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der Nähe des Waldsees«, antwortete Sandra. »Etwa eine Viertelstunde von hier – wenn man normal gehen kann.«

      Der junge Mann nickte. »Und wenn sie sich wirklich den Fuß gebrochen hat, dann kommt sie nicht bis hierher, selbst wenn wir sie stützen würden.« Er überlegte wieder. »Glauben Sie, daß ich sie tragen kann?«

      Trotz des Ernstes der Lage mußte Sandra bei dieser Vorstellung schmunzeln. »Das ist unmöglich. Meine Schwiegermutter hat in etwa den doppelten Umfang von mir und ist darüber hinaus einen halben Kopf größer als ich.«

      »Meine Herren!« entfuhr es dem jungen Mann. Wieder überlegte er angestrengt. »Kennen Sie jemanden in Steinhausen? Mit dem Auto könnte man in zehn Minuten hier sein.« Er zögerte. »Es müßte aber ein kräftiger Mann sein.« Mit einem etwas unsicheren Grinsen sah er die junge Frau an. »Wissen Sie, die Burschen, die ich kenne, sind jetzt alle bei der Arbeit.«

      Sandra zuckte die Schultern. »Ich wohne noch nicht lange hier.« Sie schwieg kurz. »Eigentlich kenne ich nur den Herrn Pfarrer und Dr. Daniel.«

      »Dr. Daniel!« wiederholte der junge Mann. »Den rufen wir an. Wenn wir Glück haben, hat seine Nachmittagssprechstunde noch gar nicht angefangen.«

      Er trat zum Telefon, blätterte kurz im Telefonbuch und hob dann den Hörer ab. Doch bevor er wählte, sah er sich nach Sandra um.

      »Wollen Sie selbst mit ihm sprechen?«

      »Ja, gern«, stimmte Sandra zu und nahm den Hörer entgegen, wäh­rend der junge Mann die Nummer wählte. Und dann meldete sich auch schon die Empfangsdame, die Sandra ohne große Umstände mit Dr. Daniel verband.

      Kaum hatte sich der Arzt gemeldet, da sprudelte Sandra auch schon ihre ganze Geschichte hervor. Und plötzlich merkte sie, wie ihre Nerven zu vibrieren begannen. Ihre Stimme wurde immer hektischer, und sie war schon nahe daran, in Tränen auszubrechen.

      »Immer mit der Ruhe, Frau Köster.« Dr. Daniels tiefe Stimme verfehlte ihre Wirkung nicht. Sandra wurde merklich ruhiger. »Meine Sprechstunde hat zwar schon begonnen, aber ich bin sicher, daß ich mich für eine Stunde von hier loseisen kann. Ich nehme an, Sie sind jetzt im Waldcafé.«

      »Ja… das heißt… ich weiß es nicht…«, stammelte Sandra, dann sah sie den jungen Mann an, der sich während des Gesprächs diskret im Hintergrund gehalten hatte. »Ist hier das Waldcafé?«

      Der junge Mann nickte. »Richtig, und ich bin der Sohn des Hauses. Rudi Gassner.«

      »Ach, Rudi ist auch da«, drang Dr. Daniels Stimme an Sandras Ohr. »Das ist gut. Zu zweit kriegen wir Ihre Schwiegermutter schon heil herunter. Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Köster. Ich bin in zehn Minuten bei Ihnen.«

      »Ja, Herr Dr. Daniel… und vielen Dank.«

      Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis Dr. Daniels Wagen auf der Rückseite des Waldcafés in den Parkplatz bog.

      »So, dann wollen wir mal«, erklärte er betont munter, um Sandra Mut zu machen.

      Im Laufschritt suchten sie die Stelle auf, an der Johanna noch immer lag und leise vor sich hin jammerte.

      »Na, Frau Köster, so wollten wir uns ja nicht wiedersehen«, meinte Dr. Daniel, während er neben ihr niederkniete und vorsichtig den Fuß untersuchte.

      »Ich bin zwar nicht vom Fach, aber meines Erachtens ist es nur eine Verstauchung«, erklärte er schließlich. »Rudi und ich werden Sie zu meinem Auto tragen.«

      »Aber… ich bin doch viel zu schwer«, protestierte Johanna schwach.

      »Das schaffen wir schon«, meinte Dr. Daniel beruhigend, aber sowohl er als auch Rudi Gassner atmeten merkbar auf, als sie nach mehr als einer halben Stunde endlich das Waldcafé und Dr. Daniels Auto erreichten. Johanna Köster war wirklich keine leichte Last gewesen.

      »Ich habe ein richtig schlechtes Gewissen, weil Sie meinetwegen so viele Umstände haben«, murmelte Johanna zerknirscht, als sie im Fond des Wagens saß, und es gab niemanden auf der ganzen Welt, der ihr in diesem Augenblick hätte böse sein können – der warmherzige und sehr gutmütige Dr. Daniel schon gar nicht.

      Er lächelte denn auch nur, fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das dichte blonde Haar und meinte: »Machen Sie sich deswegen keine Gedanken, Frau Köster. Wichtig ist doch nur, daß Sie sich nicht allzu schwer verletzt haben.«

      »Ach, es war ja alles meine Schuld«, jammerte Johanna. »Sandra hat mir von der Wanderung noch abgeraten, aber ich hatte mich schon so darauf gefreut. Und nun haben Sie so viel Arbeit mit mir.«

      »Das ist nicht so schlimm«, beteuerte Dr. Daniel noch einmal, während er den Motor anließ, dann brachte er zuerst Sandra nach Hause, damit sie endlich aus ihren nassen Sachen kam, bevor er den Weg zum Kreiskrankenhaus einschlug. Nach einer knappen halben Stunde war er am Ziel und hielt seinen Wagen vor der Notaufnahme an.

      Im nächsten Moment kamen zwei Pfleger mit einer fahrbaren Trage heraus, und auch eine Ärztin war gleich zur Stelle. Sie begrüßte Dr. Daniel, den sie von seinen gelegentlichen Besuchen hier in der Klinik kannte.

      »Was ist passiert?« wollte sie dann wissen.

      »Frau Köster ist gestürzt und hat sich vermutlich den rechten Fuß verstaucht«, gab Dr. Daniel sofort Auskunft.

      Die Ärztin nickte und untersuchte den Fuß sehr vorsichtig.

      »Ihre Diagnose scheint richtig zu sein«, erklärte sie. »Trotzdem werde ich den Fuß sicherheitshalber röntgen.«

      »Das ist gut«, meinte Dr. Daniel, und dann hatte er plötzlich eine Idee. »Werden Sie den Chefarzt zu Rate ziehen?«

      Erstaunt runzelte die Ärztin die Stirn. »Das ist bei solchen Bagatellverletzungen eigentlich nicht üblich, aber wenn Sie und die Patientin es wünschen…«

      »Ja, und ich möchte vorher selbst mit ihm sprechen.«

      Wieder war die Ärztin sichtlich erstaunt, ließ sich jedoch zu keinem Kommentar hinreißen.

      »Sie kennen sich hier ja aus«, entgegnete sie nur.

      Dr. Daniel lächelte. »Eigentlich nur auf der Entbindungsstation, aber den Chefarzt werde ich schon finden.«

      Mit langen Schritten machte er sich auf den Weg zum Lift, der ihn in den fünften Stock brachte. Und dann stand er auch schon vor der Tür des Chefzimmers und klopfte an.

      »Ja, bitte!« erklang von drinnen die tiefe Stimme des Arztes.

      »Guten Tag, Herr Breuer«, grüßte Dr. Daniel höflich, nachdem er eingetreten war. »Darf ich Sie einen Augenblick stören?«

      Dr. Breuer kam ihm lächelnd entgegen. »Sie doch immer, Herr Daniel. Nun, was gibt’s?«

      »Es geht um eine Patientin, die ich gerade hierher gebracht habe«, begann Dr. Daniel. »Johanna Köster. Sie ist bei einer Wanderung gestürzt und hat sich den rechten Fuß verstaucht.«

      Dr. Breuer runzelte die Stirn. »Sind Sie jetzt unter die Allgemeinmediziner gegangen?«

      Dr. Daniel lachte. »Nein, nein, ich bleibe schon lieber bei der Gynäkologie. Johanna Köster ist die Schwiegermutter einer meiner Patientinnen.«

      Mit einer einladenden Handbewegung bot Dr. Breuer ihm Platz an. Er ahnte, daß da eine interessante Geschichte auf ihn zukommen würde, und Dr. Daniel enttäuschte ihn auch nicht.

      »Frau Köster lebt seit ein paar Wochen mit ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter in Steinhausen«, erzählte er. »Unglücklicherweise müssen sich die drei einen Haushalt teilen, und Frau Köster ist eine sehr resolute Dame, die sich in die Ehe des jungen Paares kräftig einmischt, ohne es allerdings zu bemerken. Sie meint es immer nur gut und will Sohn und Schwiegertochter mit Rat und Tat zur Seite stehen. Dabei ist sie aber eine so herzensgute Frau, daß es beiden schwerfällt, einmal ein ernstes Wort mit ihr zu sprechen.«

      Dr. Breuer nickte lächelnd. »Und nun wollen Sie dem jungen Paar eine kleine Atempause verschaffen,

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