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Himmel noch mal, wie lange dauert das denn?«

      Der Arzt zuckte die Schultern, dann setzte er eilig seinen Weg fort. Mit einer fahrigen Handbewegung fuhr sich Stefan durch das dichte braune Haar, während er wieder Tränen aufsteigen fühlte. Und dann trat er ans Telefon und wählte, ohne lange zu überlegen, die Nummer der kleinen Schwabinger Wohnung, die er mit seiner Schwester teilte. Karina war ihm sicher nicht böse, wenn er sie mitten in der Nacht aus dem Bett holte.

      Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sich seine jüngere Schwester mit verschlafener Stimme meldete.

      »Ich bin’s«, gab Stefan sich zu erkennen, während er erneut gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfte. »Es tut mir leid, daß ich dich geweckt habe, aber… ich… ich brauche jemanden, mit dem ich…« Er stockte. In seinem Kopf ging alles durcheinander. Er brachte keinen vollständigen Satz mehr zusammen. »Ich bin so entsetzlich einsam, und ich habe furchtbare Angst…«

      Karina war mit einem Schlag hellwach.

      »Ruhig, Stefan. Ganz ruhig.« Ihre sanfte Stimme legte sich wie Balsam auf seine zerrissenen Nerven. »Ich verstehe kein Wort. Wo bist du jetzt?«

      »In München. In der Klinik von Onkel Schorsch.«

      Karina erschrak. »Ist dir etwas passiert? Bist du verletzt?«

      »Nein, aber Saskia… sie wird seit fast fünf Stunden operiert, und ich kann Papa nicht erreichen. Ich weiß nicht mehr…«

      »Bleib, wo du bist«, fiel Karina ihm ins Wort. »Ich bin in einer halben Stunde bei dir.«

      Sie hatte nicht zuviel versprochen. Kurz nach halb ein Uhr morgens kam sie den Flur entlang – ein zierliches junges Mädchen mit langem, goldblondem Haar. Und sie strahlte eine Ruhe und Sicherheit aus, die fast körperlich spürbar wurde, als sie sich jetzt neben ihren Bruder setzte.

      »So, Stefan, jetzt erzählst du mir schön der Reihe nach, was eigentlich passiert ist«, verlangte sie, doch Stefan konnte überhaupt nicht sprechen. Mit einemAufschluchzen lehnte er sich gegen seine Schwester, dann gelang es ihm nicht mehr, seinen so lange zurückgedrängten Tränen Einhalt zu gebieten. Alle Angst und Sorge, die er in entsetzlicher Einsamkeit ausgestanden hatte, brachen sich jetzt Bahn.

      Ohne zu zögern nahm Karina ihn in die Arme. Sie spürte, wie sehr Stefan sich seiner Tränen schämte. Er hatte in ihrer Anwesenheit noch niemals geweint – jedenfalls nicht, seit er erwachsen war.

      »Schon gut, Stefan«, erklärte sie leise. »Wein’ dich erst mal richtig aus. Danach fühlst du dich bestimmt besser.«

      Es dauerte lange, bis Stefan sich wieder beruhigen konnte, dann begann er leise und immer wieder stockend zu erzählen, was sich während der vergangenen Tage zugetragen hatte.

      »Ich habe ihr angeboten, sie nach Freiburg zu begleiten. Wir waren gerade in München, als ich etwas gegen Pascal sagte…« Er schlug die Hände vors Gesicht. »Verdammt, ich liebe sie doch! Ich konnte einfach nicht zulassen, daß sie sich wieder an diesen Kerl hängt!« Er zwang sich zur Ruhe, doch seine Stimme bebte, als er fortfuhr: »Sie wollte aussteigen… wollte auf meine Begleitung verzichten. Und als ich an einer roten Ampel hielt…« Seine Stimme brach, und seine Hände begannen zu zittern. »Sie sprang aus dem Auto und rannte blindlings über die Straße. Und da war plötzlich dieses Auto…« Er brachte auch diesen Satz nicht zu Ende.

      Karina warf einen Blick auf die Uhr. Es war fast halb zwei Uhr morgens. »Wie lange operieren sie schon?«

      »Seit über sechs Stunden.« Stefans Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Und ich bin schuld, daß das passiert ist. Mein Gott, wenn Saskia stirbt, dann… dann will ich auch nicht mehr leben.«

      Karina erschrak zutiefst. »Stefan! So etwas darfst du nicht einmal denken!«

      In diesem Augenblick öffneten sich die Milchglastüren, und Dr. Georg Sommer trat heraus. Er war ein großer, breitschultriger Mann Anfang Fünfzig, dessen graumeliertes Haar schon recht licht geworden war. Normalerweise strahlte er eine enorme Vitalität aus, doch jetzt, nach dieser langen, schweren Operation, wirkte er wie ein alter Mann.

      Stefan sprang auf und lief ihm entgegen.

      »Wie geht es ihr?« wollte er erregt wissen.

      Dr. Sommer seufzte. Was er dem Sohn seines besten Freundes zu sagen hatte, war nicht gerade erfreulich, und unwillkürlich dachte er daran, wie lange er Stefan schon kannte. Als Baby hatte er ihn zur Taufe getragen, und nur zu gut erinnerte er sich noch an den aufgeweckten Lausbuben, der Stefan schon wenige Jahre später geworden war. Nichts als Streiche hatte er damals im Kopf gehabt, und nicht selten war Dr. Sommer selbst Opfer eines dieser Streiche geworden. Und jetzt war dieser Lausbub von damals ein vierundzwanzigjähriger Mann, ein angehender Mediziner und der Freund des Mädchens, von dem niemand wußte, ob es die Augen jemals wieder öffnen würde.

      »Ich habe keine guten Nachrichten für dich, Stefan«, erklärte Dr. Sommer und legte dem jungen Mann mitfühlend eine Hand auf die Schulter. »Deiner Freundin geht es sehr schlecht. Die Operation ist zwar gut verlaufen, und es ist mir sogar gelungen, ihr das Baby zu erhalten, aber Fräulein Felber schwebt noch immer in Lebensgefahr.«

      Stefan stöhnte leise auf, und einen Augenblick lang befürchtete Dr. Sommer schon, er würde zusammenbrechen.

      »Kann ich… zu ihr? Nur für ein paar Minuten?«

      Dr. Sommer zögerte, dann nickte er. »Natürlich, Stefan. Komm mit.«

      Es tat Stefan nahezu körperlich weh, Saskia so zu sehen, und seine Schuldgefühle verstärkten sich noch weiter. Hätte er nicht so schlecht über Pascal geredet, dann wäre sie nicht so kopflos aus dem Auto geflüchtet. Und dann läge sie jetzt nicht hier – angeschlossen an piepsende und blinkende Apparate. Und dieses Piepen und Blinken war das einzige, was bewies, daß sie überhaupt noch am Leben war. Vorsichtig berührte Stefan ihr Gesicht.

      »Saskia, Liebes«, flüsterte er. »Du darfst nicht sterben. Du mußt wieder gesund werden.« Dann wandte er sich Dr. Sommer zu. »Sei ehrlich, Onkel Schorsch. Hat sie überhaupt noch eine Chance?«

      Dr. Sommer zögerte.

      »Ich weiß es nicht, Stefan«, antwortete er dann ehrlich. »Es klingt grausam für dich, mein Junge, aber deine Freundin kam wirklich in äußerst kritischem Zustand hier an. Ich habe alles versucht, um ihr zu helfen. Nur Gott allein weiß, ob mir das gelungen ist.«

      Stefan konnte ein schmerzvolles Aufschluchzen nicht unterdrücken.

      »Sie darf nicht sterben«, stammelte er. »O mein Gott, sie darf einfach nicht…«

      Mit einer sanften, aber dennoch bestimmten Geste nahm Dr. Sommer ihn am Arm und führte ihn wieder hinaus.

      »Du kannst hier nichts tun, Stefan«, meinte er. »Ruf deinen Vater an, und laß dich abholen.«

      Stefan schüttelte den Kopf. »Er ist nicht zu Hause. Aber selbst wenn… ich lasse Saskia jetzt nicht allein.«

      »Willst du zusammenbrechen? Davon hat deine Freundin auch nichts. Also, mein Junge, du wirst jetzt schön tun, was ich dir sage.« In diesem Moment entdeckte er Karina, die sich während der ganzen Zeit im Hintergrund gehalten hatte. »Karina, Mädchen, du bist ja auch hier.« Er nahm ihre Hand und drückte sie sanft. »Karina, sei so lieb und bring Stefan nach Hause. Er muß unbedingt ein paar Stunden schlafen.« Er wandte sich dem Sohne seines Freundes wieder zu. »Sollte sich in der Zwischenzeit irgend etwas an Fräulein Felbers Zustand ändern, dann rufe ich dich sofort an.«

      Wieder schüttelte Stefan den Kopf.

      »Ich bleibe hier«, beharrte er.

      »Nein, du wirst gehorchen«, entgegnete Dr. Sommer streng, dann gab er Karina einen kleinen Wink. »Nimm ihn mit.«

      Das junge Mädchen nickte. »Ich fahre mit Stefan nach Steinhausen. Papas Nummer hast du ja.«

      »Natürlich, Karina«, entgegnete Dr. Sommer, dann begleitete er Stefan und Karina hinaus. Stefan schien sich den Anordnungen nun doch zu fügen. In Wirklichkeit

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