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lag, aussprechen sollte.

      »Herr Doktor, ich wüßte gern… ich meine… könnten Sie mir sagen, wer das Mädchen ist?« erkundigte er sich ein wenig zögernd.

      Bedauernd schüttelte Dr. Daniel den Kopf. »Das fällt unter die Schweigepflicht, Herr Schermann. Tut mir leid.«

      Ricky senkte den Kopf. »Ich verstehe schon.« Und dann hatte er es plötzlich sehr eilig. Es konnte ja immerhin sein, daß er dem Mädchen draußen noch begegnen würde. Er bedankte sich bei Dr. Daniel, weil er sich für ihn Zeit genommen hatte, dann verließ er die Praxis und sah sich suchend um, doch von dem Mädchen war weit und breit nichts zu sehen.

      Niedergeschlagen bestieg Ricky sein Auto und fuhr langsam die steile Auffahrt hinunter. Während er den idyllischen Vorgebirgsort durchquerte, sah er sich immer wieder suchend um, aber das Mädchen konnte natürlich auch mit dem Auto hergekommen sein.

      Ricky erreichte den Mittelpunkt Steinhausens, den die romanische Dorfkirche St. Benedikt darstellte. Später hätte er nicht mehr zu sagen gewußt, was ihn bewogen hatte, sein Auto auf dem Parkplatz hinter der Kirche anzuhalten. Er war zwar katholisch, aber ein großer Kirchgänger war er nie gewesen. Doch hier drängte es ihn plötzlich, den wuchtigen Backsteinbau zu betreten.

      Die schwere Tür knarrte ein wenig in den Angeln, als Ricky sie aufzog, dann umfingen ihn angenehme Kühle und der Duft von Weihrauch. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht, das im Innern der Kirche herrschte, gewöhnt hatten, doch plötzlich erkannte er, daß er nicht allein war.

      In einer der vorderen Bänke kniete eine schmale Gestalt, und Ricky fühlte plötzlich, wie sein Herz heftiger zu klopfen begann. Obwohl die Frau ihm den Rücken zuwandte, war er sicher, daß es das Mädchen aus Dr. Daniels Praxis war. Langsam ging Ricky nach vorne, dann kniete er in einer der Betbänke auf der anderen Seite des Mittelganges nieder. Sein Blick fiel auf die wunderschöne Marienstatue, und für einen Moment hatte er das Gefühl, als würde die Gottesmutter ihm zulächeln.

      Jetzt erhob sich das Mädchen und trat auf den Mittelgang. Sie streifte Ricky mit einem kurzen Blick, bevor sie mit langsamen, fast schleppenden Schritten die Kirche verließ.

      Rasch schlug Ricky das Kreuzzeichen, dann folgte er dem Mädchen, und noch bevor sie die schwere Tür erreichte, war Ricky schon hinter ihr. Er zog die Tür auf und ließ sie vorangehen.

      »Danke«, flüsterte sie und wollte dann eilig ihren Weg fortsetzen, doch Ricky dachte nicht daran, sie so einfach davonlaufen zu lassen, nachdem er sie endlich gefunden hatte. Er wollte sie näher kennenlernen, wollte wissen, was es war, das ihn so in ihren Bann zog.

      »Das ist eine sehr schöne Kirche, finden Sie nicht auch?« fragte er, weil er nicht wußte, was er sonst hätte sagen können.

      Das Mädchen nickte. »Ja. Ich bin froh, daß ich hineingegangen bin. Die Ruhe da drinnen hat mir gut getan.«

      »Sie sind nicht aus Steinhausen?«

      »Doch, aber ich war nie eine eifrige Kirchgängerin«, gestand sie. »Aber heute hat es mich hineingezogen.«

      »Mich auch«, murmelte Ricky. »Ich weiß selbst nicht genau, was es war, aber plötzlich hatte ich das Gefühl, als müßte ich diese Kirche betreten.«

      Das Mädchen sah ihn an. »Sie waren vorhin auch bei Dr. Daniel, nicht wahr?«

      Ricky nickte. »Ich glaube, ich bin dort ziemlich aufgefallen. Ein Mann bei einem Frauenarzt gehört nicht gerade zu den alltäglichen Dingen des Lebens.«

      Das Mädchen mußte lächeln. »Da haben Sie recht. Andererseits ist Dr. Daniel ein Mensch, zu dem man einfach Vertrauen haben muß, und warum sollte ein Mann da nicht genauso empfinden?«

      Ricky antwortete nicht, sondern sah sie nur bewundernd an.

      »Wissen Sie, wie schön Sie sind, wenn Sie lächeln?« fragte er leise.

      Abrupt wandte das Mädchen ihr Gesicht ab und beschleunigte ihren Schritt. Doch Ricky folgte ihr und hielt sie schließlich am Arm fest.

      »Habe ich Sie jetzt gekränkt, Frau…« Er stockte. Warum zum Teufel konnte er sich nicht mehr an den Namen erinnern, den die Sprechstundenhilfe genannt hatte? »Ich weiß noch nicht einmal Ihren Namen.«

      »Das beruht auf Gegenseitigkeit«, entgegnete sie. »Allerdings bin ich auch nicht scharf darauf, Ihren Namen zu erfahren. Und zu Ihrer Frage: Sie haben mich nicht gekränkt, aber von Komplimenten irgendwelcher Art habe ich die Nase gestrichen voll. Sie sind meistens so verlogen wie der Mann, der sie ausspricht.«

      Damit ließ sie Ricky einfach stehen und eilte auf ihr Auto zu. Obwohl Ricky noch die Hand ausstreckte, gelang es ihm diesmal nicht, sie aufzuhalten. Und sie fuhr dann so schnell davon, daß er nicht einmal die Möglichkeit hatte, sich ihre Autonummer zu merken. Völlig ratlos stand Ricky da und sah die Straße hinunter. Er begriff nicht, was ihre Flucht ausgelöst haben konnte, aber schon jetzt wußte er, daß er nicht aufgeben würde, sie zu suchen. Er mußte das Mädchen wiederfinden.

      *

      Dr. Daniel wollte die herbstlichen Sonnenstrahlen ein wenig genießen und beschloß kurzerhand, während der Mittagspause einen kleinen Spaziergang zu machen, doch schon als er die Praxis verließ, fiel ihm der Kleinwagen auf, der auf dem Patientenparkplatz stand. Er zögerte einen Moment, dann ging er darauf zu, und als er das Auto schon fast erreicht hatte, erkannte er auch die junge Frau, die am Steuer saß und offensichtlich weinte.

      Ohne zu zögern öffnete Dr. Daniel die Autotür.

      »Frau Kampe«, sprach er sie besorgt an. »Was ist denn mit Ihnen los?«

      Leises Schluchzen war vorerst die einzige Antwort, die der Arzt bekam. Da nahm er sie fürsorglich am Arm.

      »Kommen Sie, Frau Kampe«, meinte er. »Gehen wir ein Stück den Kreuzberg hinauf. Die Ruhe wird Ihnen guttun. Und vielleicht können Sie mir dann erzählen, was vorgefallen ist.«

      Widerstandslos ließ sich Marina von Dr. Daniel auf den schmalen Pfad führen, der zum Kreuzberg hinaufführte. Eine Weile ging sie schweigend neben dem Arzt her, dann begann sie plötzlich leise zu sprechen.

      »Ich war gerade in der Kirche unten. Ich weiß nicht, was es war, aber irgendwie drängte es mich hineinzugehen.« Sie senkte den Kopf. »Ich war schon jahrelang nicht mehr in der Kirche.« Sie schwieg einen Moment, dann atmete sie tief durch. »Kurz nach mir betrat noch jemand die Kirche. Ich habe mich nicht dafür interessiert, wer es gewesen war, doch als ich hinausging, hielt mir ein junger Mann die Tür auf. Er begann ein harmloses Gespräch… daß die Kirche sehr schön sei und so weiter. Und plötzlich…, da machte er mir ein Kompliment… daß ich schön wäre.« Wieder stiegen Tränen in ihr hoch. »Sie sind doch alle gleich! Sie lügen das Blaue vom Himmel herunter, bis man sich ihnen hingibt… mit allem, was man hat… und dann…, dann lassen sie einen einfach sitzen. Um die Gefühle, die sie zerstören, machen sie sich überhaupt keine Gedanken.«

      Dr. Daniel fragte sich, ob dieser junge Mann vielleicht Ricky Schermann gewesen sein könnte, verwarf diesen Gedanken jedoch wieder. Irgendwie schien ihm Ricky nicht der Typ zu sein, der ohne besonderen Grund eine Kirche betreten würde.

      »Ich verstehe, wie es in Ihnen aussehen muß«, erklärte er dann leise. »Trotzdem sollten Sie nicht alle Männer über einen Kamm scheren. Dieser junge Mann hat sich bei dem Kompliment, das er Ihnen machte, vielleicht gar nichts gedacht… jedenfalls nicht das, was Sie ihm unterstellen.«

      Marina seufzte. »Möglich, aber… ich habe es Ihnen heute schon einmal gesagt… ich glaube nicht, daß ich einem Mann jemals wieder Vertrauen… oder gar Liebe schenken kann.«

      *

      Mit sehr viel Geduld und einer noch größeren Portion Glück hatte Ricky Schermann herausgefunden, daß das Mädchen, das er in der Praxis von Dr. Daniel und nachher in der Steinhausener Kirche gesehen hatte, Marina Kampe hieß, ledig war und in einem winzigen Zwei-Zimmer-Appartement in Steinhausen wohnte. Seitdem strich er wie ein streunender Kater in dieser Gegend herum, einzig in der Hoffnung, das hübsche Mädchen

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