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wandte sich der Fürst um. »Nein. Und jetzt gehen Sie!«

      Dr. Daniel zögerte noch einen Moment, dann sah er ein, daß es keinen Sinn hatte, weiter in diesen starrsinnigen alten Mann zu dringen. Er murmelte einen Abschiedsgruß und verließ dann das Schloß. Erst als er in seinem Auto saß, warf er einen Blick auf den Zettel.

      Karl und Inge Herzog, Schützenallee, Freiburg.

      Dr. Daniel seufzte. Das war leider auch nicht gerade der Stadtrand von München. Aber vielleicht mußte er ja gar nicht dorthin fahren. Schließlich lebte er ja im Zeitalter des Telefons.

      Doch das war vergebliche Mühe. Das Ehepaar Herzog war vor fünf Jahren aus Freiburg weggezogen. Eine neue Adresse war nicht bekannt. Dr. Daniel war wieder genauso weit wie am Anfang.

      *

      Zum ersten Mal seit langem war Anna Deichmann mit sich und der Welt wieder zufrieden. Sie saß im Wohnzimmer auf dem Sofa und sah mit einem seligen Lächeln auf den Lippen vor sich hin. Es war ein so schöner Nachmittag, den sie heute verleben durfte.

      Ganz unverhofft war Karina, die Tochter von Dr. Daniel heute zu ihr zu Besuch gekommen.

      »Mein Vater hat mir von Ihnen erzählt, und da wollte ich Sie unbedingt kennenlernen«, hatte sie behauptet, doch Anna ahnte, daß es etwas anders gewesen war. Wahrscheinlich hatte Dr. Daniel seine Tochter gebeten, die einsame Frau einmal zu besuchen, und daß ein junges Mädchen dieser Bitte nachkam, rührte Anna Deichmann ganz besonders.

      Jetzt balancierte Karina ein Tablett herein und stellte es auf dem Wohnzimmertisch ab.

      »So, Frau Deichmann, der Kaffee ist fertig.« Sie lächelte. »Den Kuchen habe ich im Waldcafé besorgt.«

      »Mhm«, schwärmte Anna. »In einen solchen Genuß komme ich nur noch selten.« Ihr Blick wurde traurig. »Mit meinem Mann bin ich auch ab und zu ins Waldcafé gegangen, aber das ist lange her.«

      »Ich wußte gar nicht, daß es dieses Cafe schon so lange gibt«, erklärte Karina, um die Frau von ihren traurigen Gedanken abzulenken.

      Das Manöver gelang. Ein Lächeln huschte über Annas Gesicht. »Ach, das Waldcafé gibt es schon eine halbe Ewigkeit. Meine Eltern sind bereits dorthin gegangen. Soviel ich weiß, ist es seit drei Generationen im Besitz der Gassners. Und ihre Kuchen und Torten werden alle nach alten Familienrezepten gemacht.«

      Karina lächelte. »Meine Güte, was Sie alles wissen. Sie leben schon lange hier in Steinhausen, nicht wahr?«

      Anna nickte. »Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Und auch meine Eltern wurden schon hier geboren. Abgesehen von der Hochzeitsreise war ich noch niemals weg von zu Hause.« Sie winkte ab. »Aber das muß für Sie doch langweilig sein, Karina. Erzählen Sie lieber von sich.«

      »Da gibt es nicht viel zu erzählen«, wehrte Karina bescheiden ab. »Ich studiere Jura in München.«

      »Und Sie haben sicher einen Freund, der Sie heute ganz schrecklich vermissen wird«, vermutete Anna.

      Karina errötete ein wenig und dachte dabei an Markus Wagner, mit dem sie ab und zu zum Mittagessen in die Mensa ging, dann schüttelte sie den Kopf. »Einen richtigen Freund habe ich nicht. Es gibt zwar einen jungen Mann, mit dem ich mich sehr gut verstehe, allerdings haben wir uns noch nie privat getroffen. Er ist ein Studienfreund von mir.« Sie grinste spitzbübisch. »Und ob er mich vermißt, weiß ich nicht.«

      »Ganz bestimmt«, versicherte Anna, doch dann wurde sie wieder ernst, fast traurig. »Ich werde Sie auch vermissen, wenn Sie erst wieder weg sind.«

      Impulsiv legte Karina eine Hand auf ihren Arm. »Ich besuche Sie bald wieder, Frau Deichmann, das verspreche ich Ihnen.«

      Liebevoll tätschelte Anna die Hand des jungen Mädchens. »Sie haben dasselbe gute Herz wie Ihr Vater, Karina. Ich glaube, ich wäre schon oft verzweifelt, wenn er nicht gewesen wäre. Und während der fünf Jahre, die er nach dem Tod Ihrer Frau Mutter in München verbracht hatte, dachte ich manchmal, ich müßte sterben vor Einsamkeit.«

      Unwillkürlich dachte Karina daran, wie selten ihr Vater für sie und ihren Bruder Stefan Zeit gehabt hatte, weil er immer für seine Patientinnen da sein wollte, und wie sehr sie ihn trotz allem liebte und verehrte. Und wenn Stefan nicht Medizin studiert hätte, dann hätte Karina mit Sicherheit ihrem Vater nachgeeifert und wäre Ärztin geworden.

      »Sie sind plötzlich so nachdenklich geworden«, bemerkte Anna. »Habe ich irgend etwas Falsches gesagt?«

      Karina lächelte. »Nein, ganz und gar nicht. Ich habe nur an meinen Vater gedacht und daran, wieviel er mir bedeutet.«

      Die Worte zauberten einen melancholischen Ausdruck in Annas Augen.

      »Ich beneide Ihren Vater um Sie, Karina. Eine solche Tochter hätte ich mir auch gewünscht.«

      Karina bemerkte, daß sie auf dem besten Wege waren, in eine schwermütige Stimmung zu geraten, und so schwenkte sie geschickt auf ein anderes Thema um. Sie erzählte ein paar lustige Begebenheiten von der Uni, über die Anna herzhaft lachen konnte. Auf diese Weise verging die Zeit im Fluge, und schließlich mußte Karina an die Heimfahrt denken. Sie verabschiedete sich sehr herzlich von Anna Deichmann und versprach, bald wiederzukommen, dann bestieg sie ihr Auto und fuhr nach Hause zurück.

      Dr. Daniel erwartete sie bereits vor der Haustür. Er hatte sich Sorgen gemacht, weil seine Tochter so lange weggeblieben war.

      »Das ist eine ganz reizende Frau, Papa«, erzählte Karina, während sie an der Seite ihres Vaters die Villa betrat.

      »Ja, und sehr einsam ist sie«, fügte Dr. Daniel hinzu.

      Karina nickte. »Sie tut mir furchtbar leid. Es muß entsetzlich sein, so allein auf der Welt zu stehen.« Sie schwieg kurz. »Und man kann ihr im Grunde überhaupt nicht helfen. Ich habe es zwar geschafft, ihr den heutigen Tag ein wenig zu verschönen, aber das Leben wird für sie trotzdem einsam und trostlos weitergehen.«

      Liebevoll legte Dr. Daniel seiner Tochter einen Arm um die Schultern. »Es ist leider oft so, daß wir nur lindern, aber nicht heilen können. Diese Erfahrung ist schmerzlich, aber man muß sie immer wieder machen.«

      *

      Es war ein kühler Novemberabend, und Dr. Daniel hatte es sich mit seiner Schwester Irene im Wohnzimmer gemütlich gemacht. Irene hatte für sie beide Tee aufgebrüht, dessen Zusammensetzung nur sie kannte. Seit sie hier in Bayern lebte und ihrem Bruder den Haushalt führte, hatte sie sich zu einer eifrigen Kräutersammlerin entwickelt, und der Tee, den sie selbst erfunden hatte, schmeckte so gut, daß sich Dr. Daniel jeden Tag darauf freute. Heute jedoch blickte er sehr trübsinnig vor sich hin, und auch ein richtiges Gespräch wollte zwischen ihm und Irene nicht aufkommen, obwohl sie sich sonst ausgezeichnet verstanden.

      »Robert, was ist denn in letzter Zeit nur mit dir los?« wollte Irene schließlich wissen. »Du wirkst ständig geistesabwesend. Das haben sogar Karina und Stefan bemerkt, obwohl sie ja nur am Wochenende nach Hause kommen.«

      Beim Gedanken an seine beiden Kinder huschte ein Lächeln über Dr. Daniels Gesicht, doch dann wurde er wieder ernst und seufzte.

      »Ach, Irene, es ist…, ich mache mir Sorgen um eine Patientin.«

      »Das heißt, daß du nicht darüber reden willst«, folgerte seine Schwester.

      »Ich darf nicht«, berichtigte Dr. Daniel. »Du weißt genau, daß ich als Arzt an die Schweigepflicht gebunden bin.«

      Dann versank er wieder in Gedanken. Seit drei Monaten versuchte er alles, um Ahilleas’ Aufenthaltsort ausfindig zu machen, doch ohne Ergebnis. Und noch mehr beunruhigte ihn die Tatsache, daß sich Leandra nicht mehr bei ihm gemeldet hatte. Vor zwei Tagen hatte er in der Thiersch-Klinik angerufen, in der Hoffnung, Leandra hätte dort doch endlich einer Behandlung zugestimmt, aber auch hier war sie nicht mehr aufgetaucht. Ein Anruf bei ihren Adoptiveltern war ebenfalls ergebnislos verlaufen. Die Krenns wußten nicht, wo sich Leandra genau aufhielt. Sie war mit ihrem Mann in den Süden gefahren und hatte lediglich versprochen, bis in einem halben Jahr zurückzukommen.

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