubt mich ja auf der »Jeanne d'Arc«. Jetzt springt Gabriel auf und beginnt zu rufen und mit den Armen zu kreisen. Doch seine Stimme trägt nicht, und seine Bewegungen sind nicht die eines Verzweifelten. Die Sonne trifft zur Frist den Vorsprung des Ras el Chansir, und die Steilwände des Musa Dagh liegen im tiefen Schatten. Bei einiger Vernunft müßte Bagradian daher zu den Klippen hinabfliegen, die äußerste erklettern und sich mit allen Mitteln bemerkbar zu machen suchen. Das Deck des »Guichen« ist voll von Armeniern, die über die Reling hängen und Abschied nehmen von dem Berg ihres Lebens, der ihnen jetzt mit verfinsterter Miene wie ein enttäuschter Mörder nachzublicken scheint. Wenn auch das Meer laut atmet und die Schraube pocht, irgend jemand auf Deck oder in den Beobachtungstürmen würde Gabriel Bagradian schon bemerken. Der Unglückselige aber verläßt nicht nur seinen schattigen Platz nicht, er stellt sogar das Winken und Rufen ein, als habe er solche zwecklose Förmlichkeit satt. Und wirklich, Gabriel ist tief erstaunt über die Ruhe, die ihn erfüllt. Ein Mensch in dieser Lage müßte doch wie ein Wahnsinniger um Hilfe rufen, er müßte sich ins Wasser werfen, nachschwimmen, aufgefischt werden oder ertrinken, gleichviel. So langsam ziehen die Schiffe. Noch ist es Zeit.

      Gabriel versteht seine eigene Ruhe nicht. Lähmt der Schlaf noch immer sein Blut? Die Feldflasche, von den Franzosen mit schwarzem Kaffee und Kognak gefüllt, liegt neben dem guten Ort, wo er sitzt. Er will seine eigne Verzweiflung wecken und trinkt deshalb in vollen Zügen. Die Labung bewirkt das Gegenteil. Das Blut kommt zwar in Zug, die Muskeln spielen, doch die Ruhe verwandelt sich keineswegs in Notschrei und Todesangst. Sie nimmt nur eine aktivere Form an. Sie wird zu freudiger Getrostheit. Der irdische, der materielle Mensch schämt sich ihrer zunächst. Ich werde einen höheren frei gelegenen Punkt ersteigen und aus meinem Rock eine Fahne machen. Dieser Versuch ist praktisch wertlos. Gabriel gaukelt sich damit nur etwas vor. Es treibt ihn einfach hinauf und nicht hinunter. Jetzt denkt er selbstverständlich noch: Wovon werde ich leben? Er greift in die Taschen seines Überrocks. Drei Weißbrötchen und zwei Tafeln Schokolade, das ist alles. In den Taschen des Leibrocks findet er nichts Rechtes, die Karte des Damlajik, ein paar alte Briefe und Aufzeichnungen, eine leere Zigarettenschachtel und dann die Münze des Agha Rifaat Bereket mit der griechischen Aufschrift. Er hält das dünne goldene Ding in der Hand. Plötzlich erinnert er sich, daß er damals vor dem großen Aufbruch noch einmal in die Villa zurückgekehrt

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